Paul Lendvai

Paul Lendvai (2019)

Paul Lendvai [ˈlɛndvɒ.i] (* 24. August 1929 in Budapest) ist ein aus Ungarn stammender österreichischer Publizist und Moderator. Er ist politischer Kommentator der österreichischen Tageszeitung Der Standard sowie in ungarischen und englischsprachigen Medien. Von 1982 bis 1987 war Lendvai Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF. Heute ist er Leiter der Diskussionssendung Europastudio und gilt als Kenner Ost- und Südosteuropas.

Leben

Als Sohn jüdischer Eltern wurde er mit seinem Vater 1944 verschleppt. Nachdem ihnen Carl Lutz einen Schweizer Schutzpass besorgt hatte, konnten sie in Budapest überleben (siehe dazu auch Geschichte der Juden in Ungarn unter deutscher Besatzung). Nach dem Krieg und einem anschließenden Jurastudium schrieb er als Journalist bei sozialdemokratischen Zeitungen in der nunmehr realsozialistischen Volksrepublik Ungarn. Lendvai wurde 1953 verhaftet und erhielt drei Jahre Berufsverbot. Im Zuge des Ungarn-Aufstandes floh er aus Ungarn über Prag und Warschau 1957 nach Wien, obwohl der Eiserne Vorhang schon schwer überwindbar war. Einer seiner ersten Freunde in Österreich wurde Hugo Portisch.

In Wien begann er zuerst als Übersetzer ungarischer Nachrichten und verfasste später eigene Artikel für Die Presse und die Neue Zürcher Zeitung – zum Schutz seiner Mutter, die in Budapest geblieben war, unter verschiedenen Pseudonymen.

1959 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft. Von 1960 bis 1987 war er Auslandskorrespondent für die Londoner Financial Times in Wien. Er gründete 1973 die Zeitschrift Europäische Rundschau (2020 eingestellt)[1] und wurde 1982 Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF und später Intendant von Radio Österreich International.

Als überzeugter Sozialdemokrat und Mitteleuropäer versuchte er, sowohl bei der Waldheim-Affäre als auch bei den Sanktionen der EU nach der Regierungsbeteiligung der FPÖ durch Vorträge und Artikel seine neue Heimat Österreich objektiv zu beleuchten und gegen Pauschalurteile anzukämpfen.

Als Peter Handke 2019 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, kritisierte er die Entscheidung vehement. Sie sei trotz Handkes großer Begabung ein „moralischer und politischer Skandal“. Handke habe sich bis heute „von seinen unfassbaren und empörenden Aussagen aus den letzten Jahrzehnten über den Zerfall Jugoslawiens nicht distanziert“.[2]

2022 wurde von der Universität für Weiterbildung Krems und dem Europa-Forum Wachau erstmals der Prof. Paul Lendvai-Preis verliehen, erster Preisträger war Christoph Zotter von der Tageszeitung Die Presse.[3]

Privates

Lendvai ist in dritter Ehe mit der ungarischen Verlegerin Zsóka Lendvai verheiratet.[4] 1962 hatte er die geschiedene Britin Margaret Kidel geheiratet, mit der er bis zu deren Tod 2003 zusammenlebte.[5] Er besitzt seit Jahrzehnten ein Feriendomizil in Altaussee,[5] wo er sich im Sommer gerne aufhält.

