Pogrom von 1096 in Worms

Das Pogrom von 1096 in Worms ereignete sich im Mai 1096, als die Massen des Volkskreuzzugs, einer ersten Welle des Ersten Kreuzzugs, die Stadt Worms erreichten.

Ausgangslage

Papst Urban II. hatte den Beginn des Kreuzzugs für den 15. August 1096 geplant. Menschen – vor allem aus verarmten Unterschichten – aus Westeuropa sahen das als Chance, eine Alternative aus ihrer hoffnungslosen Lebenssituation in einer seit 1090 anhaltenden Hungerperiode zu finden.[1] Bereits im April 1096 bildete sich daraus ungeplant eine Massenbewegung, die eigenständig nach Jerusalem aufbrechen wollte, sich zunächst aber mordend und plündernd gegen die jüdischen Gemeinden im Rheintal, angrenzenden Gebieten und entlang der Donau wandte.

Diese Massenbewegung umfasste mehrere 10.000 Menschen.

In den Städten des Rheintals gab es eine ganze Reihe jüdischer Gemeinden, so auch in Worms.

Im Gegensatz zur Situation im Spätmittelalter gab es in Worms noch kein Ghetto, die Einwohner jüdischen Glaubens lebten über das Stadtgebiet verstreut.[2] Sie standen unter dem Schutz des Königs, der damit örtlich den Bischof von Worms als Stadtherren beauftragt hatte. Das war damals formal Bischof Adalbert II., der aber als Gegner der deutschen Kaiser Heinrich IV. und Heinrich V. faktisch abgesetzt war und sich in Worms nicht aufhalten konnte.[3] Wer die dem Bischof zustehenden Befugnisse als Stadtherr damals tatsächlich wahrnahm, ist unbekannt. Noch kurz vor dem Pogrom, in der ersten Hälfte der 1090er Jahre, hatte Kaiser Heinrich IV. der jüdischen Gemeinde in Worms umfassende Garantien ihres Status gegenüber der christlichen Mehrheit, einen Ausschluss des Bischofs von Worms auf Hoheitsrechte gegenüber den Juden[4] und hohe Hemmschwellen gegen Konversion garantiert.[5]

Mitte Mai erreichte die Massenbewegung des Ersten Kreuzzugs auch Worms.

Quellenlage

Das Pogrom in Worms ist für ein Ereignis des Hochmittelalters außerordentlich gut dokumentiert. Das liegt vor allem an drei überlieferten Berichten (Chronik I–III)[6] aus den Jahrzehnten nach dem Ereignis. Darüber hinaus gab es mindestens einen heute verlorenen, in der wissenschaftlichen Literatur als „Text Φ“ bezeichneten Bericht, der sowohl in die Chronik I als auch in die Chronik II eingeflossen ist. Er enthielt auch die Informationen zu den Ereignissen in Worms.[7] Erhalten geblieben sind:

  • Die Chronik I, Salomo bar Simson zugeschrieben[Anm. 1], abgefasst um 1140, jedenfalls vor dem Zweiten Kreuzzug (1146)[8], entstand in Mainz[9] und beruht auch auf älteren, zeitgenössischen Texten.[10] Die älteste erhaltene Überlieferung dieser Chronik befindet sich in einem zweibändigen Kodex, der seit 1999 zur Sammlung des Jews’ College in London gehört, eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, die im Bereich von Venedig entstand.[11] Die Chronik nimmt dort die Seiten 151r–163r des zweiten Bandes ein.[12]
  • Die Chronik II von Elieser bar Nathan entstand ebenfalls in Mainz, wo dem Autor dazu auch verschiedene schriftliche Berichte vorlagen[13], unter anderem der „Text Φ“ und die Chronik III des anonymen Autors. Elieser bar Nathan war als Kind Augenzeuge des Pogroms von 1096.[14] Verfasst hat er seinen Bericht noch vor Beginn des Zweiten Kreuzzugs 1146.[15] Von dieser Chronik sind acht Handschriften erhalten. Diese entstanden in der Zeit von 1335 bis 1847.[16]
  • Die Chronik III schrieb ein heute unbekannter Autor, der vermutlich aus Mainz stammte und sie dort verfasste (sogenannter Mainzer Anonymus).[17] Sie ist die älteste der drei Chroniken, aber der Zeitpunkt der Entstehung ist nur schwer einzugrenzen. Vermutet wird, dass das bald nach 1097 geschah.[18] Überliefert ist der Text der Chronik III aber nur in einer Kopie, deren ursprüngliches Ende schon dem Kopisten nicht mehr vorlag.[19] Die Handschrift befindet sich heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt.[20] Der dort eingefügte Bericht über den Vorwurf der Christen, die Juden hätten die Brunnen vergiftet – den nur diese Chronik III enthält –, ist anachronistisch und vermutlich im 14. Jahrhundert eingefügt.[21]

