Wilhelm Emrich

Wilhelm Emrich (* 29. November 1909 in Nieder-Jeutz, Reichsland Elsaß-Lothringen, Deutsches Kaiserreich; † 7. August 1998 in Berlin) war ein deutscher Literaturwissenschaftler und Editor.

Das Grab von Wilhelm Emrich auf dem evangelischen Luisenkirchhof II in Berlin.

Leben

Wilhelm Emrich, Sohn eines Reichsbahnobersekretärs, studierte von 1929 bis 1933 in Frankfurt am Main, unter anderem unter Theodor W. Adorno, und wurde 1933 bei Martin Sommerfeld, der im selben Jahr emigrieren musste, mit einer Arbeit über Paulus promoviert.[1] Emrich war vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 Mitglied der „Roten Studentengruppe“ und der SAP.[2] Später arbeitete Emrich vor allem über Goethe, in der Nachkriegszeit über Franz Kafka. Seine Monographie über Kafka erlebte mehrere Auflagen und wurde ins Englische und Japanische übersetzt. Emrich gab Gesamtausgaben von Carl Sternheim, Arno Holz und Ricarda Huch heraus.

In der Zeit des Nationalsozialismus war Emrich als Lektor der Deutschen Akademie unter anderem in Bulgarien tätig. Ende 1938 folgte eine Anstellung als Lehrer und zwischen 1942 und 1944 eine Tätigkeit für das Reichspropagandaministerium. Ab dem 5. Januar 1942 leitete er das bei der Deutschen Bücherei neu eingerichtete sogenannte Erkundungsreferat. Dort überwachte er unter anderem die deutschsprachigen Neuerscheinungen und betreute die seit 1941 in Bearbeitung befindliche sogenannte Judenbibliographie. Ab dem 1. Februar 1943 arbeitete er in der Schrifttumsabteilung des Reichspropagandaministeriums, das er 1944 verließ.[3]

Emrich war seit 1935 Mitglied der NSDAP und war seit 1941 Zellenleiter. Er war Autor mindestens einer antisemitischen Schrift.[4] Nebenher machte er das zweite Staatsexamen als Lehrer und ließ sich nach einem misslungenen Versuch in Frankfurt am Main 1944 an der Berliner Universität habilitieren.[2] Seine Rolle während des NS-Regimes wurde erst kurz vor Emrichs Tod durch den Schlüsselroman Der Urfreund seines ehemaligen Kommilitonen und Freundes Kurt A. Mautz einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.[5] Wegen seines 1943 veröffentlichten Aufsatzes über den „Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“ geriet Emrich in seinen späteren Lebensjahren in Kritik.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Emrich zunächst im Schuldienst tätig und lehrte danach von 1949 bis 1953 als Dozent an der Georg-August-Universität Göttingen. Das Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung bestand er erfolgreich, indem er auf seinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda hinwies.[2]

Eine erste Professur für Neuere deutsche Philologie hatte er von 1953 bis 1959 an der Universität Köln.[6] 1956 wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur und zwei Jahre später Mitglied im PEN-Zentrum. Von 1960 bis zu seiner Emeritierung lehrte er als Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin. Danach lehrte er noch acht Jahre weiter als emeritierter Professor. Emrich war einer der wichtigsten, auch einflussreichsten Literaturwissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland. Zu seinen Schülern gehörten Helmut Arntzen, Klaus Wagenbach, Jean Firges und Karl Pestalozzi. Emrich wurde 1993 die Goldene Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar verliehen.

Familie

Emrich hatte mit seiner ersten Ehefrau Lina Helene, geborene Hinderks (1902–1993), einen Sohn, Hinderk Meiners Emrich. 1977 heiratete er seine zweite Ehefrau Waltraut Hildegard, geborene Schmidt (1911–1979).[7]

Schriften

  • Paulus im Drama. (= Stoffe und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Band 13). Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1934.
  • Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Junker & Dünnhaupt, Berlin 1943.
  • Franz Kafka. Athenäum-Verlag, Bonn 1958.
  • Protest und Verheißung. Studien zur klassischen und modernen Dichtung. Athenäum-Verlag, Bonn 1960.
  • Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1965.
  • Polemik. Streitschriften, Pressefehden und kritische Essays um Prinzipien, Methoden und Maßstäbe der Literaturkritik. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1968.
  • Poetische Wirklichkeit. Studien zur Klassik und Moderne. Akademische Verlags-Gesellschaft Athenaion, Wiesbaden 1979, ISBN 3-7997-0737-9.
  • Deutsche Literatur der Barockzeit. Athenäum-Verlag, Königstein 1981, ISBN 3-7610-8148-0.

