Reizüberflutung

Reizüberflutung ist in umgangssprachlichem Gebrauch eine Metapher für einen Zustand des Körpers, in dem dieser durch die Sinne so viele Reize gleichzeitig aufnimmt, dass sie nicht mehr erarbeitet werden können und beim Betroffenen zu einer psychischen Überforderung führen. Im medizinischen Kontext wird bisweilen auch im deutschen Sprachraum der englische Begriff (sensory) overload verwendet.

Diese Überforderung des (menschlichen) Organismus bzw. Nervensystems durch Sinneseindrücke betrifft die Sinne (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten) einzeln, in Kombination, für einen kurzen Zeitraum und auch langfristig.

Ursachen

Als Auslöser einer Reizüberflutung für den Menschen in der modernen Welt gelten vor allem akustische und visuelle Wahrnehmungen.

Im Einzelnen können das folgende Situationen sein:

  • Lärm und mehrere gleichzeitige akustische Quellen
  • Vielzahl von Farben, blinkende Lichter, schnelle Bewegungen (z. B. in einer Diskothek)
  • Reizüberflutung kann auch bei einem bunt gemischten Essen auftreten, das die Geschmacksrichtungen süß, sauer, bitter, salzig und umami zugleich enthält, sodass die Geschmacksrichtungen nicht mehr einzeln empfunden und zugeordnet werden können.

Durch Drogen – insbesondere aus der Gruppe der Psychedelika und Dissoziativa – kann die Situation verstärkt werden.

Folgen

Reizüberflutung kann kurzfristig zu Stress, Hektik, aggressiven Reaktionen und schneller Erschöpfung führen. Vor allem Schizophrene, aber auch Hochsensible Persönlichkeiten (HSP) sowie von Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Betroffene reagieren dabei besonders stark. Anhaltende Reizüberflutung kann dauerhafte Konzentrationsschwierigkeiten, Realitätsverlust oder Hyperaktivität bewirken und stellt eine mögliche Ursache für Lernschwächen dar.[1] Moderne Lebensweisen, insbesondere die allgegenwärtige Nutzung des Internets und anderer moderner Medien, bringen nach Ansicht mancher eine chronische Reizüberflutung mit sich und führen bei vielen Menschen zu den typischen Störungsbildern.[2]

Folgen bei Autismus-Spektrum-Störung

Als Overload wird ein häufiges Symptom bei einer Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet. Betroffene reagieren meist – wenn nichts gegen den Overload unternommen wird – mit einem Meltdown, der in einen Shutdown münden kann.[3][4][5]

Bei einem Meltdown kommt es zu einer Affekthandlung, meist in Form eines starken Wutausbruchs,[5] welcher wenige Sekunden bis einige Minuten andauern und für Außenstehende irrational wirken kann. Vor allem jüngere Menschen haben eher einen Meltdown als einen Shutdown. Symptome sind lautes Schreien bis hin zu körperlicher Gewalt.[3][6]

Ein Shutdown tritt entweder als Folge eines Meltdowns auf oder ist die direkte Folge eines Overload, letzteres ist vor allem bei Erwachsenen der Fall. Der Körper des Betroffenen versucht die Reize auszugleichen, was zu einer vorübergehenden Minderung oder sogar einem völligen Verlust bestimmter Sinneswahrnehmungen führt. Meist sind das Sehen (verschwommene Sicht) und Sprechen (partieller oder vollständiger Mutismus) betroffen.[5][6][7] In der Regel versuchen sich Betroffene bei einem Shutdown vollständig zurückzuziehen. Sie kneifen beispielsweise die Augen zusammen, halten sich die Ohren zu, legen sich in Embryonalhaltung auf den Boden, oder wippen im Sitzen nervös herum. Ein Shutdown hält mehrere Minuten an, kann aber auch bestehen bleiben, bis der Zustand des Overload beendet ist.[6][7]

Eine Studie konnte zeigen, dass sich einige autistische Kinder im Gegensatz zu nicht-autistischen Kindern nicht an Reize gewöhnen. Daher ist für sie eine Konfrontationstherapie nicht geeignet, die Gefahr für Reizüberflutung und damit das Erleben von Meltdowns und Shutdowns zu reduzieren.[8][9]

