Reaktion (Politik)

Reaktion bezeichnet die gegenrevolutionäre Bewegung. Im historischen Sinne umfasst der Begriff die ideologischen Gegner der Aufklärung, darunter die politischen Denker Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Joseph de Maistre, Juan Donoso Cortés und Nicolás Gómez Dávila. Als Monarchisten strebten sie die Wiederherstellung des Zustandes vor der französischen Revolution an. Die Verteidiger des Ancien Régime ordneten die Revolution und ihre Wirkung als Katastrophe abseits des erwartbaren Geschehens ein, deren Schäden beseitigt werden müssen.

Als Kampfbegriff besitzt der Begriff einen abwertenden Charakter. Anhänger des Fortschritts beschreiben sie als die „Gesamtheit der fortschrittsfeindlichen politischen Kräfte im Staat (Klassen, Schichten, Parteien, Personen oder Bewegungen)“[1]

Begriffsgeschichte

Als Begriff der Politik wurde „Reaktion“ von Montesquieu eingeführt. Montesquieu zufolge entwickeln sich politische Prozesse im Wechselspiel von Aktion und Reaktion der politisch Handelnden („l’action des unes et la réaction des autres“).[2] Auf eine Aktion folge, so Montesquieu, stets eine Reaktion („l’action est toujours suivie d’une réaction“).[3] In Montesquieus Sprachgebrauch ist „Reaktion“ demgemäß nicht auf ein bestimmtes politisches Lager bezogen und ohne jede Wertung.[4]

Weite Verbreitung und eine spezifische Bedeutung als Gegenbegriff zu „fortschrittlich“ und „revolutionär“ fand der Begriff „Reaktion“ (französisch réaction) während der Französischen Revolution ab 1789.

Im 19. Jahrhundert wurde „Reaktion“ zum Sammelbegriff für eine reformistische Widerstandsbewegung aus zunächst Adeligen, Klerikalen und bürgerlichen Monarchisten, die sich gegen die Jakobiner positionierten und gegen die von den Revolutionären initiierten Veränderungen stellten, sowie die Rückkehr des Ancien Régimes anstrebten. Die (behauptete) Rückwärtsgewandtheit setzt dabei eine lineare Geschichtsbetrachtung im Sinne des Fortschritts voraus. Was Fortschritt sei, ist in der Politik strittig, und insofern enthält die Bezeichnung „Reaktion“ eine subjektive Wertung.

Als zentrale Theoretiker reaktionärer Ideen im 19. Jahrhundert gelten laut Herfried Münkler vor allem Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Joseph de Maistre und Donoso Cortes.[5]

In der Zeit der deutschen Restauration (1815–1830) entwickelte sich auch in Teilen der „Reaktion“, aus dem Biedermeier heraus, zunehmend der Wunsch nach dem Beibehalten von liebgewonnenen Grundfreiheiten, sowie dem Streben nach nationaler Selbstbestimmung und damit gegen das Metternichsche System, welches die Veränderungen durch die Französische Revolution komplett zurückdrängen wollte und sich in der Kleinstaaterei verlor. Die Europäischen Revolutionen 1848/1849 waren ein bedeutender Wendepunkt der europäischen Geschichte und Teil eines Prozesses, dem schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Staaten Europas ein übersteigerter Nationalismus und in weltweitem Maßstab das Zeitalter des Imperialismus folgte. Die freiheitliche „Reaktion“ bildete hierbei die bürgerliche Mitte zwischen dem hochadeligen bis großbourgeoisen Chauvinismus und dem libertinistischen Sozialismus in der Arbeiterbewegung; dieser geschichtliche Zeitraum wird Reaktionsära genannt.

Der Kulturphilosoph Julius Evola konnte in den 1930er Jahren dem Begriff „Reaktion“ positive Seiten abgewinnen: „Nach unserer Überzeugung ist eine wahre Reaktion gegen den liberalistischen Verfall nur auf der Grundlage der traditionellen Grundsätze von Hierarchie, Aristokratie und Königtum möglich.“

In Auseinandersetzungen innerhalb weltanschaulicher Strömungen, so zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten oder zwischen Trotzkisten und Stalinisten, wurde die Bezeichnung auf den politischen Gegner übertragen, um ihn als Feind zu markieren.

Die Vertreter des Nationalsozialismus rechneten ihre Gegner entweder der kommunistischen „Rotfront“ (KPD, linke SPD usw.) oder der freiheitlich-wertkonservativen „Reaktion“ (Bekennende Kirche, Weiße Rose, Deutscher Widerstand usw.) zu. Im Horst-Wessel-Lied haben sie ihre getöteten „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen“ zum Kult erhoben.

