Personalismus

Der Begriff Personalismus leitet sich von der Person im philosophischen Sinn ab. Man versteht darunter eine philosophische Denkrichtung insbesondere des 20. Jahrhunderts, die aus dem christlich-humanistischen Weltbild hervorgegangen ist. Diese sieht das Personsein des Menschen als Kern des Humanismus. Damit versteht sich der Personalismus als kritische Alternative zu einseitig individualistischen und kollektivistischen (kommunistischen und faschistischen) Theorien. Personalistische Ansätze suchen einen „dritten Weg“ neben naturalistischen und sozialistischen Theorien, indem sie die Freiheit der Entscheidung zum Grundprinzip menschlichen Lebens erklären. Darüber hinaus betonen sie die geistige Dimension des menschlichen Lebens, das an Werten orientierte Wollen und Handeln des Einzelnen, sowie die Gemeinschaft als Fundament der Entwicklung jeder Person. Ihr Ziel ist durchaus praktischer Natur: die Veränderung der Gesellschaft. Ihr Verhältnis zur Autorität ist in der Regel positiv, wenn diese höhere geistige Werte vertritt.

Philosophie

Im Kern der personalistischen Idee steht die Überzeugung, dass der Mensch sich wesentlich durch die Fähigkeit zu freier Entscheidung und Verantwortlichkeit für sein Handeln auszeichnet, und diese strukturelle Freiheit einen unveräußerlichen, höchsten Wert und Selbstzweck darstellt. Indem der Mensch von seiner Freiheit Gebrauch macht, bestimmt er sich selbst als Person und wird zum „Autor seiner Lebensgeschichte“ (Winfried Böhm). Die Person ist kein unsterblicher, unveränderlicher Wesenskern (i. S. v. Seele), sie offenbart sich nur in der gemeinschaftlichen Praxis menschlichen Denkens und Handelns. Personalität bedeutet in diesem Sinn die dynamische Seinsverfassung des Subjekts, das sich selbst durch Arbeit hervorbringt.

Der Unterschied zu einer reinen Subjekttheorie liegt darin, dass sich die Person erst und ausschließlich durch ihre Bezogenheit auf eine andere Person, d. h. in ihren sozialen Bezügen konstituieren und realisieren kann. Daher sind der Dialog, die Zusammenarbeit in Handlungsgemeinschaften, insbesondere aber der lebenslang zu gestaltende Bildungsprozess[1] von personaler Erziehung und Sozialisation konstitutive Funktionen in der Theorie des Personalismus.

In Abgrenzung von empirischen Ansätzen, die den Menschen z. B. als biologisches Individuum oder als gesellschaftlichen Rollenspieler definieren, entzieht sich der Mensch als Person der Fremdbestimmung durch Natur und Gesellschaft, er erschafft sich selbst durch sein Handeln. Menschliche Freiheit und die damit einhergehende Verantwortung sind unveräußerlich, d. h. der Einzelne kann sich nicht von ihnen trennen. Diese Ansicht hat der Personalismus mit dem Existenzialismus gemeinsam. Während der Existenzialismus sich aber teilweise auf eine Beschreibung der Sinnlosigkeit des Daseins konzentriert, kommt es dem Personalismus darauf an, Werte hervorzubringen, die ein sinnvolles Dasein begründen können. Auf der Grenze stehen christliche Existenzialisten wie Blondel und Gabriel Marcel. Die ethischen Dimensionen der Person erstrecken sich (nach Paul Ricœur) auf drei Ebenen: dem Wunsch nach einem erfüllten Leben – mit und für die anderen – in gerechten Institutionen.[2]

Der bekennende Katholik Jacques Maritain bietet eine umfassende Theorie des Personalismus. Besonders bei ihm stellt sich die Frage, ob der Personalismus von religiösen Voraussetzungen ablösbar ist. Tatsächlich sind die meisten Personalisten stark religiös.[3] Auch beziehen sie sich oft auf die Methode der inneren Erfahrung (so Paul Ludwig Landsberg)[4], womit sie für alle Empiriker nicht nachvollziehbare Aussagen machen.

Ein kritischer Personalismus verlegt sich auf die phänomenologische Bewertung empirischer Theorien. Erkenntnisse der Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie werden auf ihre Bedeutung für personales Leben hin untersucht[5]. Persönlichkeitsentwicklung erscheint als Weg, Verantwortung zu übernehmen.

