Tropische Geometrie

Die tropische Geometrie ist ein aktuelles Forschungsgebiet in der algebraischen Geometrie und damit ein Teilgebiet der Mathematik. Sie kann als stückweise-linearisierte Version der algebraischen Geometrie aufgefasst werden.[1] Algebraische Varietäten werden dadurch zu kombinatorischen Objekten, die mit Diskreter Mathematik untersucht werden können. Daher bestehen enge Verknüpfungen der tropischen Geometrie zur Kombinatorik, enumerativen Geometrie, Computeralgebra und zur torischen Geometrie.

Geschichte der tropischen Geometrie

Bereits in den 1950er-Jahren wurden idempotente Halbringe wie etwa die Min-Plus-Algebra in der diskreten Mathematik und Informatik verwendet.[2] Frühe Formen tropischer Geometrie finden sich in den 1970er-Jahren etwa bei George Bergman.[3] Auch in der Gruppentheorie werden von Robert Bieri, John R. J. Groves, Walter D. Neumann und Ralph Strebel wenige Jahre später Konzepte der tropischen Geometrie verwendet.[1] 1.6 Group Theory.

Größere Beachtung erfährt die tropische Geometrie vor allem durch ihre erfolgreiche Anwendung in der enumerativen Geometrie etwa durch Grigory Mikhalkin, der sie 2005 in der Gromov-Witten-Theorie einsetzte.[4][1]1.7 Curve Counting

Dennoch steckt die tropische Geometrie noch in ihren Kinderschuhen. Beispielsweise gab es lange zu verschiedenen Grundobjekten der algebraischen Geometrie – etwa abstrakten Varietäten und ihren Morphismen – noch keine analogen Objekte in der tropischen Geometrie.[5] 2013 führten Jeffrey und Noah Giansiracusa tropische Schemata ein.[6][7]

Begriffsbildung

Die Min-Plus-Algebra wurde bereits in den 1980er-Jahren zu Ehren des brasilianischen Mathematikers und Informatikers Imre Simon von französischen Kollegen als tropischer Halbring bezeichnet, was auf die Herkunft von Simon hinweisen soll.[8][9][10][11] In diesem Zusammenhang ist auch die Bezeichnung tropische Geometrie zu verstehen. Der Begriff hat also keine tiefere Bedeutung, sondern kurz gesagt:

“It simply stands for the French view of Brazil.”

„Es steht einfach für die französische Sicht auf Brasilien.“

Maclagan, Sturmfels: Introduction to Tropical Geometry. 2015, Kap. 1, Vorwort.

Hauptidee hinter der tropischen Geometrie

Der tropischen Geometrie liegt die Idee zugrunde, einfachere und neue Methoden zum Studium von algebraischen Kurven bereitzustellen. In der tropischen Geometrie werden Schatten algebraischer Kurven betrachtet. Diese Schatten sind kombinatorische, stückweise lineare Objekte und werden tropische Kurven genannt. Anschaulich entsprechen sie einfachen Graphen bzw. „Strichzeichnungen“. Wegen ihrer stückweise linearen Struktur kann man die tropischen Kurven mit einfacheren Methoden untersuchen als algebraische Kurven. Weil die tropischen Kurven Schatten algebraischer Kurven sind, kann man an der jeweiligen tropischen Kurve immer noch manche Eigenschaften der algebraischen Kurve ablesen.[12]

Arithmetik der tropischen Geometrie

In der tropischen Addition ist die Summe zweier Zahlen entweder deren Maximum (Max-Plus-Algebra) oder deren Minimum (Min-Plus-Algebra) und es gibt keine Subtraktion.[1]

In der tropischen Multiplikation ist das tropische Produkt zweier Zahlen deren klassische Summe und die tropische Division ist als klassische Subtraktion definiert.[1]

Viele der bekannten Axiome der Arithmetik behalten ihre Gültigkeit in der tropischen Mathematik: Das Assoziativ- und Kommutativgesetz gilt sowohl für die tropische Addition als auch für die tropische Multiplikation. und [1]. Ebenso gilt das Distributivgesetz: [1]

Grundbegriffe

Tropischer Halbring

Das Tupel , wobei die Addition und die Multiplikation definiert sind durch und ist ein Halbring (sogar ein Halbkörper). Er wird als tropischer Halbring oder auch als Min-Plus-Algebra bezeichnet.