Ereignisse

Pogrom in der Stadt

Die Wormser jüdische Gemeinde wusste bereits, was auf sie zukam, nachdem die Nachrichten über das Pogrom in Speyer, das am 3. Mai 1096 begonnen hatte[22], nach Worms gelangten.[23] Am Sonntag, den 18. Mai 1096[Anm. 2], begann das Pogrom in Worms. Der größere Teil der jüdischen Einwohner floh in den Bischofshof[24], andere verbarrikadierten sich in ihren Häusern.[25] Diese wurden als Erstes angegriffen, geplündert und zerstört, Tora-Rollen geschändet.[26] Dabei machten die Bürger von Worms gemeinsame Sache mit den „Kreuzfahrern“.[27]

Soweit die Angegriffenen dabei nicht ermordet wurden, einen Suizid vollzogen – auch als „Kiddusch HaSchem“ bekannt – oder sich gegenseitig umbrachten, um der Zwangstaufe zu entgehen[28], wurden die wenigen, die diese erste Phase des Pogroms überlebten, zwangsgetauft.[29] Die Leichen wurden geplündert.[30]

Simcha ha Cohen, Sohn des Isaak haCohen[31], war einer derjenigen, die gefangen genommen worden waren und der zu einer Zwangstaufe in eine Kirche gebracht wurde. Dort zog er ein Messer aus seinem Ärmel und erstach einen Neffen oder Enkel des Bischofs[32][Anm. 3] und zwei weitere Umstehende, bevor er selbst getötet wurde.[33]

Pogrom im Bischofshof

Der Teil der Gemeinde, der in den Bischofshof geflohen war, war zunächst noch soweit handlungsfähig, dass er den Opfern in der Stadt in begrenztem Umfang Hilfe zukommen lassen konnte. Aber am 20. Mai stürmten die „Kreuzzügler“ zusammen mit Wormser Einwohnern auch den Bischofshof.[34] Einige Juden töteten ihre Kinder und begingen Suizid. Insbesondere die Chronik III enthält einige im Detail dargestellte Szenen mit den Namen der Opfer.[35]

Opferzahlen

Die Zahl der Getöteten soll nach dem Bericht des Elieser bar Nathan 800 betragen haben.[36] Im Memorbuch sind 400 Tote namentlich aufgeführt.[37] Die Differenz ergibt sich wahrscheinlich daraus, dass im Vorfeld des Pogroms viele Juden aus dem Umland in die Stadt geflohen waren, das Memorbuch aber nur die auflistet, die zur Gemeinde Worms gehörten.[38]

Folgezeit

1097 gestattet Kaiser Heinrich IV. allen Zwangsgetauften die Rückkehr zum jüdischen Glauben. Die jüdische Gemeinde scheint sich trotz des Pogroms schnell wieder konstituiert zu haben und erlebte im 12. Jahrhundert einen erheblichen Entwicklungsschub: Es entstand 1174/1175 eine neue Synagoge und 1185/1186 die Mikwe.[39] Für 1201 ist belegt, dass die männliche Bevölkerung jüdischen Glaubens in die Stadtverteidigung integriert und bewaffnet war.[40] Andererseits kam es in der Folge immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Gemeinde in Worms, so 1146 im Vorfeld des Zweiten Kreuzzuges, als die jüdische Gemeinde aus der Stadt floh[41], zu Jahresanfang 1188 wiederholte sich das[42] und am 15. November 1196 wurden Frau und Kinder des Wormser Rabbiners Eleasar ben Juda ben Kalonymos ermordet.[43]

Literatur

  • Ismar Elbogen u. a. (Hrsg.): Germania Judaica 1: Von den ältesten Zeiten bis 1238. Mohr, Tübingen 1963.
  • Eva Haverkamp (Hrsg.): Hebräische Berichte über Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges = Monumenta Germaniae Historica: Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland 1: Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2005. ISBN 3-7752-1301-5

