Viktor Christian

Viktor Christian (* 30. März 1885 in Wien; † 28. Mai 1963 in Walchsee) war ein österreichischer Altorientalist.

Leben

Viktor Christian, der Sohn eines Oberrechnungsrats, studierte Sprachwissenschaft, Orientalistik und Geographie an der Universität Wien und wurde am 12. Juli 1910 sub auspiciis Imperatoris zum Dr. phil. promoviert.[1] Während seines Studiums wurde er Mitglied der Burschenschaft Teutonia Wien.[2] Anschließend vertiefte er seine Studien an der Berliner Universität bei Friedrich Delitzsch, Hugo Winckler und Felix von Luschan. Ab 1911 arbeitete er als wissenschaftlicher Beamter in der ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. Ab 1915 nahm er als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil und ging mit dem Deutsch-Österreichischen Orientcorps nach Konstantinopel. Nach kurzer Gefangenschaft kehrte er 1919 nach Wien zurück.

1920 wurde Christian zum Leiter der ethnographischen Abteilung ernannt. Daneben betrieb er seine Habilitation an der Universität Wien bei Rudolf Geyer, die er am 23. Jänner 1923 mit der venia legendi für Semitisch mit besonderer Berücksichtigung der Keilschriften erreichte.

Am 1. April 1924 nahm Christian einen Ruf als außerordentlicher Professor für altsemitische Philologie und orientalische Archäologie an die Universität Wien an (als Nachfolger von Maximilian Bittner).[3] Am 1. November 1930 wurde er zum ordentlichen Professor befördert.

Er war, wie auch Geyer, Mitglied der, im Geheimen operierenden, einflussreichen antisemitischen Professorengruppe „Bärenhöhle“, die durch Interventionen und Absprachen Habilitationen und Berufungen jüdischer oder linker Wissenschaftler zu verhindern suchte.[4] 1933 trat Christian der illegalen NSDAP bei, September 1934 wurde er deswegen vorübergehend in den Ruhestand versetzt. Er nahm dies zum Anlass für eine lange geplante Forschungsreise im Orient, die er vom Honorar des Propyläen Verlags für ein kunsthistorisches Buch bezahlte. Im März 1936 wurde er als Professor reaktiviert.

Nach dem Anschluss Österreichs beantragte Christian am 19. Mai 1938 die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 6.127.801).[5] Am 9. November 1938 trat er der SS bei (SS-Nummer 354.121)[6] und wurde bis 1945 zum SS-Sturmbannführer befördert.[7] Seine Karriere gewann an Fahrt: Im September 1938 wurde er zum korrespondierenden und im Mai 1939 zum wirklichen Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Er engagierte sich in der Hochschulpolitik, fungierte ab 1939 als kommissarischer Dekan der Philosophischen Fakultät und ab 1943 als Prorektor der Universität. An der Akademie war er Mitglied beziehungsweise Vorstand mehrerer Kommissionen, etwa der Vereinigten Nord- und Südarabischen Kommission und der Kommission Altsüdarabisches Wörterbuch. Als SS-Führer beteiligte sich Christian auch an der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe und nutzte seine Verbindungen zu NS-Funktionären, um über diese Forschungsgemeinschaft Bücherbestände für das Orientalische Institut zu akquirieren. Dabei handelte es sich um beschlagnahmte Bestände der emigrierten Forscher Ludwig Feuchtwanger und Samuel Krauss sowie der jüdischen Gemeinden in Kittsee, Lackenbach und Frauenkirchen. Die Bestände wurden nicht mit Signaturen versehen, sondern nur mit einem Stempel „Leihgabe Ahnenerbe“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie restituiert.[8] Christian war Mitherausgeber der Zeitschrift für Rassenkunde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Christian im Frühjahr 1945 als ordentlicher Professor entlassen. Er legte Widerspruch gegen die Entlassung ein und erreichte schließlich seine Versetzung in den ordentlichen Ruhestand, wobei ihm die volle Dienstzeit angerechnet wurde. Am 12. Juli 1960 erneuerte die Universität Wien sein Doktordiplom.[9]

Schriften (Auswahl)