Während sich die algebraische Geometrie üblicherweise mit Nullstellenmengen von Polynomen über einem Körper beschäftigt, kann die tropische Geometrie als Geometrie über dem tropischen Halbring aufgefasst werden.

Es ist zu beachten, dass der tropische Halbring idempotent ist, das heißt, es gilt stets . Außerdem gibt es zwar ein neutrales Element bezüglich der Addition, nämlich , aber keine inversen Elemente.

Es ist auch möglich, statt der Min-Plus-Algebra die Max-Plus-Algebra zu verwenden, was von manchen Autoren als natürlicher empfunden wird.[13] In der Max-Plus-Algebra sind die Addition und die Multiplikation für das Tupel definiert durch und . Die Max-Plus-Algebra wird vor allem in der Volkswirtschaftslehre sowie in der Betriebswirtschaftslehre verwendet.

Tropische Polynome

Betrachtet man Laurent-Polynome über dem tropischen Halbring, so erhält man Funktionen der Form

wobei .

Es stellt sich heraus, dass diese tropischen Polynome in Variablen gerade die stetigen, stückweise-linearen, konkaven Funktionen mit ganzzahligen Steigungen sind.[1]Lemma 1.1.2.

Allgemeiner kann jedem Element aus dem Ring der Laurent-Polynome über einem bewerteten Körper mit Bewertung ein tropisches Polynom zugeordnet werden. Zu erhält man das tropisierte Polynom als .[1]Formel (2.4.1).

Tropische Hyperflächen

Eine tropische Hyperfläche zu einem Laurent-Polynom ist der Ort aller Punkte in , in denen die stückweise-lineare Funktion nicht linear ist.[1]Definition 3.1.1.

Tropische Varietät

Sei ein Ideal und die dazugehörige Varietät im algebraischen Torus .

Dann ist die tropisierte Varietät der Schnitt der tropischen Hyperflächen, welche durch die Polynome aus definiert werden, das heißt

Eine tropische Varietät in ist eine Teilmenge, die als Tropisierung einer Untervarietät eines algebraischen Torus eines bewerteten Körpers entsteht.[1]Definition 3.2.1.

Zentrale Sätze

Der Hauptsatz der tropischen Geometrie[1]Theorem 3.2.5. liefert verschiedene Charakterisierungen tropischer Varietäten. In der Formulierung für Hyperflächen geht er auf Mikhail Kasparnov zurück.[1]Erläuterung vor Theorem 3.1.3.

Der Struktursatz für tropische Varietäten verknüpft die tropische Geometrie mit der diskreten Geometrie von Polyedern.[1]Theorem 3.3.6.

Anwendungen der tropischen Geometrie

Anwendungen in der Algebraischen Geometrie

2007 vermutete Matt Baker, wie man mit tropischer Geometrie einen neuen Zugang zu dem ursprünglich 1980 von Phillip Griffiths und Michael Harris bewiesenen Satz von Brill und Noether erhält, das Aussagen über den Zusammenhang des topologischen Geschlechts von Kurven und deren Grad und Rang macht.[14] Ein Beweis erfolgte durch Sam Payne und Kollegen.[15] Der Satz ist nach Max Noether und Alexander von Brill benannt, die ihn 1874 aufstellten, strenge Beweise brachten aber erst Griffiths und Harris. 2017/18 zeigten David Jensen und Dhruv Ranganathan[16] und Jensen und Sam Payne[17][18] wie man eine Verschärfung des Satzes von Brill-Noether mit tropischer Geometrie beweisen kann (Starke Vermutung vom maximalen Rang).[19]

Anwendungen der tropischen Geometrie in der enumerativen Geometrie

Mit Hilfe der tropischen Geometrie können in der enumerativen Geometrie Welschinger-Invarianten (nach Jean-Yves Welschinger) berechnet werden.[20]

Anwendungen der tropischen Geometrie in der Informatik

In der Informatik wird die tropische Matrix-Multiplikation in Algorithmen für die kürzesten Pfade in Graphen und Netzwerken verwendet. Das Rahmenwerk für derartige Algorithmen ist als dynamische Programmierung bekannt.[1] In der Informatik findet schwerpunktmäßig die Min-Plus-Algebra Anwendung.

