Schluckimpfung

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Schluckimpfung im Kindergarten (1960)

Die Schluckimpfung ist eine Impfung mit einem Impfstoff, der oral aufgenommen wird.[1] Als Erfinder der Schluckimpfung gilt der Virologe Albert Sabin.

Eigenschaften

Der Impfstoff einer Schluckimpfung besteht meist aus funktionsfähigen, aber abgeschwächten Erregern (Lebendimpfstoff), die bei immunkompetenten Personen die Krankheit nicht auslösen können, z. B. aufgrund einer Attenuierung. Voraussetzung für eine wirksame Schluckimpfung ist die Resistenz des abgeschwächten Erregers gegenüber den abbauenden Umgebungsbedingungen im Verdauungstrakt (Magensaft, Verdauungsenzyme), wie sie bei Erregern vorkommt, die über den Verdauungstrakt infizieren. Schluckimpfungen gibt es unter anderem gegen Polio, Typhus,[2] Tuberkulose,[3] Cholera,[4][5] Rotavirus-Erkrankungen. Bei attenuierten (abgeschwächten) Erregern kann es zu einer stark behinderten Replikation des Erregers im Geimpften kommen, die für eine Impfantwort, aber nicht für eine Erkrankung ausreicht, wenn der attenuierte Erreger noch schwach replikationskompetent ist. Das betrifft die meisten Schluckimpfstoffe. Bei manchen attenuierten Erregern, wie das MVA-Virus bei der Pockenimpfung, reicht es ohne Replikationskompetenz für eine schützende Impfantwort. Schluckimpfstoffe werden sowohl als immunogene Impfstoffe zur Erzeugung einer Immunantwort als auch als tolerogene Impfstoffe zur Hyposensibilisierung eingesetzt.[6][7]

Vor- und Nachteile

Vorteile einer Schluckimpfung sind die einfache Anwendung, die Vermeidung von Injektionen, die günstige Produktion und aufgrund der Verarbeitung des Impfstoffs innerhalb einer Zelle die Erzeugung sowohl einer humoralen Immunantwort (erzeugt Antikörper) als auch einer zellulären Immunantwort (erzeugt T-Zellen).[8] Die intrazelluläre Verarbeitung des Impfstoffs ermöglicht eine Präsentation von Teilen der Proteine des Erregers an Haupthistokompatibilitätskomplexen des Typs I, die wiederum die zelluläre Immunantwort ermöglicht, wie auch bei den genetischen Impfstoffen. Früher wurde in der Bundesrepublik Deutschland – wo keine Impfpflicht besteht, sondern nur amtliche Impfempfehlungen gelten – mit dem Slogan „Kinderlähmung ist grausam – Schluckimpfung ist süß“[9] bzw. auch „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist bitter“[10] auch für eine Teilnahme an der Polio-Schluckimpfung geworben.

Ein Nachteil ist die mögliche Reversion zu replikationskompetenten und pathogenen Erregern (ähnlich wie der Wildtyp des Erregers),[11] die durch zahlreiche Deletionen im Genom des attenuierten Erregers vermieden werden sollen. Weitere Nachteile sind, dass der Schluckimpfstoff an Wirksamkeit verliert, wenn gleichzeitig Magen-Darm-Infekte oder Diarrhoe vorliegen oder der Patient bestimmte Antibiotika einnimmt. Auch für immungeschwächte Personen sind orale Lebendimpfstoffe oftmals nicht geeignet, da wie auch bei anderen Lebendimpfstoffen in seltenen Fällen eine Erkrankung durch den Impferreger ausgelöst werden kann. Aus diesem Grund wird der Schluckimpfstoff gegen Polio seit 1999 in Europa nicht mehr verwendet, da es nach Ausrottung der Polio in Europa vereinzelt zu Polioerkrankungen durch diese Schluckimpfung kam.[12]

