Sündenfall

Michelangelo: Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies (Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle)
Die Schlange reicht Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis, Kirche San Michele de Murato (12. Jahrhundert), Korsika

Als Sündenfall bezeichnet die christliche Theologie die klassische Auslegung der biblischen Geschichte in Gen 3 , die davon erzählt, wie das erste Menschenpaar eine verbotene Frucht aß und infolgedessen aus dem Paradiesgarten vertrieben wurde. Die Geschichte wird teils als tatsächlich passiertes Ereignis, meist jedoch als symbolisch zu deutender Mythos[1] verstanden, welcher den Zustand dieser „gefallenen“ Welt und die Situation des Menschen darin deutet und erklärt. Demzufolge verlor der Mensch den „Urstand“ durch die Sünde Adams und Evas und da jeder Mensch als Nachkomme Adams verstanden wird, hat er Teil an der Erbsünde (lat. peccatum originale originatum), ist also in einen Unheilszusammenhang hineingeboren. Dem wird im christlichen Verständnis der Heilsgeschichte Christus als „neuer Adam“ gegenübergestellt, der durch seinen Gehorsam den Ungehorsam des ersten Adam aufhebt.

Die biblische Geschichte

In der Schöpfungsgeschichte des Jahwisten erschafft Gott die Menschen und stellt sie in den eigens dafür geschaffenen Garten Eden. Er gebot ihm: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16 ). Sowohl der Mann, als auch die aus dessen Rippe gebildete Frau, waren „nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25 ). Dann trat eine Schlange mit der Frage an die Frau, ob Gott gesagt habe, sie dürften von keinem Baum des Gartens essen. Die Frau entgegnete, nur vom Baum in der Mitte des Gartens nicht essen zu dürfen, da sie sonst sterben würden. Sodann versicherte ihr die Schlange stattdessen: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Die Frau aß von der verbotenen Frucht und dann auch der Mann. Sie erkannten dann ihre Nacktheit und versteckten sich vor Gott, der schließlich nach ihnen rief. Der Mann sagte, er habe die Früchte von der Frau bekommen, welche anschließend sagte, die Schlange habe sie verführt.

Dann verfluchte Gott die Schlange, kündigte als Nächstes der Frau Schmerzen an und sprach schließlich zum Mann, er müsse von nun an den Erdboden im Schweiße seines Angesichts beackern. Er bekleidete die Menschen noch mit Fellgewändern und schickte sie dann aus dem Garten Eden weg, sodass sie nicht etwa noch vom Baum des Lebens äßen.

Biblischer Zusammenhang

Gen 3  bildet die erste der vier urgeschichtlichen Verfehlungsgeschichten vom Brudermord (Gen 4,1–16 ), von Beziehungen zwischen Engeln und Menschen (Gen 6,1–4 ) und vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9 ). Sie bringen grundsätzliche biblische Aussagen über das Wesen von Mensch und Menschheit zum Ausdruck. Die erste Verfehlung ist jedoch insofern grundlegend, als mit ihr der paradiesische „Garten Eden“ als Inbegriff der Einheit mit Gott oder der Zugang zur ewigen Lebenfülle im „Baum des Lebens“ (Gen 3,22 ) verloren geht und der Mensch nun mit dem animalischen „Fellkleid“ (Gen 3,21 ) die Geschichte der Sterblichen zwischen Geburt und Tod beginnt.

In Sir 25,24  wird die „Ursünde“ von Genesis 3 als Anfang des Sündigens und als Ursache des Sterbens aller gesehen und in Weish 2,24  auch als Ursache des ewigen Todes der Sünder.

