Unabhängige DDR-Zeitschriften

telegraph vom 22. Oktober 1989

Unabhängige Zeitschriften waren Publikationen, die in der Deutschen Demokratischen Republik seit etwa 1981 ohne staatliche Genehmigung erschienen. Nach dem Mauerfall im November 1989 wurden über 100 neue Zeitungen und Zeitschriften offiziell gegründet, von denen die meisten aber bald wieder aufgeben mussten.

Geschichte

Seit Anfang der 1980er Jahre gab es erste unabhängige Literatur- und Kunstzeitschriften, die im Samisdat erschienen. Diese wurden von den staatlichen Stellen meist stillschweigend geduldet. Dazu kamen seit 1985 kritischere gesellschaftlich orientierte Publikationen wie grenzfall und Umweltblätter, gegen die teilweise gezielt vorgegangen wurde.

Im Herbst 1989 gab es 39 offiziell lizenzierte Tageszeitungen und über 700 Zeitschriften in der DDR. Seit Oktober 1989 entstanden zahlreiche neue Publikationen. Diese waren zunächst einfache Informationsblätter der neuen Bürgerbewegungen Neues Forum und anderer, wurden aber dann mit einer Auflage von teilweise über 10.000 Exemplaren verkauft (Die Andere Zeitung, Leipzig) oder verteilt. Ab Ende Dezember erschienen die ersten mit einer staatlichen Lizenz.

Seit Januar 1990 erschienen die ersten neuen Tageszeitungen, immer mit der technischen und finanziellen Unterstützung eines Zeitungsverlages aus der Bundesrepublik, vor allem in den westlichen Gebieten der DDR (Sachsen-Anhalt, Altmark, Mecklenburg).[1][2][3] Die Lizenzpflicht wurde im Februar 1990 mit der Pressezensur abgeschafft.

Alle neuen Publikationen standen unter einem massiven wirtschaftlichen Konkurrenzdruck zu den bestehenden weit verbreiteten ehemaligen SED-Bezirkszeitungen sowie zu den neuen Illustrierten und Zeitungen aus dem Westen, die nach der Währungsreform in der DDR erscheinen konnten. Dazu kamen höhere finanzielle Hürden nach der Währungsumstellung. Schon bis Oktober 1990 mussten die meisten der neuen kleinen Wochenzeitungen und Zeitschriften ihr Erscheinen wieder einstellen. Einige Tageszeitungen mit westlicher Beteiligung bestanden zunächst weiter.

Nachdem im April 1991 die ehemaligen SED-Zeitungen auf teilweise zweifelhafte Weise an große westdeutsche Medienunternehmen verkauft wurden, wurde deren Einfluss so stark, dass fast alle der neu gegründeten Zeitungen ihr Erscheinen einstellen mussten. Damit entstand eine monopolistische Alleinpräsenz bei Tageszeitungen in jedem der ehemaligen DDR-Bezirke, die im Westen in dieser Form nicht besteht.

Überlebt haben lediglich der Oranienburger Generalanzeiger (mit der Gransee-Zeitung und dem Ruppiner Anzeiger) sowie die Altmark-Zeitung, die direkt oder indirekt dem Münchner Verleger Dirk Ippen gehören, sowie die Südthüringer Zeitung.

Unabhängige Publikationen bis 1989

In der DDR gab es in den 1980er Jahren über 70 unabhängige Publikationen im Samisdat.[4][5] Diese berichteten über Umwelt-, Friedens-, Gerechtigkeits- und Frauenthemen, einige waren literarische oder Kulturzeitschriften.