Weblinks

Wiktionary: Schluckimpfung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. A. Azizi, A. Kumar, F. Diaz-Mitoma, J. Mestecky: Enhancing oral vaccine potency by targeting intestinal M cells. In: PLoS pathogens. Band 6, Nummer 11, 2010, S. e1001147, ISSN 1553-7374. doi:10.1371/journal.ppat.1001147. PMID 21085599. PMC 2978714 (freier Volltext) (englisch).
  2. M. B. Sztein: Cell-mediated immunity and antibody responses elicited by attenuated Salmonella enterica Serovar Typhi strains used as live oral vaccines in humans. In: Clinical Infectious Diseases. Band 45 Suppl 1, Juli 2007, S. S15–S19, ISSN 1537-6591. doi:10.1086/518140. PMID 17582562. PDF (Memento vom 23. Dezember 2016 im Internet Archive) (englisch).
  3. T. C. Benévolo-de-Andrade, R. Monteiro-Maia, C. Cosgrove, L. R. Castello-Branco: BCG Moreau Rio de Janeiro: an oral vaccine against tuberculosis–review. In: Memórias do Instituto Oswaldo Cruz. Band 100, Nummer 5, August 2005, S. 459–465, ISSN 0074-0276. PMID 16184220. PDF (englisch).
  4. S. Shin, S. N. Desai, B. K. Sah, J. D. Clemens: Oral vaccines against cholera. In: Clinical Infectious Diseases. Band 52, Nummer 11, Juni 2011, S. 1343–1349, ISSN 1537-6591. doi:10.1093/cid/cir141. PMID 21498389. PDF (englisch).
  5. T. Nochi, H. Takagi, Y. Yuki, L. Yang, T. Masumura, M. Mejima, U. Nakanishi, A. Matsumura, A. Uozumi, T. Hiroi, S. Morita, K. Tanaka, F. Takaiwa, H. Kiyono: Rice-based mucosal vaccine as a global strategy for cold-chain- and needle-free vaccination. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. Band 104, Nummer 26, Juni 2007, S. 10986–10991, ISSN 1091-6490. doi:10.1073/pnas.0703766104. PMID 17573530. PMC 1904174 (freier Volltext) (englisch).
  6. F. Takaiwa: Seed-based oral vaccines as allergen-specific immunotherapies. In: Human vaccines. Band 7, Nummer 3, März 2011, S. 357–366, ISSN 1554-8619. PMID 21358268, (Volltext als PDF) @1@2Vorlage:Toter Link/www.landesbioscience.com (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) (englisch).
  7. A. Tonks: Oral vaccines: A spoonful of antigen. In: BMJ (Clinical research edition). Band 335, Nummer 7612, Juli 2007, S. 180–182, ISSN 1756-1833, doi:10.1136/bmj.39275.480000.AD, PMID 17656541, PMC 1934445 (freier Volltext) (englisch).
  8. J. E. Vela Ramirez, L. A. Sharpe, N. A. Peppas: Current state and challenges in developing oral vaccines. In: Advanced drug delivery reviews. Band 114, Mai 2017, S. 116–131, doi:10.1016/j.addr.2017.04.008, PMID 28438674, PMC 6132247 (freier Volltext).
  9. Gábor Paál: 60 Jahre Polio-Massenimpfung: "Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß". In: SWR2. 29. Juli 2021, abgerufen am 11. August 2021.
  10. Claudia Ehrenstein: Sieg über die Kinderlähmung. In: Welt online. 22. Juni 2002, abgerufen am 11. August 2021.
  11. Wolfram Gerlich et al.: Medizinische Virologie. Grundlagen, Diagnostik, Prävention und Therapie viraler Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-13-113962-7. S. 466.
  12. Polio: Warum Spritzimpfung statt Schluckimpfung? Auf: gesundheit.de, aktualisiert am 25. Januar 2017, zuletzt abgerufen am 23. August 2021.

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Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein.
Kindergarten, Schutzimpfung gegen Kinderlähmung Zentralbild Löwe 26.3.1960 Neue Impfmethoden gegen Kinderlähmung erstmalig im Kreis Zittau Im Kreis Zittau wurde jetzt erstmalig in unserer Republik der Impfschutz gegen Kinderlähmung in Form von Tropfen, die mit Wasser oder Fruchtsaft verabreicht werden, vorgenommen. Amerikanischen Wissenschaftlern war es zuerst gelungen, einen solchen Impfstoff zu entwickeln, der nach demselben Verfahren u.a. auch in der Sowjetunion hergestellt wird. Dieser Impfstoff wird bereits in vielen Ländern der Welt angewandt und führt zu keinerlei Komplikationen. Nach den vorliegenden Erfahrungen vermittelt dieser neuartige Impfstoff einen noch vollkommeneren Impfschutz, als die alte Methode in Form von Einspritzungen. In den kommenden Wochen und Monaten werden in der gesamten DDR diese Schutzimpfungen nach der neuen Methode durchgeführt mit Impfstoff, der in der Sowjetunion hergestellt wurde. Im Kreis Zittau wurden in kürzester Zeit 30.000 Menschen im Alter von zwei Monaten bis 20 Jahren geimpft. UBz: die Kollegin Margarete Hauptmann von der Hygiene-Inspektion Zittau bei der Verabreichung des neuen Impfstoffes im Kindergarten der Textilwerke Zittau.