Der Begriff „Sündenfall“ entstand nach christlichem Verständnis im spätjüdischen 4. Buch Esra. Dort heißt es: „Ach, Adam, was hast du getan! Als du sündigtest, kam dein Fall nicht nur auf dich, sondern auf uns, deine Nachkommen!“ (4. Esra 7,118)

Wesentlich für die christliche Interpretation ist die Theologie des Paulus, wie er sie im Römerbrief ausführt. Demnach leitet sich von dieser ersten Sünde der Tod ab: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (Röm 5,12 ) Insofern ist der Sündenfall im „Ungehorsam“ des ersten Adam ursächlich für den Tod, während im „Gehorsam“ des zweiten Adam „bis zum Tod am Kreuz“ mit der Auferstehung das Leben neu geschaffen wird (Röm 5,12–21 ; Phil 2,8 ).

Während der neue Adam freiwillig von seiner himmlischen „Höhe“ herabsteigt und „demütig“ das „Sklavenkleid“ des menschlich-irdischen „Fleisches“ anzieht (Phil 2,7 ; Joh 1,14 ; Mt 11,29 ), damit der „gefallene“ Mensch sein ursprüngliches „Lichtkleid“ der Herrlichkeit und Unsterblichkeit wiedererlange (vgl. Eph 4,24 ; 1 Kor 15,53f. ; Kol 3,10 ), fällt der alte Adam durch seinen Hochmut. Vom Sündenfall in diesem Sinn handelt dann auch das vielfach überlieferte Jesus-Wort: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Mt 23,12 ; Lk 14,11 ; 18,14 ; vgl. 1,48.52 ).

Christliche Auslegungsgeschichte

Augustinus

Augustinus von Hippo entwickelte aus der Interpretation des Paulus die Lehre von der Erbsünde. Er verband die Erbsünde mit der Sexualität: Er sah in der verbotenen Frucht die sexuelle Lust und glaubte, dass Adam im Paradies Kinder zeugen konnte, ohne sexuelle Erregung zu empfinden. Er schrieb: „Durch denselben Willensantrieb wären die fraglichen Glieder bewegt worden wie die übrigen, und ohne den Stachel brünstigen Begehrens, in voller Ruhe des Geistes und des Körpers und ohne Verletzung ihrer Unversehrtheit, hätte der Gatte seines Weibes Schoß befruchtet“.[2] Und weil Eva in der Erzählung die Initiative ergreift, indem sie Adam den Apfel anbietet, entwickelte Augustinus daraus eine Sexualethik, die der Frau eine aktive Rolle in den sexuellen Beziehungen verbot.[3]

Obwohl diese enge Verbindung von Sündenfall und Sexualität nie lehramtlich verbindlich rezipiert wurde, prägte sie doch das westliche Christentum nachhaltig.

Mittelalter

Bei den Kirchenvätern und in der mittelalterlichen Mystik stehen beide Bäume für die zwei Seiten der Wirklichkeit: Himmel und Welt, das Unsichtbare und das Sichtbare (vgl. Kol 1,15–16 ), das „Männliche“ und das „Weibliche“, auch Gnade und sakramentale „Materie“ sowie geistig-geistliche und „buchstäbliche“ Exegese.

So erklärt Bonaventura im Hexaemeron (XIX,8) vom Wandlungswunder auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11 ) her: „Der Buchstabe [der Schrift] allein ist lediglich Wasser, das erst im geistlichen Verständnis in Wein verwandelt wird; er ist Stein, der erst zu Brot werden muss“; und: er ist nur der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse; „erst im geistlichen Verständnis wird die Schrift zum Baum des Lebens“. Entscheidend ist, das buchstäbliche Verständnis der Schrift mit dem inneren Verständnis im Heiligen Geist zu verbinden, wodurch die Bibel erst lebendiges Wort Gottes (= Lebensbaum) ist oder „gleichsam eine Zither“: „die tiefe Saite [= Literalsinn] bewirkt erst mit den anderen [drei geistigen Schriftsinnen] zusammen den Wohlklang.“[4]