Begriffsverwendung in der philosophischen Anthropologie

In der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens bezeichnet „Reizüberflutung“ eine spezifische Eigenschaft des Menschen, den Gehlen als „Mängelwesen“ beschreibt: Anders als Tieren ermangle dem Menschen insbesondere ein angeborener Mechanismus, um äußere und innere Reize zu filtern und zu verarbeiten und die Weltsicht zu vereindeutigen. Die Folge ist eine „Reizüberflutung“ und gleichzeitig, durch das Fehlen eines angeborenen Automatismus der Bedürfnisbefriedigung, ein „Antriebsüberschuss“. Beides führe zu einer „konstitutionellen Riskiertheit des Menschen“.[10] An die Stelle angeborener Mechanismen trete insbesondere zum Lebensanfang die soziale Kulturwelt.

Sonstiges

In der Verhaltenstherapie wird im Rahmen konfrontativer Verfahren eine gezielte Reizüberflutung (Flooding) als psychotherapeutisches Mittel eingesetzt, um beispielsweise phobische Störungen zu behandeln. Hierbei wird der Klient nach Vorbereitung starken angstauslösenden Reizen ausgesetzt. Er lernt hierbei, die beängstigende Situation auszuhalten.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Reizüberflutung: Wie Kinder zum Zappelphilipp werden in: Der Spiegel vom 3. August 2009.
  2. Alex Rühle: Reizüberflutung: Verblöden wir? (Memento vom 6. April 2010 im Internet Archive) in: Süddeutsche Zeitung vom 23. Juli 2008.
  3. a b Meltdowns – a guide for all audiences. National Autistic Society, 14. August 2020, abgerufen am 15. April 2023 (englisch).
  4. Lisa Habermann, Christian Kißler: Von der Überlastung zum „Wutausbruch“. In: Das autistische Spektrum aus wissenschaftlicher, therapeutischer und autistischer Perspektive. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-658-37601-7, S. 61–70, doi:10.1007/978-3-658-37602-4_3.
  5. a b c Ludger Tebartz van Elst: Die hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter – Symptomatik und Klassifikation. In: Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.): Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. 3., aktualisierte und erweiterte Neuauflage, revidierte Ausgabe Auflage. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2021, ISBN 978-3-95466-645-4, Kap. 3, S. 35.
  6. a b c Jasmine Phung, Melanie Penner, Clémentine Pirlot, Christie Welch: What I Wish You Knew: Insights on Burnout, Inertia, Meltdown, and Shutdown From Autistic Youth. In: Frontiers in Psychology. Band 12, 2021, doi:10.3389/fpsyg.2021.741421, PMID 34803822, PMC 8595127 (freier Volltext).
  7. a b Ben Belek: Articulating Sensory Sensitivity: From Bodies with Autism to Autistic Bodies. In: Medical Anthropology. Band 38, Nr. 1, 2. Januar 2019, S. 30–43, doi:10.1080/01459740.2018.1460750.
  8. Nicholette Zeliadt: Sensory overload in autism may stem from hypervigilant brain. In: Spectrum. Simons Foundation, 29. Juli 2019, abgerufen am 15. April 2023 (amerikanisches Englisch).
  9. Shulamite A. Green, Leanna Hernandez, Katherine E. Lawrence, Janelle Liu, Tawny Tsang, Jillian Yeargin, Kaitlin Cummings, Elizabeth Laugeson, Mirella Dapretto, Susan Y. Bookheimer: Distinct Patterns of Neural Habituation and Generalization in Children and Adolescents With Autism With Low and High Sensory Overresponsivity. In: American Journal of Psychiatry. Band 176, Nr. 12, 1. Dezember 2019, S. 1010–1020, doi:10.1176/appi.ajp.2019.18121333, PMID 31230465, PMC 6889004 (freier Volltext).
  10. Vgl. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Auflage. Wiesbaden 1986, 60.