Anmerkungen

  1. Aufgrund einer äußerst ungewöhnlichen Platzierung des Kolophons mitten im Text ist umstritten, ob Salomo bar Simson Autor der gesamten Chronik ist oder nur einen Abschnitt davon verfasst hat – und wenn ja, welchen. Sicher ist, dass er kein Augenzeuge war, sondern der nachfolgenden Generation angehörte, und die Ereignisse – zumindest teilweise – durch „die Alten“ mündlich erfahren hat. Er ist also auch nicht identisch mit dem gleichnamigen Wormser Gelehrten, der bei dem Pogrom 1096 ermordet wurde (Haverkamp. S. 55).
  2. Die in den drei Chroniken angegebenen Daten weichen zum Teil leicht voneinander ab (vgl. Haverkamp, S. 268, Anm. 1).
  3. Bischof Adalbert II. stammte aus der Familie derer von Idstein-Eppstein. Bei dem Neffen könnte es sich also um einen Sohn seines Bruders, Udalrich von Idstein, gehandelt haben; in der Chronik III findet das Geschehen „im Gemach des Bischofs“ statt (Haverkamp, S. 286f.).

Einzelnachweise

  1. Haverkamp, S. 4.
  2. Guido Kisch: Die Rechtsstellung der Wormser Juden im Mittelalter. In: Ernst Róth: Festschrift zur Wiedereinweihung der Alten Synagoge zu Worms. Ner Tamid Verlag, Frankfurt am Main 1961, S. 173–181 (177ff.).
  3. Haverkamp, S. 34, Anm. 5.
  4. Fritz Reuter: Warmasia. 1000 Jahre Juden in Worms. 3. Auflage. Worms 2009, S. 57.
  5. Adolf Kober: Die deutschen Kaiser und die Wormser Juden. In: Ernst Róth: Festschrift zur Wiedereinweihung der Alten Synagoge zu Worms. Ner Tamid Verlag, Frankfurt am Main 1961, S. 182–198, S. 183; dort auch eine deutschsprachige Wiedergabe des Urkundeninhalts.
  6. Bei Haverkamp, S. 269–289, (612)/15, (558)/69–(554)/73, (536)/91–(530)/97, hebräisch- und deutschsprachig ediert.
  7. Haverkamp, S. 59.
  8. Haverkamp, S. 62f.
  9. Haverkamp, S. 56, 62.
  10. Haverkamp, S. 49–54.
  11. Haverkamp, S. 56.
  12. Haverkamp, S. 143f.
  13. Haverkamp, S. 61.
  14. Haverkamp, S. 63.
  15. Haverkamp, S. 64.
  16. Haverkamp, S. 163–230.
  17. Haverkamp, S. 64ff.
  18. Haverkamp, S. 70.
  19. Haverkamp, S. 137.
  20. Haverkamp, S. 153; Signatur: Cod. or. 25.
  21. Haverkamp, S. 161.
  22. Haverkamp, S. 262f, Anm. 2.
  23. Haverkamp, S. 280f.
  24. Haverkamp, S. 284f.
  25. Haverkamp, S. 268f, 280f.
  26. Haverkamp, S. 268f, 282f.
  27. Haverkamp, S. 280f.
  28. Haverkamp, S. 272ff.
  29. Haverkamp, S. 270f.
  30. Haverkamp, S. 274f., 282f.
  31. Haverkamp, S. 286f.
  32. Haverkamp, S. 276f; 286f.
  33. Haverkamp, S. 286f.
  34. Haverkamp, S. 284f.
  35. Haverkamp, S. 284ff.
  36. Haverkamp, S. 276f.
  37. Siegmund Salfeld: Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches = Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 3. Simion, Berlin 1898 (Digitalisat), S. 107.
  38. Haverkamp, S. 20, Anm. 89.
  39. Fritz Reuter: Warmasia – das jüdische Worms. Von den Anfängen bis zum jüdischen Museum des Isidor Kiefer (1924). In: Gerold Bönnen (Hg. im Auftrag der Stadt Worms): Geschichte der Stadt Worms. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1679-7, S. 664–690 (667).
  40. Adolf Kober: Die deutschen Kaiser und die Wormser Juden. In: Ernst Róth: Festschrift zur Wiedereinweihung der Alten Synagoge zu Worms. Ner Tamid Verlag, Frankfurt am Main 1961, S. 184; Reuter in Bönnen (Hg.): Warmasia, S. 669.
  41. Elbogen, S. 441.
  42. Bericht des Elasar bar Juda. In: A[dolf] Neubauer und M[oritz] Stern: Hebräische Berichte über die Judenverfolgung während der Kreuzzüge = Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland 2. Berlin 1892, S. 77, 216.
  43. Elbogen, S. 441f; Max Dienemann: Die Geschichte der Einzelgemeinde als Spiegel der Gesamtgeschichte. ND in: Ernst Róth: Festschrift zur Wiedereinweihung der Alten Synagoge zu Worms. Ner Tamid Verlag, Frankfurt am Main 1961, S. 168.