Anwendungen der tropischen Geometrie in der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre

In der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre werden die Methoden der tropischen Geometrie für die Verteilung von Notfallkrediten im Rahmen von Finanzkrisen, die Verteilung der Produkte/Warenkörbe im Rahmen von Auktionen sowie die Berechnung von Koalitionsbildungen verwendet.[21] In der Volkswirtschaftslehre sowie der Betriebswirtschaftslehre findet schwerpunktmäßig die Max-Plus-Algebra Anwendung.

Satz der Unimodularität von Baldwin/Klemperer

Ein kompetitives Gleichgewicht existiert dann für jedes Paar von konkaven Nutzenfunktionen der Nachfrageart D für alle relevanten Angebotsbündel, wenn D unimodular ist.[21]

Eine Menge von Vektoren im ist unimodular, wenn jede linear unabhängige Teilmenge der Vektoren zu einer Basis im mit der Determinante ±1 ausgeweitet werden kann.[21]Definition 4.2.

Anwendungen der tropischen Geometrie in der Physik

In der Physik werden die Methoden der tropischen Geometrie in der Hochenergiephysik verwendet.[22] Beispielsweise existieren Anwendungen in der Theorie der supersymmetrischen Felder.[23] Die tropische Geometrie wird in der Physik verwendet, um Gleichgewichtspositionen im Schwerkraftfeld von vier Körpern zu finden.[24] In der Physik findet schwerpunktmäßig die Min-Plus-Algebra Anwendung.

Anwendungen der tropischen Geometrie in der Biologie

In der Computerbiologie basieren viele Algorithmen für die Genvorhersage und den Sequenzabgleich auf der dynamischen Programmierung, wobei diese Algorithmen eine Weiterentwicklung des tropischen Polynoms sind. Die Interpretation der Algorithmen in der dynamischen Programmierung ist dabei insbesondere nützlich, um statistische Rückschlüsse zu ziehen.[25] In der Computerbiologie wird schwerpunktmäßig die Min-Plus-Algebra angewandt.

Literatur

Lehrbücher:

  • Grigory Mikhalkin, Johannes Rau: Tropical geometry. 2015, Buch in Vorbereitung, (PDF; 2,9 MB).
  • Matthew Baker, Sam Payne: Nonarchimedean and Tropical Geometry, Simons Symposia, Springer, 2016, ISBN 978-3-319-30944-6.
  • Diane Maclagan, Bernd Sturmfels: Introduction to tropical geometry. American Mathematical Society, Providence 2015, ISBN 978-0-8218-5198-2.
  • Ilia Itenberg, Grigory Mikhalkin, Eugenii Shustin: Tropical algebraic geometry. Birkhäuser, Basel 2007, ISBN 978-3-7643-8309-1.
  • Mark Gross: Tropical geometry and mirror symmetry. American Mathematical Society, Providence 2011, ISBN 978-0-8218-5232-3.

Kurze Einführungen:

Weitere Veröffentlichungen:

  • David Speyer: Tropical Geometry. Dissertation, University of California, Berkeley, 2005, (PDF; 731 kB).
  • Grigory Mikhalkin: Tropical geometry and its applications. Proceedings of the International Congress of Mathematicians, Madrid, Spain, 2006 arxiv:math/0601041.
  • Antoine Chambert-Loir: Tropische Geometrie. Das Skelett der Amöbe. In: Spektrum der Wissenschaft. 2019, H. 6, S. 12–17.
  • Melody Chan: Tropical curves and metric graphs, Dissertation, University of California, Berkeley, 2012, PDF; 1 MB
  • Grigory Mikhalkin: Enumerative tropical algebraic geometry in . J. Amer. Math. Soc. 18 (2005), no. 2, 313–377, arxiv:math/0312530.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i j k l m n o Diane Maclagan und Bernd Sturmfels: Introduction to Tropical Geometry. In: Graduate Studies in Mathematics. Band 161. American Mathematical Society, Providence 2015, ISBN 978-0-8218-5198-2 (homepages.warwick.ac.uk [PDF; 2,7 MB]).
  2. Grigory L. Litvinov: The Maslov dequantization, idempotent and tropical mathematics: A brief introduction. Juli 2005, S. 2–3, arxiv:math/0507014.
  3. George M. Bergman: The logarithmic limit-set of an algebraic variety. In: Transactions of the American Mathematical Society. Band 157, 1971, S. 459–469.
  4. Mikhalkin: Enumerative tropical algebraic geometry in . 2005.
  5. Andreas Gathmann: Tropical algebraic geometry. 2006, Conclusion.
  6. Jeffrey und Noah Giansiracusa: Equation of tropical varieties, Duke Math. Journal, Band 165, 2016, S. 3379–3433.
  7. Diane Maclagan, Felipe Rincon: Tropical schemes, tropical cycles, and valuated matroids, J. Europ. Math. Soc., Arxiv 2014
  8. Jean-Eric Pin: Tropical Semirings. (irif.fr [PDF; 215 kB]).
  9. J. Gunawardena: Idempotency. In: Publ. Newton Inst. Band 11. Cambridge University Press, Bristol 1994, Introduction, S. 50–69.
  10. Simon: Recognizable sets with multiplicities in the tropical semiring. In: Mathematical Foundations of Computer Science. Carlsbad 1988, S. 107–120 (cs.technion.ac.il [PDF; 194 kB]).
  11. Mathoverflow: What's tropical about tropical algebra? 23. September 2011, abgerufen am 10. September 2017.
  12. Hannah Markwig: Tropische Geometrie. In: Katrin Wendland, Annette Werner (Hrsg.): Facettenreiche Mathematik. Vieweg+Teubner Verlag. Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-8348-1414-2, Kapitel 15, S. 295.
  13. Grigory Mikhalkin, Johannes Rau: Tropical geometry. 2015, Remark 1.2.2..
  14. Baker, Specialization of linear systems from curves to graphs, Arxiv 2007.
  15. Filip Cools, Jan Draisma, Sam Payne, Elina Robeva, A tropical proof of the Brill-Noether-Theorem, Advances in Mathematics, Band 230, 2012, S. 759–776.
  16. Jensen, Ranganathan, Brill-Noether theory for curves of a fixed gonality, Arxiv 2017.
  17. Jensen, Payne, Tropical independence II: the maximal rank conjecture for quadrics, Algebra Number Theory, Band 10, 2016, S. 1601–1640, Arxiv
  18. Jensen, Payne, Effectivity of Farkas classes and the Kodaira dimensions of and , Arxiv 2018.
  19. Kevin Hartnett, Tinkertoy Models Produce New Geometric Insights, Quanta Magazine 2018.
  20. G. Mikhalkin: Enumerative tropical geometry in R^2. J. American Mathematical Society. 18, 2005, S. 313–377.
  21. a b c Elisabeth Baldwin und Paul Klemperer: Understanding Preferences: “Demand Types”, and the Existence of Equilibrium with Indivisibilities. Oxford University 9. Oktober 2016, S. 1,22.
  22. Barak Kol: Tropical geometry and high energy physics, in: Tropical Aspects in Geometry, Topology and Physics. Hrsg.: Mathematisches Forschungsinstitut Oberwolfach. 2015.
  23. Ashoke Sen: Tropical curves, wall crossing and supersymmetric field theory. 2012.
  24. M. Hampton, R. Moeckel: Finiteness of relative equilibria of the four-body problem. Inv. Math. 163, 2006, S. 289–312.
  25. Lior Pachter und Bernd Sturmfels: Algebraic statistics for computational biology. Cambridge University Press, 2005.