Was für die Bibel als „Schöpfung im Wort“ (Friedrich Weinreb) gilt, das gilt auch für die Schöpfung durch das Wort (vgl. Joh 1,3–4 ; Hebr 1,3 ; 11,3 ): Nur wenn das Sichtbare und das Unsichtbare im „hochzeitlichen“ Bund eins sind, lebt der Mensch in der vom göttlichen Wort geschaffenen paradiesischen Wirklichkeit oder im „Himmel“ (vgl. Kol 1,13–20 ; 3,1–2 ; Eph 2,6 ). Der Bruch dieses „hochzeitlichen“ Bundes zwischen dem „Männlichen“ und dem „Weiblichen“ oder des „Ein-Fleisch-seins“ (vgl. Gen 2,24 ; Eph 5,30–31 ) durch Mann und Frau führt hingegen zum Verlust des Paradieses oder der Fülle des Lebens. In der Feier der sieben sakramentalen Heilszeichen der katholischen und orthodoxen Kirche, insbesondere in Taufe und Eucharistie sowie in der Ehe als „Ursakrament“ (Johannes Paul II.), sah die Tradition die Heilsmittel, um ins verlorene Paradies zurückzukehren (vgl. schon Lk 23,43 ). Hinzu kommt die geistig-geistliche Disziplin: „Das ist der Sinn aller Askese: die paradiesische Ordnung in Christus wieder zu erneuern.“[5]

Reformation und evangelische Auslegungsgeschichte

Für Martin Luther ist der Sündenfall ein radikaler Bruch zwischen Gott und Mensch. Er sieht in der Erbsünde als völlige Verderbnis, durch die der Mensch ist nicht nur „verletzt“, sondern ganz verdorben („corruptio totalis“) sei. Nach dem Sündenfall könne der Mensch aus eigener Kraft das Gute nicht mehr wollen. Luther sieht die Rechtfertigung „allein aus Gnade“ (sola gratia) als Antwort auf den Sündenfall: Nur durch den Glauben an Christus (sola fide) und durch Gottes Wort wird der Mensch gerecht gesprochen. Die Taufe hat zentrale Bedeutung, weil sie als Zeichen für die Verheißung Gottes gesehen wird, aber sie „tilgt“ nicht die Erbsünde, sondern wirkt nur im Zusammenhang mit dem Glauben.

In der gegenwärtigen protestantischen Theologie steht der Sündenfall symbolisch für die Grunderfahrung menschlicher Entfremdung von Gott. Theologen wie Paul Tillich oder Rudolf Bultmann sprechen von „existentieller Schuld“ oder „Entfremdung des Menschen von seinem wahren Sein“.

Moderne christliche Exegese

In der Exegese wird der Begriff des Sündenfalls heute eher vermieden. Nach dem exegetischen Kommentar von Andreas Schüle ist der Sinn der beiden Bäume in der einen Mitte des Gartens, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, „ein letztlich nicht lösbares Rätsel.“[6]

Katholische Dogmatik

Die katholische Lehre beschreibt den Urzustand (auch „Gnadenstand“ oder „Urstand“), wie der Mensch von Gott geschaffen wurde: in vollkommener Harmonie mit Gott, mit sich selbst, mit den anderen Menschen und mit der Schöpfung. Er war unsterblich, frei von Leid und Tod. Dabei besaß er die Gnade („Urstandsgnade“) und die ursprüngliche Gerechtigkeit als Geschenk Gottes (nicht aus eigener Kraft).

Der Sündenfall beschreibt den ersten Akt des Ungehorsams gegenüber Gott durch Adam und Eva, die sich durch den Einfluss des Teufels (der Versuchung) von Gott abgewendet haben. Der Mensch wollte „sein wie Gott“ ohne Gott. Dieser Akt wird meist als Ungehorsam oder Hochmut akzentuiert. Dadurch wurde die ursprüngliche Gerechtigkeit verloren und die Sünde kam in die Welt. Die Sünde Adams ist eine Tat des Ungehorsams, die aber universelle Folgen hat.

