Produktentstehungsprozess

Der Produktentstehungsprozess (PEP) ist in Unternehmen ein Geschäftsprozess, der die Arbeitsabläufe von der Idee für ein neues Produkt oder einer neuen Dienstleistung bis zu deren Produktion und Vertrieb umfasst. Der Begriff beruht auf dem Gedanken des Geschäftsprozessmanagements und wird insbesondere im Umfeld der Automobilproduktion verwendet.

Dem PEP vorgelagert sind Grundlagen- und Anwendungsforschung; nachgelagert ist der Produktentsorgungsprozess.[1]

Teilprozesse

Die Teilprozesse bzw. auch Phasen des PEP können unterschiedlich aufgefasst werden.

Erweiterter Produktentstehungsprozess

Dieser Erklärungsansatz geht davon aus, dass der Produktentstehungsprozess in die drei Teilprozesse Produktentwicklung im weiteren Sinne, Produktionsplanung und Produktion unterteilt. Eine Erweiterung wird dahingehend vorgenommen, als dass der Service und die Instandhaltung mit integriert werden.[2][3][4][5][6]

Die einzelnen Teilprozesse beinhalten dabei die folgenden Prozessschritte:

  • Die Produktentstehung betrachtet abgrenzend zur Innovation keine marktlichen Aspekte. In ihr sind insbesondere die Produktplanung, die Produktentwicklung im engeren Sinne und Konstruktionsaktivitäten enthalten.[7]
  • In der Produktionsplanung sind die Aktivitäten zur Anlaufsteuerung bis zum Beginn der Serienfertigung zu verstehen. Die Produkteigenschaften sind dabei von besonderer Bedeutung für die Planung.[8]
  • Die in der Produktentwicklung zunächst nur modellhaft festgelegten Produkteigenschaften werden in der Produktion schließlich in materielle umgesetzt. Die Produktion beinhaltet in diesem Ansatz die Phasen Pilotserie, Produktionshochlauf und Serie.[9]
  • Durch die gestiegene Verantwortung für das Recycling bzw. die Entsorgung eines Produktes hat dieser Aspekt bei der Produktdefinition an Bedeutung gewonnen.[10]

Weitere Ansätze

3-Zyklen-Modell

Der PEP kann aufbauend auf dem erweiterten PEP in drei Phasen untergliedert werden, die ihrerseits mehrfach in Schleifen durchlaufen werden können. Die erste Phase wird Strategische Produktplanung genannt und dient der Definition erfolgversprechender Produktkonzeptionen. Erfolgversprechend meint hiermit technisch machbar, wirtschaftlich herstellbar und in die Unternehmensstrategie passend. Die einzelnen Phasen können parallel ablaufen.[11]

Der zweite Teilprozess umfasst die eigentliche Produktentwicklung. Aus dem Konzept wird dabei eine konkrete Konstruktion erarbeitet und ggf. durch elektronische Komponenten und Software ergänzt. Ergebnis ist ein voll funktionsfähiger Prototyp und ein Fertigungskonzept.

Im dritten Teilprozess, der so genannten Prozessentwicklung erfolgt die Fertigungsplanung, der Aufbau der Produktions-Infrastruktur, der Serienanlauf und schließlich die Serienproduktion. Hierbei werden die Fertigungsschritte festgelegt und die dafür benötigten Fertigungsmittel bereitgestellt und für die Produktion vorbereitet.

Produktdefinitionsprozess (PDP) im PEP und PP

Die Abbildung zeigt, wie Produktprozess, Produktdefinitionsprozess (PDP) und Produktentstehungsprozess zusammenhängen. Der gesamte Prozess von der Ermittlung der Marktanforderungen bis zur Produktabsteuerung ist der Produktprozess (PP). Er beginnt mit dem Produktdefinitionsprozess. Der PDP ist die Phase von der Ermittlung der marktseitigen Kundenbedürfnisse, der Formulierung von Produktideen, deren Vorauswahl, Speicherung, Filterung und Überführung in Produktvorschläge sowie schließlich Lastenhefte. Hier beginnt nun beim PEP Meilenstein (im Bsp. T1) der bereits definierte Produktentstehungsprozess doch ist die Phase der Produktdefinition noch nicht abgeschlossen. Auch der Schritt vom Lastenheft zum Pflichtenheft bis zum PEP Meilenstein (hier T2) dem Entwicklungsauftrag gehört noch zum PDP, so dass sich die Prozesse um diesen Bereich überschneiden bzw. ineinander übergehen. Besondere Rücksicht wird darauf gelegt, dass die Schnittstellen der Prozesse harmonisch ineinandergreifen.