  • Die Namen der assyrisch-babylonischen Keilschriftzeichen. Leipzig 1913
  • mit Heinrich Balcz, Karl Beth u. a.: Die Religionen der Erde in Einzeldarstellungen. Wien 1929
  • Die sprachliche Stellung des Sumerischen. Paris 1932
  • Altertumskunde des Zweistromlandes. Band 1 in 4 Lieferungen, Leipzig 1938–1940 (mehr nicht erschienen)
  • Untersuchungen zur Laut- und Formenlehre des Hebräischen. Wien 1953
  • Beiträge zur sumerischen Grammatik. Wien 1957
  • Die Herkunft der Sumerer. Wien 1961

Literatur

  • Wolfdieter Bihl: Orientalistik an der Universität Wien. Forschungen zwischen Maghreb und Ost- und Südasien. Die Professoren und Dozenten. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 116f.
  • Andre Gingrich: Viktor Christian und die Völkerkunde in Wien 1938–1945: Universität, Anthropologische Gesellschaft und Akademie der Wissenschaften in: Andre Gingrich; Peter Rohrbacher (Hg.), Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945): Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken (Phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 913; Veröffentlichungen zur Sozialanthropologie 27/1). Wien: Verlag der ÖAW 2021, S. 373–424. doi:10.1553/978OEAW86700
  • Andre Gingrich: Völkerkundliche Geheim-Expertise und Lagerforschung: Die Wiener „Lehr- und Forschungsstätte für den Vorderen Orient“ im SS-„Ahnenerbe“ in: Andre Gingrich; Peter Rohrbacher (Hg.), Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945): Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken (Phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 913; Veröffentlichungen zur Sozialanthropologie 27/3). Wien: Verlag der ÖAW 2021, S. 1217–1302. doi:10.1553/978OEAW86700
  • Adolf Grohmann: Viktor Christian. In: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1963. Wien 1964, S. 421–436 (mit Bild).
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16048-8., S. 92.
  • Irene Maria Leitner: „Bis an die Grenzen des Möglichen“: Der Dekan Viktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938–1943 (PDF; 159 kB). In: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils (Hrsg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010, S. 49–78.
  • Kurt Schubert, Johannes Botterweck, Johann Knobloch: Vorderasiatische Studien. Festschrift für Prof. Dr. Viktor Christian, gewidmet von seinen Kollegen und Schülern zum 70. Geburtstag. Wien 1956.
  • Gerd Simon: Tödlicher Bücherwahn. Der letzte Wiener Universitätsrektor im 3. Reich und der Tod seines Kollegen Norbert Jokl. Universität Tübingen, (Tübingen 1994). – Volltext online (PDF; 0,3 MB).
  • Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Zweite Ausgabe. Band 2 (2005), S. 337.
  • Ernst Weidner: Viktor Christian. In: Archiv für Orientforschung. Band 21 (1966), S. 258f.* Franz Heinrich Weißbach: Christian, Viktor. In: Reallexikon der Assyriologie. Band 2 (1938), S. 93.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Promotionsakt im Archiv der Universität Wien, PH RA 2599.
  2. Verzeichnis der Alten Herren der Deutschen Burschenschaft. Überlingen am Bodensee 1920, S. 257.
  3. Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät: PH S 34.11.
  4. Kurt Ehrenberg: Othenio Abel’s Lebensweg, unter Benützung autobiographischer Aufzeichnungen. Kurt Ehrenberg, Wien 1975, S. 85 f., ausgewertet bei Klaus Taschwer: Geheimsache Bärenhöhle. Wie ein antisemitisches Professorenkartell der Universität Wien nach 1918 jüdische und linke Forscherinnen und Forscher vertrieb. In: Regina Fritz, Grzegorz Rossoliński-Liebe, Jana Starek (Hrsg.): Alma mater antisemitica: Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939. Band 3, new academic press, Wien 2016, S. 221–242, hier S. 230 (online).
  5. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/5461269
  6. Bundesarchiv R 9361-III/520162
  7. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 92.
  8. Stefan Alker, Christina Köstner: Erwerbungspolitik an der Universitätsbibliothek Wien während der NS-Zeit – Bericht der Provenienzforschung. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderband: NS-Raubgut in Bibliotheken: Suche, Ergebnisse, Perspektiven. Wien 2008, S. 102f.
  9. Personalakte von Viktor Christian, Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät, PH PA 1034.