Die Erbsünde ist nicht persönliche Schuld, sondern ein Zustand, in den jeder Mensch (außer Maria) bei der Geburt hineingeboren wird. Er drückt sich im Verlust der heiligmachenden Gnade, der gefallenen menschlichen Natur, der Neigung zur Sünde (Konkupiszenz), der Trennung von Gott, Leid, Tod und innerer Zerrissenheit aus. „Die Übertragung der Erbsünde ist ein Mysterium, das wir nicht ganz verstehen können“, heißt es im Katechismus der katholischen Kirche (KKK 404).

In dem als Protoevangelium bezeichneten Vers „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.“ (Gen 3,15 ) wird ein Hinweis auf den künftigen Retter Jesus Christus gesehen.

Diese Erlösung wird dem Gläubigen insbesondere durch das Sakrament der Taufe zuteil. Die Taufe vergibt die Erbsünde (und persönliche Sünden, wenn vorhanden), schenkt neues Leben in Christus und gibt die heiligmachende Gnade zurück, aber die Neigung zur Sünde (Konkupiszenz) bleibt.

Die Paradiesgeschichte und das Hohelied der Liebe

Kardinal Jean Daniélou schreibt zur Bedeutung des alttestamentlichen Hohelieds der Liebe für die Tauf- und Eucharistiekatechesen der Kirchenväter: „Die Anklänge an das Hohelied [in den Katechesen der Einweihungssakramente] sind unverkennbar: ‚Die Blumen erscheinen‘ (2,12 ), ‚das Öl ist ausgegossen‘ (1,2 ), ‚der König bringt mich in seine Gemächer‘ (1,4 ). Die Katechumenen stehen an der Schwelle des königlichen Gartens, des Paradieses, in dem die Hochzeit stattfinden wird. Schon weht sie Paradiesesluft an. […] Im eucharistischen Einswerden vollendet sich die Agape. Der gleiche Gedanke kehrt bei Theodoret an anderer Stelle wieder; er bezieht den Ausdruck ‚Hochzeitstag‘ [3,11 ] auf die Eucharistie und schreibt: ‚Wenn wir den Leib des Bräutigams essen und sein Blut trinken, gehen wir eine hochzeitliche Verbindung (κοινωνία) mit ihm ein.‘ Das Hohelied gilt also in der gesamten katechetischen Tradition als Vorausdarstellung der christlichen Initiation.“[7]

Im Hohelied ist achtmal vom „(Lust-)Garten“ bzw. „Nussgarten“ die Rede (Hld 4,12–16 ; 5,1 ; 6,2.11 ). Die Nuss ist in der jüdischen Mystik Symbol für die Doppeltheit der Schrift: Die äußere Schale steht für den buchstäblichen Schriftsinn und die innere Frucht für den geistigen Sinn, analog zu Seele und Leib des Menschen. Das Hohelied gilt ihr als positives Gegenstück zur Paradiesgeschichte und als „äußerste Verdichtung, Kern des Kerns“ der ersten Schöpfungsgeschichte, als Melodie der Schöpfung: „Das Verlorengehen der Königin Schulamith muss wie das Verlorengehen der Schöpfung angesehen werden. Die ganze Schöpfung ist [durch den Sündenfall] in der Verbannung verlorengegangen.“ Wenn aber „das Wunder ‚Wort‘“ durchbricht, gilt: „Der König findet die Königin wieder, Salomo findet Schulamith, die Verbindung [des Bundes] kommt zustande, Gott findet die Schöpfung wieder. Und das ist die eigentliche Erschaffung des Menschen“.[8]