Lebenszyklus-orientierte Ansätze

Weiterhin existieren Ansätze, die den Produktlebenszyklus betrachten. In diesen Ansätzen werden ausgehend vom Produktlebenszyklus weitere phaseninterdependente Entscheidungen berücksichtigt.[12]

Branchenspezifische Ansätze

Vor allem in anderen Branchen als der Automobilindustrie gibt es zudem weitere Modelle zur Beschreibung des PEP:

Steuerungskonzepte

Wegen der hohen Komplexität moderner Produktentstehungsprojekte werden häufig Meilensteine definiert. Durch die Meilensteine wird der Gesamtprozess in Teilprozesse unterteilt. Das Erreichen eines nächsten Teilschrittes hängt dabei von Erreichen zuvor definierter Kriterien ab.[15] In diesem Zusammenhang wird häufig auch von "Gateways" gesprochen. Eine Visualisierung kann über "Ampelschaltungen" vorgenommen werden, wodurch Handlungsbedarfe bei Abweichungen vom Soll-Zustand aufgezeigt werden können.[16]

Weitere Steuerungskonzepte nach Horst Wildemann sind die Schnittstellenanalyse und die Reifegradbewertung.[16]

Ausprägungsformen

Simultaneous Engineering

Im Simultaneous Engineering wird durch eine Parallelisierung eine effiziente Gestaltung des PEP erreicht. Insbesondere zeitliche Einsparungspotenziale entstehen hierdurch. Wesentliche Herausforderung für eine derartige Gestaltung sind ein erhöhter Informationsaustausch sowie besondere Fähigkeiten des Projektmanagements. Die Prozesse laufen dabei funktionsübergreifend ab. So arbeiten z. B. Mitarbeiter aus der Entwicklung mit Mitarbeitern der Produktionsplanung zusammen.[17][18][8]

Digitale Produktentstehung

Mit der zunehmenden Digitalisierung der Werkzeuge und Methoden des PEPs werden die physischen Prototypen weitgehend durch digitale Prototypen ersetzt. Die digitale Prozessunterstützung ist ebenfalls wesentlicher Bestandteil dieses Ansatzes.[19] Hierbei leisten klassische ERP-Systeme nur beschränkt Hilfe, um die Produktentstehung in einen generischen Prozess des Produktlebenszyklusses zu integrieren. Es ist daher sinnvoll, hier statt des Softwareprozesses stärker die Informationshoheit durch Modellbasiertes Systems Engineering zu betrachten, über die ein Produktentwickler dann die Hoheitsrechte hat. Informationshoheit meint die Verantwortung für Vollständigkeit und Richtigkeit Produktmodells.[20]

Die digitale Produktentstehung kann dabei auf zwei verschiedene Weisen angesehen werden:

  • Die rechnergestützte Produktentstehung mit einem physischen Endprodukt durch Modellierung. Dieser Ansatz wird auch mit dem Computer-integrated manufacturing (CIM) verfolgt.[21][22]
  • Die digitale Fabrik ist die durchgängige EDV-Begleitung und -Abbildung des PEPs.[23] Insbesondere in der Automobilindustrie wird dieser Ansatz intensiv untersucht und eingesetzt.[24]

Literatur

  • D. Schacher: Prozesse und virtuelle Techniken im globalen Unternehmen. In: Virtuelle Produktentstehung in der Fahrzeugtechnik: Tagung Berlin, 9. und 19. September, 1999. In: VDI-Berichte. 1489, Berlin 1999.
  • H.-J. Bullinger, A. Bröcker, F. Wagner: Die verteilte Produktentwicklung im Zusammenhang von DMU, VR und EDMS. In: Informationsverarbeitung in der Konstruktion ’99 – Beschleunigung der Produktentwicklung durch EDM/ PDM- und Feature-Technologie: Tagung München, 19./20. Oktober, 1999. In: VDI-Berichte. 1497, Düsseldorf 1999, S. 3–24.
  • H. Ziegler: Virtuelle Realität: Neue Werkzeuge im Umgang mit digitalen Prototypen,. In: Virtuelle Produktentstehung in der Fahrzeugtechnik: Tagung Berlin, 9. und 19. September, 1999. In: VDI-Berichte. 1489, Berlin 1999.
  • Arno Langbehn: Praxishandbuch Produktentwicklung. Campus Verlag, Frankfurt / New York 2010, ISBN 978-3-593-39201-1.