Personalisten

Eine der einflussreichsten Quellen der personalistischen Bewegung im 20. Jahrhundert (die den Begriff des Personalismus etablierte) war die Gruppe um Emmanuel Mounier in Frankreich, der als Verfasser des Personalistischen Manifests 1936, wie als Herausgeber der Zeitschrift Esprit bekannt wurde. Zum Kreis engagierter Denker um Mounier gehörten Jacques Maritain, Gabriel Marcel, Nikolai Berdjajew, René Biot, Jean Lacroix, Paul-Ludwig Landsberg, Louis Lavelle, Alexandre Marc und Louis Meylan.

Besonders in der christlichen Pädagogik waren personalistische Konzepte nach 1945 häufig vertreten. Nach der „empirischen Wende“ der Erziehungswissenschaften in den 1960er Jahren sind sie inzwischen aber seltener geworden. Genauso verhält es sich auch in der Psychologie.

Personalistische Positionen wurden in unterschiedlichen Zusammenhängen der Philosophiegeschichte vertreten durch:

Siehe auch

Literatur

  • Karl Lugmayer: Philosophie der Person. Mit einer Einleitung von Erwin Bader und Paul R. Tarmann. Herausgegeben von Erwin Bader und Franz Lugmayer. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2009, ISBN 978-3-631-58390-6.
  • Ulrich Diehl: Personalität und Humanität. C. Winter, Heidelberg 1999, ISBN 3-8253-0876-6 (Zugleich: Würzburg, Universität, Dissertation, 1994).
  • Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Carl Hanser, München u. a. 2002, ISBN 3-446-20070-3.
  • Martin Buber: Ich und Du. (1923) Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Bernhard Lang, Reclam, Ditzingen 2021, ISBN 978-3-15-014171-7 = Reclams Universal-Bibliothek 14171.
  • Waltraud Harth-Peter, Ulrich Wehner, Frithjof Grell (Hrsg.): Prinzip Person. Über den Grund der Bildung. Winfried Böhm zum 22. März 2002 (= Bibliotheca Academica. Pädagogik. Bd. 2). Ergon-Verlag, Würzburg 2002, ISBN 3-89913-236-X.
  • Emmanuel Mounier: Manifeste au service du personnalisme (= Collection Esprit.) Fernand Aulier, Editions Montaigne, Paris 1936, (deutsch: Das personalistische Manifest. Jean-Christophe Verlag, Zürich 1936).
  • Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 15., unveränderte Auflage. Bouvier, Bonn 2002, ISBN 3-416-02592-X.
  • Peter Heinrich: Person und Pädagogik. In: Katharina Nowotný: Pädagogik in der Sonderpädagogik. Schneider: Baltmanssweiler 2010. S. 92–103, ISBN 978-3-8340-0744-5.
  • Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91813-2.
  • Josef M. Seifert: Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (= Pubblicazioni del Centro di Ricerche di Metafisica. Sezione di metafisica e storia della metafisica. 6). Vita e pensiero, Mailand 1989, ISBN 88-343-0278-8.
  • Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. 2., durchgesehene und um ein Nachwort und um Literaturergänzungen erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-534-13377-3.
  • William Stern: Grundgedanken der personalistischen Philosophie (= Philosophische Vorträge. 20, ZDB-ID 973461-2). Reuther & Reichard, Berlin 1918.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. Siegbert A. Warwitz: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Baltmannsweiler 2016, S. 260–295
  2. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer (1990).
  3. Waltraud Harth-Peter: Religion und Bildung im Licht des modernen Personalismus. In: Heitger, Wenger (Hrsg.): Kanzel und Katheder. Zum Verhältnis von Religion und Pädagogik seit der Aufklärung. Paderborn 1994, urn:nbn:de:bvb:20-opus-42832 (uni-wuerzburg.de [PDF]).
  4. Birgitta Fuchs: Urteilskraft und Pädagogik: Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie ; Lutz Koch zum 65. Geburtstag. Königshausen & Neumann, 2007, ISBN 978-3-8260-3597-5 (google.de [abgerufen am 28. August 2020]).
  5. Geiselhart, Klaus 2021: Der Wille zur Verantwortung.: Velbrück Wissenschaft. Abgerufen am 1. Februar 2022.
  6. Personale Medizin. doi:10.1007/978-3-662-63135-5 (springer.com [abgerufen am 13. November 2022]).