Phyle

Außer seiner Zugehörigkeit zu einer Bürgerschaft (Polis) gehörte ein Grieche in der Antike zugleich einem Stamm, der Phyle (altgriechisch φυλή „der Stamm, das Volk“, Ableitung vom Verb φύεσθαιphyesthai „abstammen“), an und war durch verwandtschaftliche Beziehungen Mitglied seiner Sippe. Der verwandtschaftliche Aspekt der Sippe wurde insbesondere von Denis Roussel angezweifelt, der die Phyle mit der Polis in Verbindung bringt und sie als deren Verwaltungseinheit in den Brennpunkt rückt. Jedoch sind die Wurzeln dieser Gemeinschaft nur schwer zu finden, da für das Dunkle Zeitalter der griechischen Geschichte keine schriftlichen Quellen existieren. In Athen entwickelten sich aus diesen Stammeszusammengehörigkeiten später regionale Verwaltungsbezirke, die die Grundlage für die Militärbezirke bildeten.

Phylen bei Homer

Die erste schriftliche Erwähnung findet sich bei Homer in der Ilias. Dort schlägt Nestor vor, das Heer nach Phylen und Phratrien zu ordnen.[1] Des Weiteren werden in der Ilias im sog. Schiffskatalog zum einen die Rhodier[2] und zum anderen die Pelasger[3] nach Phylen unterteilt. Inwieweit hier Sippen oder Poleis unterteilt werden, ist nicht ganz schlüssig, da Homer sehr vage bleibt und Begrifflichkeiten nicht eindeutig zuordnet. Für ihn steht die Dichtung im Vordergrund.

Dorer

Bei den Dorern gab es ursprünglich drei Phylen, Hylleis, Dymanes und Pamphyloi, die in vielen Städten im dorischen Siedlungsbereich erhalten blieben. In einigen Städten gab es eine vierte Phyle für die nichtdorische Bevölkerung.

Im dorischen Kreta kam in klassischer Zeit der Phyle (hier πυλα genannt) eine besondere Bedeutung zu. Wie das Große Gesetz von Gortyn belegt,[4] wurden die wichtigsten Amtsträger der kretischen Stadtstaaten, die Kosmen, aus dem Kreis der wehrfähigen Bürger einer Phyle, dem so genannten Startos, gewählt. Jedes Jahr bekam ein anderer Startos und damit auch eine andere Phyle den Auftrag, das Kollegium der Kosmen zu wählen, so dass jede Phyle gleichmäßig an der Machtausübung beteiligt wurde. Auch in den Paragraphen des Großen Gesetzes, die sich mit dem Erbtochterrecht befassen,[5] taucht die Phyle auf. Die Erbtochter wurde angehalten, sich in ihrer eigenen Phyle zu verheiraten, sollte niemand von den verwandten Erbberechtigten mehr da gewesen sein oder wenn die Erbtochter niemanden von diesen heiraten wollte. Erst wenn Heiratsbemühungen in ihrer Phyle nicht von Erfolg gekrönt waren, durfte sie jemanden aus einer anderen Phyle heiraten.

Ionier

Phylen bei den Ioniern sind am besten aus Athen bekannt.

Attische Phylen in der Frühzeit

In der Frühzeit war Attika in vier Phylen aufgeteilt. Diese Phylen wurden nach den Söhnen des Ion benannt.[6] Diese bestanden ihrerseits aus drei Trittyen zu je vier Naukraria.

PhyleSohn des Ion
AigikoreisAigikores
ArgadeisArgades
GeleontesGeleon
OpletesHoples

Kleisthenische Phylen

Eine Phyle bestand aus einem Teil des Stadtgebietes, einem Teil Land und einem Teil Küste. Insgesamt gab es nach der Reform durch Kleisthenes 10 Phylen, die dann jeweils eine Vertretung im Rat der 500 hatten (also 50 Abgeordnete pro Phyle). Jeder Militärbezirk stellte Heeresverbände, die ebenfalls Phylen hießen (vergleichbar mit heutigen Kompanien) und die Grundlage des Heereswesens bildeten. Die zehn Phylen Attikas wurden nach Heroen benannt, die man deshalb auch als Eponymen (von altgriech. ἐπονομάζειν = danach (be)nennen) bezeichnet.[7]

PhyleHeros
AiantisAias, Sohn des Telamon9. Phyle
AigeisAigeus2. Phyle
AkamantisAkamas, Sohn des Theseus5. Phyle
AntiochisAntiochos, Sohn des Herakles und der Meda10. Phyle
ErechtheisErechtheus1. Phyle
Hippoth(e)ontisHippothoon, Sohn des Poseidon und der Alope8. Phyle
KekropisKekrops7. Phyle
LeontisLeos, Sohn des Orpheus4. Phyle
OineisOineus, unehelicher Sohn des Pandion6. Phyle
PandionisPandion3. Phyle

Später kamen als besondere Ehrung Attalos I., Ptolemaios III. und Hadrian als Phylenheroen hinzu, nachdem bereits zuvor Demetrios I. Poliorketes und seinem Vater Antigonos I. Monophthalmos diese Ehre zwischenzeitlich zuerkannt wurde.

Weitere ionische Städte

In anderen ionischen Städten gab es teilweise die gleichen Phylen wie in der Frühzeit Athens, was mit gemeinsamen Ursprüngen oder einer bewussten Übernahme erklärt werden kann, teilweise andere Namen der oftmals drei Phylen.

Siehe auch

Literatur

  • Reinhard Koerner: Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis (= Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte. Band 9). Aus dem Nachlaß von Reinhard Koerner herausgegeben von Klaus Hallof. Böhlau, Köln u. a. 1993, ISBN 3-412-02393-0.
  • Ursula Kunnert: Bürger unter sich. Phylen in den Städten des kaiserzeitlichen Ostens (= Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft. Band 39). Schwabe, Basel 2012, ISBN 978-3-7965-2884-2.
  • Heinz Bellen: Phyle. In: Der Kleine Pauly (KlP). Band 4, Stuttgart 1972, Sp. 835 f.
  • Denis Roussel: Tribu et cité. Études sur les groupes sociaux dans les cités Grecques aux époques archaique et classique (= Annales littéraires de l’Universite de Franche-Comté. Band 193, ISSN 0523-0535 = Centre de recherces d’histoire ancienne. Band 23). Les Belles lettres, Paris 1976.
  • Oliver Grote: Die griechischen Phylen. Funktion – Entstehung – Leistungen. Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11450-9.

Anmerkungen

  1. Homer, Ilias 2,362.
  2. Homer, Ilias 2,668.
  3. Homer, Ilias 2,840.
  4. Koerner: Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis. 1993, Nr. 169.
  5. Koerner: Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis. 1993, Nr. 174.
  6. Herodot, Historien 5, 66.
  7. Pausanias, Reisen in Griechenland 1,5,1–3.