Philosophische Interpretationen

Nietzsche

Friedrich Nietzsche gab eine psychohistorische Interpretation des Sündenfalls. In seinem 1874 erschienenem Werk „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ wird der Mensch in einem Gleichnis dem Tier gegenübergestellt. Nietzsche erinnert hier scheinbar beiläufig an die Vertreibung aus dem Paradies, wenn er schreibt: „Den Menschen ergreift es, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Herde oder das Kind zu sehen, das noch nichts vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt.“[9] In seiner Wortwahl stellt Nietzsche das historische Wesen des Menschen, also den Zeitbezug seines Lebensvollzugs, implizit in einen Kontext zur Vertreibung aus dem Paradies. Diesen Wesenszug des Menschen vorausgesetzt, kann das Essen vom Baum der Erkenntnis als Bild für die speziell menschlich erworbene Fähigkeit zur Erkenntnis der Zeitlichkeit und damit der Endlichkeit verstanden werden.[10] Im Gleichnis vom Sündenfall hatte die Schlange dem Menschen vorhergesagt, dass er nicht sterben werde, aber Gut und Böse voneinander unterscheiden könne, wenn er von diesem Baum esse. Entgegen der Ankündigung Gottes jedoch und entsprechend der Ankündigung der Schlange stirbt der Mensch auch nicht nach der Speise, sondern beginnt zu erkennen. Die Ankündigung war jedoch nicht, dass er unmittelbar nach dem Verzehr stirbt. Um aber zu jener Erkenntnis zu gelangen, musste er Ursache und Wirkung, also die Zeitlichkeit (und damit Endlichkeit) allen Lebens sehen können. Die Scham – symbolisiert im Verstecken vor Gott – setzt ein, indem der Mensch aus seinem bisher rein gegenwärtigen Zustand sich der Folgen eigenen – auch seines vorherigen – Handelns bewusst wird. Und auch die Angst des Menschen – ebenfalls verdichtet im Verstecken vor der göttlichen Macht – beginnt im Bewusstsein der eigenen Zeitlichkeit: Bis zur Speise vom Baum der Erkenntnis nämlich hat er nicht von der Sicherheit und Unausweichlichkeit des Todes gewusst. Nun aber ist er das einzige Wesen, das aus dem paradiesischen Zustand der Reduktion auf ein gegenwärtiges Leben gerissen vom sicheren Sterben alles Lebendigen weiß – und also auch dem eigenen Tod. So sind die Menschen auch die einzigen Lebewesen, die aus dem Paradies vertrieben worden sind. Er lebt in „Gottesfurcht“. Die Fähigkeit zur Erkenntnis aber kann der Mensch nicht wieder abgeben, sie vererbt sich von Generation zu Generation weiter: Er ist verurteilt zur Erkenntnis, zum Gewahrwerden dessen, was er tut – und daher in seinen menschlichen Beschränkungen auch zum „Sündigen“. Wenngleich dies im Begriff der „Erbsünde“ eine theologisch intendierte Überhöhung erfährt, so erlebt der Mensch hierin wie in seiner begrenzten Macht doch die unbedingten Unterschiede zu dem, was das abrahamitische Gottesbild ausmacht. Jedes Aufbegehren gegen seine Begrenzung, indem er etwa sein Bemühen um die Erkenntnis der weltlichen Zusammenhänge weiter verstärkt und seine Eigenmächtigkeit erhöht, scheint vor dem Hintergrund des „Sündenfalls“ indes nicht die Erlösung von seiner Last, sondern sein fortschreitendes Verderben zu sein. In dieser Interpretation wird die biblische Geschichte zum Gleichnis über das Wesen des Menschen, der in die gottähnliche Fähigkeit zur Erkenntnis verliebt an dieser wieder und wieder sein Glück versucht und doch auch scheitert. Wenn der Mensch so in seinem Wesen als „sündig“, nämlich irrend verstanden werden kann, kommt diese Deutung dem Verständnis in den reformierten Kirchen dahingehend nahe, dass diese den Begriff der Sünde weniger auf die einzelne Fehlhandlung als auf das Wesen des Menschen beziehen. Zwar weichen die Deutungen des Sündenfalls in den verschiedenen christlichen Traditionen teilweise sehr von dieser Interpretation (und voneinander) ab. Da das beschriebene Verständnis des Sündenfalls aber auch verdeutlichen kann, dass im menschlichen Selbstbild seine unüberwindbare Trennung und Entfernung zu Gott deutlich wird, steht diese Interpretation trotz ihrer eher weltlichen Intention doch wiederum einem christlichen Grundverständnis des Gleichnisses nah. Gerade in der Frage der Trennung oder Entfernung zu Gott allerdings wird die Problematik des Gottesbegriffes deutlich, die sich in den sehr verschiedenen Auffassungen der abrahamitischen Religionen und Konfessionen versinnbildlicht. Das Gleichnis vom Sündenfall stellt in dieser Deutung auch für den agnostischen Leser eine zentrale Bibelstelle dar, wenn darin ein Symbol für die Unmöglichkeit einer umfassenderen menschlichen Erkenntnis Gottes ebenso deutlich wird wie die Sehnsucht nach seiner Existenz.