Einzelnachweise

  1. Walter J. Ohms: Management des Produktentstehungsprozesses: Handlungsorientierte Erfolgsfaktorenforschung im Rahmen einer empirischen Studie in der Elektronikindustrie, Vahlen/München, 2000; ISBN 978-3-8006-2579-6
  2. Uwe Bracht: Ansätze und Methoden der Digitalen Fabrik. Clausthal, 2002, S. 3.
  3. Jörg Risse: Time-to-Market-Management in der Automobilindustrie, 2002, S. 4.
  4. Helmut Baumgarten/Jörg Risse: Verkürzung der Time-to-Market, Logistikbasiertes Management des Produktentstehungsprozesses, 2006, S. 2.
  5. Josef Schöttner: Produktdatenmanagement – Werkbank für das digitale Produkt. 2000, S. 1.
  6. Hans Siegwart: Produktentwicklung in der industriellen Unternehmung. Haupt, Berlin/Stuttgart 1974, ISBN 978-3-258-01271-1, S. 78.
  7. Klaus Ehrlenspiel: Integrierte Produktentwicklung: Denkabläufe Methodeneinsatz Zusammenarbeit. 2., überarb. Auflage. München, 2003, S. 226.
  8. a b Hans Corsten: Zeitmanagement auf der Grundlage von Simultaneous Engineering. In: Hans Corsten (Hrsg.): Schriften zum Produktionsmanagement. Lehrstuhl für Produktionswirtschaft. Nr. 15. Kaiserslautern, 1997, S. 24f.
  9. Klaus Ehrlenspiel: Integrierte Produktentwicklung: Denkabläufe Methodeneinsatz Zusammenarbeit. 2., überarb. Auflage. München, 2003, S. 146.
  10. Klaus Ehrlenspiel: Integrierte Produktentwicklung: Denkabläufe Methodeneinsatz Zusammenarbeit. 2., überarb. Auflage. München, 2003, S. 146f.
  11. Jürgen Gausemeier/Peter Ebbesmeyer/Ferdinand Kallmeyer: Produktinnovation: strategische Planung und Entwicklung der Produkte von morgen. München, 2001, S. 44f.
  12. K. J. Zink/D. B. Eberhard: Lifecycle Oriented Product Management and Integration of Human Factors. In: IVSS-Sektion Forschung (Hrsg.): Integration des Faktors Mensch in die Planung von Arbeitssystemen: Basis für ein erfolgreiches Unternehmen. Internationales Kolloquium. Nice, France, 1-3 Mars, 2006.
  13. Andreas Spillner: Das W-Modell – Testen als paralleler Prozess zum Software-Entwicklungsprozess TAV 16-Treffen der GI-Fachgruppe „Test, Analyse und Verifikation von Software“, Elmshorn, 15.-16. Februar. 2001, S. 1.
  14. a b c Darian W. Unger: Product Development Process Design: Improving Development Response to Market, Technical, and Regulatory Risks. Dissertation MIT, Boston 2003. (online) (Memento vom 12. Juni 2004 im Internet Archive)
  15. F.-L. Krause/T. Tang/U. Ahle: Systementwicklungen für die integrierte Virtuelle Produktentstehung. In: Informationsverarbeitung in der Konstruktion ’99 – Beschleunigung der Produktentwicklung durch EDM/ PDM- und Feature-Technologie: Tagung München, 19./20. Oktober, 1999. In: VDI-Berichte. 1497, Düsseldorf 1999, S. 83.
  16. a b Horst Wildemann: Instrumente zur Anlaufoptimierung in komplexen Wertschöpfungsketten. In: ZWF. Jg. 99, Nr. 9, 2004, S. 458f.
  17. Ralf Reichwald: Entwicklungszeiten als wettbewerbsentscheidener Faktor für den langfristigen Erfolg eines Industriebetriebes. In: Ralf Reichwald/H.ermann J. Schmelzer (Hrsg.): Durchlaufzeiten in der Entwicklung: Praxis des industriellen F&E-Managements. München, 1990, S. 20.
  18. Michael Hoffmann: Integratives Konstruktionssystem für die kooperative, verteilte Produktentwicklung in multimedialen Konstruktionskonferenzen: Ein Beitrag zum Simultaneous Engineering, VDI-Verlag, 2000, S. 45; ISBN 9783183310203
  19. E. Frieling/P. Gall/D. Hennings: Bedarfsgerechte Gestaltung von Informations- und CAD-Datenflüssen in Produktentwicklungsprozeßketten. In: Fortschritt-Berichte. VDI Reihe 20, Nr. 133, Düsseldorf, 1994, S. 10.
  20. Guido Lange: Der Schlüssel zum erfolgreichen Produkt: Der Produktentstehungsprozess (PEP).
  21. Beate Krenzel: Integration der Computersimulation in die Planung und Gestaltung der Arbeitsorganisation im Rahmen der Fabrikplanung. Dissertation, Otto-von-Guericke-Univ. Magdeburg, 1995, S. 9.
  22. Horst Wildemann: Einführungsstrategien für die computerintegrierte Produktion. München, 1990, S. 27.
  23. Jürgen Gausemeier/Peter Ebbesmeyer/Ferdinand Kallmeyer/H.-J. Wiendahl: Kooperatives Produktengineering: Ein neues Selbstverständnis des ingenieurmäßgen Wirkens. In: Jürgen Gausemeier (Hrsg.): HNI Verlagsschriftenreihe. Band 79, Paderborn, 2000, S. 89f.
  24. O. V.: Die Branche vor der nächsten Revolution. In: Automobil Industrie. Nr. 7/8, 2003, S. 39f.

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Der Produktprozess und seine Teilprozesse