Publikationen bis 1989
TitelErscheinungsort, HerausgeberZeitBemerkungen
Abtreter
aktuell
AnschlagAngelika Klüssendorf und Wiebke Müller, ab 1985 Karim Saab und Gert Neumann1984–1989Literatur- und Kunstzeitschrift
Arche Nova
Arbeitsmaterial derDresdner Friedens-, Umwelt- und Zweidrittelweltgruppen
ariadnefabrikBerlin1988–1990Literaturzeitschrift
Art. 27
Aufbruch
Aufrisse
Bizarre StädteBerlinliterarische Texte
Blattwerk
Bekenntnisse
Entwerter/Oderseit 1982erste Samisdat-Zeitschrift mit Literatur und Grafiken
Erfurter SchlaglochErfurt
Forum für Kirche und Menschenrechte
Friedensnetz
Friedensreader
Friedrichsfelder FeuermelderFriedenskreis Berlin-Friedrichsfelde
frau andersJena1989–1993einzige unabhängige Zeitschrift für lesbische Frauen
Fußnote3
Gehversuche
Glasnot
grenzfallBerlin1986–1987erste wichtige politische Samisdat-Zeitschrift
Grubenkante
HerzattackeBerlin, Maximilian Barckseit 1988bibliophile Kunstzeitschrift
KontextBekenntnisgemeinde Berlin-Treptow1988–1990Essays und literarische Texte zu Gesellschaft und Kultur
Kopfsprung
Lausitzbotin
LianeBerlin1988–1990Lyrik und Grafik
Lila BandLandesstelle Junge Gemeinde Dresden1987–1989erste Samisdat-Frauenzeitschrift
Merkwürdiges
Mikado1983–Literatur
mOAning STAR
Morsche Meiler
Die Mücke
Nachtgebete
Öffnungszeit
OstkreuzBerlin
Papiertaube
Raster
ReizwolfWeimar1988–1989Literatur und Grafiken, jeweils 20–25 Exemplare[6]
SchalomFriedenskreis der Samaritergemeinde Berlin-Friedrichshain
Schwalbenfeder
Spuren
Stahl
StreiflichterArbeitsgruppe Umweltschutz beim Stadtjugendpfarramt Leipzig1981–1989erste Samisdat-Periodikum zu Umweltthemen
Umfeldblätter Oel
UmweltblätterUmwelt-Bibliothek Berlinseit 1986wichtigste Umwelt-Samisdatzeitschrift in der DDR; seit 1989 telegraph
UND, dann U.S.W.; .usfDresden1982–1989Literatur mit Grafiken, zweite künstlerische Samisdat-Zeitschrift
Unkraut
Wahlfall 89
Varia
Verwendung
Vorläufige Verfassung
wendezeit
Zweierlei Land – eine Lektion
Zweite Person
1. Mose 2, 25

Neue Zeitungen und Zeitschriften seit 1989

Tageszeitungen

Seit Anfang 1990 erschienen einige neue regionale Tageszeitungen, meist mit Unterstützung einer Zeitung aus dem Westen.

Tageszeitungen
TitelZeitRegionBemerkungen
Altmärker Allgemeine
Altmark Zeitungseit 1990Altmark
Ascherslebener Allgemeine1990–1992Aschersleben
Bernburger ZeitungBernburg
Gransee-Zeitungseit 1991Gransee
Magdeburger Allgemeine1990–Magdeburg
Mecklenburgische Volks-Zeitung1990Rostock
Mitteldeutsche AllgemeineEichsfeld
Neue Presse Expressspäter Express
Oranienburger Generalanzeigerseit 1990Oranienburgspäter mit Gransee-Zeitung und Ruppiner Anzeiger
Quedlinburger Zeitung1990–1992Quedlinburg
Ruppiner Anzeigerseit Juni 1990Neuruppinanfangs wöchentlich, seit 15. Dezember 1990 täglich
Südthüringer Zeitungseit 1990Eisenach, Meiningen, Schmalkalden
Wernigeröder Allgemeine1990–Wernigerode
Wir in LeipzigLeipzig

Weitere allgemeine Zeitungen und Zeitschriften

Ab Oktober 1989 erschienen über 100 neue Zeitungen und Zeitschriften, die vor allem von Anhängern des Neuen Forums und weiterer Bürgerbewegungen herausgegeben wurden. Die meisten von ihnen mussten wegen mangelnden wirtschaftlichen Kapazitäten ihr Erscheinen bald wieder einstellen.