Psychologische Deutungen

Auch die Psychologie hat diese Bibelstellen untersucht und eigene Deutungen gefunden, etwa im Zusammenhang mit dem tiefenpsychologischen Konzept des Archetyps vom Baum.

Rezeption in der Kunst

Der „Sündenfall“ ist das bedeutendste Thema des Adam-Eva-Zyklus in der darstellenden Kunst. Sie bietet reiches Symbolpotential (Nacktheit, Schuld, Versuchung, Rebellion, Erkenntnis, Vertreibung, Geschlechterrollen) und ist deshalb über Jahrhunderte hinweg in verschiedensten Stilen interpretiert worden.

Zu den bekanntesten Darstellungen gehören die „Vertreibung aus dem Paradies“ (1425) von Masaccio aus der Frührenaissance und Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle.

Jüdische Auslegung

Die jüdische Auslegung von Genesis 3 unterscheidet sich deutlich von der christlichen, denn ihr sind die Konzepte von Erbsünde und Sündenfall fremd. Grundsätzlich betont werden Freiheit und Verantwortung des Menschen, zwischen Gut und Böse zu wählen.

Manche rabbinischen Auslegungen sehen den „Sündenfall“ als eine Art notwendige Entwicklung oder Reifungsschritt. Vor dem Essen vom Baum lebten die Menschen wie Kinder – unschuldig, aber auch ohne Verantwortung; durch das Essen vom Baum der Erkenntnis werden sie erwachsen, d. h. fähig zu moralischem Bewusstsein und Entscheidung.

Die Schlange wird oft als Symbol für den Yetzer hara (den „schlechten Trieb“) gedeutet – ein innerer Antrieb, der zu egoistischen oder fehlerhaften Entscheidungen führen kann. Aber auch der Yetzer Hara ist nicht per se böse – er gehört zur menschlichen Natur und wird im Judentum als notwendig gesehen (z. B. für Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Ehrgeiz etc.), solange er kontrolliert wird. Die „Vertreibung“ aus dem Garten Eden wird nicht unbedingt als „Strafe“, sondern eher als Konsequenz und Beginn des menschlichen Lebens in der realen Welt gesehen. Es ist der Übergang vom geschützten Zustand zur Lebenswirklichkeit mit Arbeit, Verantwortung, Schmerz und Tod – also zum „erwachsenen“ Menschsein. Zugleich bedarf er der Teschuwa („Umkehr“), die Teil des religiösen und rituellen Lebens im Judentum ist.