In den realsozialistischen Staaten wurden die westlichen Demokratien u. a. als „faschistisch“ und „reaktionär“ diffamiert.

Der kolumbianische Philosoph und Privatgelehrte Nicolás Gómez Dávila bezeichnete sich selbst als Reaktionär, wobei er diesem Begriff eine eigene Bedeutung zugrunde legt. So sei der Reaktionär nicht darauf aus, die Vergangenheit wiederherzustellen, sondern ewige Wahrheiten, die in der Moderne unbekannt seien, zu erinnern: „Der Reaktionär ist nicht der nostalgische Träumer abgeschaffter Vergangenheiten, sondern der Jäger heiliger Schatten auf den ewigen Hügeln“.[6]

In neuerer Zeit werden vor allem Vertreter der sogenannten Neuen Rechten und des Rechtspopulismus von ihren meist links-gerichteten Gegnern als „reaktionär“ betitelt. Reaktionäre Entwicklungen, die wiederum gegen die 68er-Bewegung und die durch sie ausgelösten Veränderungen gerichtet sind, werden als Backlash bezeichnet. Anfang der 2000er Jahre entstand im Internet die sogenannte Neoreaktionäre Bewegung, welche Einfluss auf rechtslibertäre und rechtskonservative Kreise in den Vereinigten Staaten nahm.[7][8]

Quellen

  • Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald: Essay sur les moeurs et l’esprit des nations. 1796.
  • Joseph de Maistre: Essai sur le principe générateur des constitutions politiques. 1814.
  • Joseph de Maistre: Soirées de Saint-Pétersbourg. Librairie Grecque, Latine et Française, Paris 1821.
  • Joseph de Maistre: Du Pape. Suivi de l’Église gallicane dans son rapport avec le Soverain Pontife. Société National, Brüssel 1838.
  • Juan Donoso Cortés: Ensayo sobre el catholicismo, el liberalismo y el socialism. La Publicidad, Madrid 1851.
  • Nicolás Gómez Dávila: Notas. Edición privada, México 1954.
  • Erik von Kuehnelt-Leddihn: Demokratie. Eine Analyse. Leopold Stocker Verlag, Graz 1996.

Literatur

  • Bondy, Beatrice: Die reaktionäre Utopie: das politische Denken von Joseph de Maistre. Köln 1982.
  • Cioran, Emil: Essai sur la pensée réactionnaire. A propos de Joseph de Maistre. Montpellier 1957.
  • Ziegler, Robert Hugo: Kritik des reaktionären Denkens. Bielefeld: 2024, ISBN 978-3-8376-6979-4.
  • Lilla, Mark: The Shipwrecked Mind: On Political Reaction. New York Review Books, New York 2017, ISBN 1-59017-902-1.

Weblinks

Wiktionary: Reaktion – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Gerhard Strauß u. a.: Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Bd. 2). Gruyter, Berlin/ New York 1989, S. 335.
  2. Montesquieu: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Kapitel 9. In: Œuvres Complètes. Firmin Didot Frères, Paris 1846, S. 148.
  3. Montesquieu: De L’esprit des Loix, 5. Buch, Kapitel 1. In: Œuvres Complètes. Firmin Didot Frères, Paris 1846, S. 210.
  4. Raymonde Monnier: Un mot nouveau en politique: «réaction » sous Thermidor. In: Equipe „18ème et Révolution“ (Hrsg.): Dictionnaire des usages socio-politiques (1770–1815): Notions pratiques. ENS Éditions, Paris 1999, S. 127–156, darin das Kapitel «Réaction », histoire de la notion avant la Révolution, S. 128–132, hier S. 130.
  5. Herfried Münkler: Politische Ideengeschichte und moderne politische Theorie: ein einführender Überblick. in: Manfred G. Schmidt et al. (Hrsg.): Studienbuch Politikwissenschaft. Springer Verlag 2013, ISBN 978-3-531-18986-4, S. 21–48, hier S. 36.
  6. Nicolás Gómez Dávila: Texte und andere Schriften. Karolinger Verlag, Leipzig, Wien 2018, ISBN 978-3-85418-181-1, S. 167.
  7. Geeks for Monarchy: The Rise of the Neoreactionaries. In: TechCrunch. Abgerufen am 31. Oktober 2021 (amerikanisches Englisch).
  8. Curtis Yarvin schools Tucker in 'neoreaction'. Abgerufen am 31. Oktober 2021 (britisches Englisch).