Weitere Zeitschriften
TitelZeitRegionHäufigkeitBemerkungen
Altenburger Wochenblatt1990–1991Altenburgwöchentlichmitbegründet von Ingo Schulze
Anhalter AnzeigerDessauwöchentlich ?
Das Blatt1990–1991Berlinwöchentlich
Der Anzeiger1990Berlinim BasisDruck Verlag
die andere1990–Berlinwöchentlichzuerst Die andere Zeitung
Die andere Zeitung1990–Eisenach
Die andere Zeitung1990–Magdeburg
Die andere Potsdamer Zeitung1990Potsdam
Die Leipziger Andere Zeitung17. Januar 1990 bis April 1991Leipzigwöchentlichzuerst Die Andere Zeitung
Dessauer AnhalterDessau
Format. Thüringer Wochenzeitung1990wöchentlich
Halberstädter NachrichtenHalberstadt
Hallesche ReformzeitungHalle (Saale)Bürgerbewegungen im Reformhaus
In MagdeburgMagdeburgmonatlichStadtmagazin
Mecklenburger Aufbruch1989–Schwerin, u. a.wöchentlich
neue erfurter Zeitung1990Erfurt
Neuer Anhalter AnzeigerDessau
Neue Presse WeißenfelsWeißenfels
Ökostroika1990–Berlinzu ökologischen Themen
Roßbacher ReformerRoßbach
Stattzeitung1990Hallewenige Ausgaben bis März 1990
Super!1991–1992Neue BundesländerwöchentlichIllustrierte vom Burda-Verlag München
Super OssiNeue Bundesländer, Berlinwöchentlich
Superilluseit 1990wöchentlichim Burda Verlag München
telegraph10. Oktober 1989–BerlinwechselndFortsetzung der Umweltblätter
WinkelementJanuar bis März 1990Potsdamerste unabhängige Zeitung in Potsdam

Kulturzeitschriften

Bereits seit Anfang der 1980er Jahre gab es einige informelle Kultur- und Literaturzeitschriften (Ariadnefabrik, Bizarre Städte). Seit Oktober 1989 wurden einige neue gegründet, die literarische Essays und Texte enthielten oder sich überwiegend der Rezeption von Kunst und Kultur widmeten.

Kulturzeitschriften
TitelOrtZeitBemerkungen
ConstructivBerlin1990–1991radikal-demokratisch, vor allem Essays
EselsohrenBerlin1990–Rezensionen von Literatur
Greif Literaturmagazin
KontextBerlin-Treptow1988–1990Neuherausgabe von März bis November 1990
SondeurBerlin1990–Fortsetzung von Bizarre Städte
WartsUpBerlin1990–schöner lesen, in Comicbibliothek Berlin

Frauenzeitschriften

Es entstanden auch einige eigenständige Frauenzeitschriften

Frauenzeitschriften
TitelOrtZeitBemerkungen
Frau andersJena1988–für lesbische Frauen
FrauenblätterLeipzig1990
Weibblick1992–1998vom Unabhängigen Frauenverband
YpsilonBerlin1990–1991im BasisDruck Verlag
ZaunreiterinBerlin1990–

Literatur

  • Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.): Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR. Links, Berlin 1999, ISBN 3-86153-191-7, S. 654–716.
  • Horst Röper: Die Entwicklung des Tageszeitungsmarktes in Deutschland nach der Wende in der ehemaligen DDR. In: Media Perspektiven. Heft 7, 1991, S. 421–430.
  • Jürgen Grubitzsch: Presselandschaft der DDR im Umbruch. Ausgangspunkte, erste Ergebnisse und Perspektiven. In: Media Perspektiven. Heft 3, 1990, ISSN 0170-1754, S. 144–155.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die Entwicklung der ostdeutschen Tagespresse von der "Wende" bis heute von Stefan Matysiak, 2010, Bundeszentrale für politische Bildung
  2. Günter Herkel: Kurzer Zeitungsfrühling M, ver.di, Mai 2005
  3. So weit wie China – Westdeutsche Medienkonzerne sondieren den Markt DER SPIEGEL 50/1989
  4. Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989. Eine Dokumentation (= Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 7). Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2002, ISBN 3-9804920-6-0.
  5. Dorothee-Anne Vogel: Findbuch zum Bestand Samisdat in der DDR, Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin, 2006 PDF, mit 579 Ausgaben von Samisdat-Periodika, mit Herausgeber und Inhaltsverzeichnis; vgl. Unabhängige Publikationen Robert-Havemann-Gesellschaft, mit Liste einiger Zeitschriften
  6. Axel Stefek: 1988–1989. Stimmen aus dem Untergrund. Der „Reizwolf“. In: Ders.: Weimar unangepasst. Widerständiges Verhalten 1950-1989. Weimar 2014, S. 131–136; einige Exemplare im Stadtmuseum Weimar

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