Evolutionsbiologische Interpretation

Der Orang-Utan-Forscher Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel deuten 2016 die Bibel als Tagebuch der evolutionsbiologischen Menschheitsentwicklung.[11] Dabei messen sie der neolithischen Revolution eine grundlegende Bedeutung zu: Dieser Übergang von nomadischen Jäger- und Sammlergruppen zur Sesshaftigkeit, verbunden mit den Anfängen der Landwirtschaft und Viehhaltung, brachte das Eigentumsprinzip hervor (vergleiche Eigentumstheorien). Van Schaik und Michel beschreiben den Sündenfall als erstes Eigentumsdelikt: „Gott hatte im Paradies nur ein Gebot erlassen: ‚Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen.‘ Es ist doch bezeichnend, dass gerade ein Vergehen am Eigentum als Ursünde präsentiert wird. Bei den Jägern und Sammlern gehörte ein Baum dem, der von ihm isst. Eigentum ist eine Folge der Sesshaftigkeit.“[12]

Gemäß dieser Bibelinterpretation bestand der eigentliche Sündenfall im Sesshaftwerden der Menschen. Weil es sich dabei aber um einen evolutionsbiologischen Entwicklungsschritt handelte, würden „alle Deutungen, welche die Moral ins Spiel bringen, hinfällig“.[13]

Literatur

  • Klaus W. Hälbig: Der Baum des Lebens; Kreuz und Thora in mystischer Deutung. Würzburg 2011, ISBN 978-3-429-03395-8.
  • Willibald Sandler: Der verbotene Baum des Paradieses. Was es mit dem Sündenfall auf sich hat. Kevelaer 2009, ISBN 978-3-8367-0689-6.
  • Friedrich Weinreb: Schöpfung im Wort. Die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung. Zürich, 2002; bes. S. 331–401 (Die Erzählung von den zwei Bäumen), ISBN 3-88411-028-4.
Commons: Sündenfall – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Sündenfall – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Andreas Knapp, Melanie Wolfers: Glaube, der nach Freiheit schmeckt. Pattloch, München 2009, ISBN 978-3-629-02227-1, S. 70.
  2. Augustinus. De civitate Dei XIV,26.
  3. Volker Spierling. Ungeheuer ist der Mensch. Eine Geschichte der Ethik von Sokrates bis Adorno. München: Beck 2017, S. 107
  4. Bonaventura: Hexaemeron, lat.-dt. Ausgabe, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Nyssen; München 1964; XIX,7.
  5. Friedrich Wulf: Geistliches Leben in der heutigen Welt. Geschichte und Übung der christlichen Frömmigkeit; Freiburg u. a. 1960; S. 18–33 (Das verlorene und wiedergewonnene Paradies), hier S. 30.
  6. Andreas Schüle: Die Urgeschichte (Genesis 1–11). Theologischer Verlag, Zürich 2009, ISBN 978-3-290-17527-6, S. 62.
  7. Jean Daniélou: Liturgie und Bibel. Die Symbolik der Sakramente bei den Kirchenvätern; München 1963; S. 193–208: Das Hohelied, hier S. 195f.
  8. Friedrich Weinreb: Das Opfer in der Bibel. Näherkommen zu Gott; Zürich 2010; ISBN 978-3-905783-66-7; S. 183, 305 f.
  9. Nietzsche, F.: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart: Reclam, 1980
  10. Eirund, Wolfgang: Der Tod des Lebens: Selbsterkenntnis als Sündenfall. Nr. 1/2012. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik IZPP, 2012 (Izpp.de [PDF; 301 kB]).
  11. Carel van Schaik und Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt, Reinbek 2016, ISBN 978-3-498-06216-3.
  12. Carel van Schaik, interviewt von Holger Fröhlich: Vertrieben aus dem Paradies. In: Die Zeit. 15. August 2018, abgerufen am 30. März 2020.
  13. Clemens Klünemann: Die Menschwerdung Gottes beginnt im Holozän. In: NZZ.ch. 21. Dezember 2016, abgerufen am 30. März 2020.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Kirche San Michele de Murato, Korsika - Der Sündenfall (die Schlange reicht Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis).jpg
Autor/Urheber: Dnalor 01, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Kirche San Michele de Murato, Korsika - Der Sündenfall (die Schlange reicht Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis)