Ordnungsruf

Der Ordnungsruf ist im Parlament ein Mittel der Sitzungsleitung, einzelne Mitglieder zu verwarnen.

Der Ordnungsruf ist für gewöhnlich in der Geschäftsordnung geregelt und wird gegen Mitglieder ausgesprochen, die durch Zwischenrufe, Beleidigungen oder andere Störungen auffallen. Die Sitzungsleitung kann gegebenenfalls auch den Sitzungausschluss folgen lassen. Der Ordnungsruf ermahnt zur Disziplin, ist aber meist nicht direkt an Konsequenzen gebunden. Für den Ordnungsruf darf die Sitzungsleitung den Redner unterbrechen.

Deutschland

In der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sind sowohl der Ordnungsruf (in § 36) als auch der Zwischenruf (in § 119) geregelt. Gleiches gilt für Landtage in Deutschland: In den Geschäftsordnungen gibt es inhaltsgleiche oder -ähnliche gesetzliche Regelungen – so etwa in der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags zum Ordnungsruf (in § 37) und zum Zwischenruf (in § 109).[1] Damit sind sowohl der Ordnungsruf als auch der Zwischenruf anerkannte und kodifizierte Bestandteile der parlamentarischen Gegenwart.

Die Rüge hingegen ist in der Geschäftsordnung des Bundestages nicht geregelt und besteht dort nur als parlamentarischer Brauch.[2]

(c) Bundesarchiv, B 145 Bild-F055060-0032A / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0
Der SPD-Abgeordnete Herbert Wehner ist Rekordhalter in Sachen Ordnungsrufe im Bundestag.

Der Politiker Herbert Wehner (SPD) hält den Rekord für die meisten Ordnungsrufe im Bundestag mit 57[3] beziehungsweise 58[4] Verwarnungen. Zählt man noch seine Entgleisungen als kommunistischer Abgeordneter während seiner Mitgliedschaft im Sächsischen Landtag Anfang der 1930er Jahre dazu, kommt man sogar auf 75 parlamentarische Ordnungswidrigkeiten.[4] Karl Carstens (CDU) nannte Wehner daher verärgert den „größten Schimpfbold im ganzen Bundestag“,[3] und der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bezeichnete ihn – eher anerkennend – sogar als die „größte parlamentarische Haubitze aller Zeiten“.[5]

Hinter Wehner rangieren Heinz Renner (KPD) mit 47 und Ottmar „Schreier“ Schreiner (SPD) mit 40 Ordnungsrufen. Schreiner hatte es sich laut Günter Pursch sogar zum erklärten Ziel gemacht, Wehner zu übertreffen.[3] Auf den vierten Platz kommen Joschka Fischer (Grüne) und Gerhard O. Pfeffermann (CDU), die sich beide je ein ganzes Dutzend Ordnungsrufe einhandelten. Platz 6 teilen sich Walter Fisch (KPD) und Gertrud Schilling (Grüne) mit je elf parlamentarischen Rüffeln.[4]

Der ebenfalls als Polit-Polterer berüchtigte Franz Josef Strauß (CSU) beschränkte seine Verbalattacken hingegen vornehmlich auf Gelegenheiten außerhalb parlamentarischer Sitzungen: Er hat im Bundestag lediglich einen Ordnungsruf erhalten.[3]

Während die Anzahl der Ordnungsrufe im Deutschen Bundestag bis in die 1980er Jahre eher hoch war – so kam es beispielsweise nach dem erstmaligen Einzug der Grünen in der Legislaturperiode von 1983 bis 1987 zu 132 Ordnungsrufen – nahm sie seit den 1990er Jahren kontinuierlich ab, sie lag 1990 bis 1994 und 1994/98 noch bei 35 bzw. 32 Ordnungsrufen pro Wahlperiode, von 1998 bis 2017 nur noch bei höchstens 10 Ordnungsrufen pro Wahlperiode. Erst 2017, nach dem erstmaligen Einzug der AfD in den Bundestag, stieg die Zahl der Ordnungsrufe wieder an. In der ersten Hälfte der Wahlperiode von Ende 2017 bis Ende 2019 gab es 19 Ordnungsrufe, fast alle entweder an Redner der AfD oder an Zwischenrufer anderer Parteien in Reaktionen auf Redebeiträge der AfD.

Auch die Geschäftsordnung des Bundesrates kennt den Ordnungsruf (§ 22c) als Maßnahme, de facto wird von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch gemacht, da Sitzungen des Bundesrates in der Regel in sachlichem Umgangston verlaufen und Zwischenrufe selten sind.[6]

Österreich

Im österreichischen Nationalrat werden Ordnungsrufe deutlich öfter ausgesprochen als im deutschen Bundestag. Zwischen 2008 und 2011 wurden 108 Ordnungsrufe erteilt. Davon erging die klare Mehrheit an Abgeordnete der Oppositionsparteien. 51 dieser Ordnungsrufe erfolgten aufgrund von persönlichen Beleidigungen und Verunglimpfungen anderer Abgeordneter. Angeführt wurde die Liste von Gerald Grosz (14 Ordnungsrufe) und Peter Pilz (13).[7]

Auffallend waren die Äußerungen von BZÖ-Mandataren zu den ihnen erteilten Ordnungsrufen, so ist zwischen Präsidentin Barbara Prammer und Abgeordneten Peter Westenthaler folgender Wortwechsel protokolliert:

Prammer: Herr Abgeordneter Westenthaler, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Westenthaler: Danke! Das ist ein Orden!

Auch von Gerald Grosz ist die Aussage überliefert, ein ihm erteilter Ordnungsruf käme "wie ein Orden auf’s Revers".[8]

Schweiz

Im Schweizer National- und Ständerat können Sitzungsteilnehmer vom Präsidenten zur Ordnung gerufen werden, wenn sie sich beleidigend äußern, nicht zur Sache sprechen, andere Verfahrensvorschriften verletzen oder durch ihr Verhalten die Ratsverhandlungen stören. Über Einsprachen der betroffenen Person entscheidet der betreffende Rat ohne Diskussion.[9][10] Wird der Ordnungsruf missachtet, so kann der Präsident das Wort entziehen oder das Ratsmitglied höchstens für die restliche Dauer einer Sitzung ausschließen.[11]

Literatur

  • Holger Zürch: Florettstich, Bumerang, Rohrkrepierer. Zwischenrufe im Thüringer Landtag 1991 – 1993. Osnabrück 2001, ISBN 3-935316-26-7[12]
  • Holger Zürch: „Zwischenrufe sind das Salz in der parlamentarischen Suppe“. Interview (S. 179–182) in: Thüringens Gründerjahre. Gespräche mit Thüringer Abgeordneten über ihre Zeit im Landtag zwischen 1990 und 1999. Erfurt 2004, ISBN 3-931426-85-8 (= Band 20 der Reihe Thüringen gestern & heute, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen)
  • Heinz Buri: Argument und Parlament. Versuch der Entwicklung einer Methodologie zur Analyse dialogischer Sequenzen am Beispiel der "Nachrüstungsdebatte". München 1992, ISBN 3-88073-459-3
  • Günter Pursch: Das parlamentarische Schimpfbuch. Stilblüten und Geistesblitze unserer Volksvertreter in 60 Jahren Bundestag. Mit einem Geleitwort von Gerda Hasselfeldt. Herbig, München 2009, 303 S., ISBN 978-3-7766-2594-3
  • Cornelia Theler: Art. 13: Disziplinarmassnahmen. In: Martin Graf, Cornelia Theler, Moritz von Wyss (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002. Basel 2014, ISBN 978-3-7190-2975-3, S. 100–106. (Online)

Weblinks

  • Günter Pursch: Auch Abgeordnete sind nur Menschen… Politische Debattenkultur in 50 Jahren Deutscher Bundestag. In: Blickpunkt Bundestag Nr. 07/1999 (Online-Fassung)

Einzelnachweise

Auf dieser Seite verwendete Medien

Bundesarchiv B 145 Bild-F055060-0032A, Köln, SPD-Parteitag, Wehner.jpg
(c) Bundesarchiv, B 145 Bild-F055060-0032A / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0
Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein.
Außerordentlicher Parteitag der SPD im Messe-Kongreß-Zentrum in Köln zur Vorbereitung für die Europa-Parlament-Wahl 1979