Editionen

  • Arno Holz: Werke. 7 Bände. Herausgegeben von Wilhelm Emrich und Anita Holz. Verlag Luchterhand, Neuwied 1961–1964.
  • Carl Sternheim: Gesamtwerk. 10 in 11 Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Emrich. Verlag Luchterhand, Neuwied 1963–1976.
  • Ricarda Huch: Gesammelte Werke. 11 Bände. Herausgegeben von Wilhelm Emrich. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1966–1974.

Literatur

  • Lorenz Jäger: Wilhelm Emrich (1909–1998). In: Christoph König, Hans-Harald Müller, Werner Röcke (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. de Gruyter, Berlin 2000, ISBN 3-11-016157-5, S. 250–258.
  • Norbert Miller: Nachruf auf Wilhelm Emrich. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. 49. Jahrgang, 1998, S. 105–109.
  • Peter Sprengel: Wilhelm Emrich. In: Christoph König, Birgit Wägenbaur u. a. (Hrsg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Band 1: A–G. de Gruyter, Berlin/ New York 2003, ISBN 3-11-015485-4, S. 433–435.
  • Peter Sprengel: Metaphysische Moderne. Wilhelm Emrichs Kafka-Bild und seine Voraussetzungen. In: Julia Bertschik, Elisabeth Emter, Johannes Graf (Hrsg.): Produktivität des Gegensätzlichen. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Horst Denkler zum 65. Geburtstag. Niemeyer, Tübingen 2000, ISBN 3-484-10826-6, S. 275–288.
  • Jörg Schönert, Ralf Klausnitzer, Wilhelm Schernus (Hrsg.): Wilhelm Emrich – zur Lebensgeschichte eines Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NS-Zeit.
    • Band 1 1929–1945: der Werdegang eines "Geistigen" im Einflussspektrum akademischer, beruflicher und politischer Institutionen (= Beiträge zur Geschichte der Germanistik. Band 9). S. Hirzel, Stuttgart 2018, ISBN 3-7776-2655-4.
    • Band 2: 1945–1959: Wilhelm Emrichs Modellierungen seiner akademischen Existenz (= Beiträge zur Geschichte der Germanistik. Band 10). S. Hirzel, Stuttgart 2018, ISBN 3-7776-2656-2.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Lorenz Jäger: Wilhelm Emrich (1909–1998). In: Christoph König, Hans-Harald Müller, Werner Röcke (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Berlin 2000, S. 250–251.
  2. a b c Ralf Klausnitzer: Sieg der Karrieristen. In: der Freitag. 21. Juli 2016, S. 17.
  3. Sören Flachowsky: »Zeughaus für die Schwerter des Geistes«. Die Deutsche Bücherei während der Zeit des Nationalsozialismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-3196-9, S. 1112.
  4. Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken. In: Das deutsche Fachschrifttum. Heft 4–6, 1943, S. 1 ff.
  5. Kurt Mautz: Der Urfreund. Igel-Verlag, Paderborn 1996.
  6. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-10-039326-5, S. 135.
  7. Barbara Hölscher: Frankfurter Literaturwissenschaftler: Wilhelm Emrich, Projekt USE der Goethe-Universität Frankfurt

Auf dieser Seite verwendete Medien

Grab Wilhelm Emrich.jpg
Autor/Urheber: Harvey Kneeslapper, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Das Grab des deutschen Literaturwissenschaftlers Wilhelm Emrich auf dem Evangelischen Luisen-Kirchhof II in Berlin-Charlottenburg.