Schriften

Liste (Auswahl)

  • Der rote Balkan. Zwischen Nationalismus und Kommunismus. Fischer, Frankfurt am Main 1969.
  • Antisemitismus ohne Juden. Europaverlag, Wien 1972, ISBN 3-203-50417-0.
  • Kreisky. Portrait eines Staatsmannes. Zsolnay/Econ, Wien/Hamburg/Düsseldorf 1972, ISBN 3-430-17808-8.
  • Die Grenzen des Wandels. Spielarten des Kommunismus im Donauraum. Europaverlag, Wien 1977, ISBN 3-203-50611-4
  • Der Medienkrieg. Wie kommunistische Regierungen mit Nachrichten Politik machen. Ullstein, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-548-34515-8
  • Religionsfreiheit und Menschenrechte. Bilanz und Aussicht. Styria, Graz 1983, ISBN 3-222-11476-5.
  • Das einsame Albanien. Reportage aus dem Land der Skipetaren. Edition Interfrom, Zürich 1985, ISBN 3-7201-5177-8.
  • Das eigenwillige Ungarn. Von Kádár zu Grosz. Edition Interfrom, Zürich 1986, ISBN 3-7201-5195-6.
  • Zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Reflexionen zum Wandel in Osteuropa. Jugend und Volk, Wien 1994, ISBN 3-224-16577-4.
  • Auf schwarzen Listen. Erlebnisse eines Mitteleuropäers. Hoffmann und Campe, Hamburg 1996, ISBN 3-455-11077-0.
  • Die Ungarn. Ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen. Bertelsmann, München 1999, ISBN 3-570-00218-7, als TB: Goldmann, München 2001, ISBN 3-442-15122-8.
  • Reflexionen eines kritischen Europäers. Kremayr und Scheriau, Wien 2005, ISBN 3-218-00758-5.
  • Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen. Bertelsmann, München 2006, ISBN 3-570-00579-8.
  • Mein Österreich. 50 Jahre hinter den Kulissen der Macht. Ecowin, Salzburg 2007, ISBN 3-902404-46-9.
  • Best of Paul Lendvai. Begegnungen, Erinnerungen, Einsichten. Ecowin, Salzburg 2008, ISBN 978-3-902404-66-4.
  • Als der Eiserne Vorhang fiel. Texte aus dem „Wiener Journal“ und der „Europäischen Rundschau“ aus dem annus mirabilis 1989. Herausgegeben mit Rudolf Bretschneider, Einleitung von Michael Spindelegger, Edition Atelier, Wien 2009, ISBN 978-3-902498-26-7.
  • Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch. Ecowin, Salzburg 2010, ISBN 978-3-902404-94-7.
  • Leben eines Grenzgängers. Erinnerungen. Aufzeichnungen im Gespräch mit Zsófia Mihancsik. Kremayr & Scheriau, Wien 2013, ISBN 978-3-218-00864-8.
  • Orbans Ungarn. Kremayr & Scheriau, Wien 2016, ISBN 978-3-218-01038-2.
  • Die verspielte Welt. Begegnungen und Erinnerungen. Ecowin, Salzburg 2019, ISBN 978-3-7110-0159-7.
  • Vielgeprüftes Österreich: Ein kritischer Befund zur Zeitenwende, ecoWing, Elsbethen 2022, ISBN 978-3-7110-0269-3.
  • Über die Heuchelei, Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2024, ISBN 978-3-552-07391-3.

Mein verspieltes Land

In seinem Buch Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch. (Salzburg 2010, ISBN 978-3-902404-94-7) wirft er dem konservativen Fidesz-Vorsitzenden und ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán autokratische Tendenzen vor. Er spricht von Ungarn als „verführbare Nation“[6], die das Trianon-Trauma niemals überwinden konnte. Durch den Vertrag von Trianon verlor Ungarn einen Großteil seines Staatsgebietes und seiner Bevölkerung als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg. So finden sich bis heute große ungarische Minderheiten in Rumänien, der Slowakei und Serbien. Orbán versteht sich als Ministerpräsident aller Ungarn, auch der Ungarn jenseits der heutigen Staatsgrenzen.

Bei der Parlamentswahl 2010 errang Orbáns Partei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit, die es ihr im Parlament erlaubt, wesentliche Teile der Verfassung zu ändern. Orbán spricht von einem neuen „System der Nationalen Zusammenarbeit“.[7] Lendvai versucht in seinem Buch aufzuzeigen, wie die neue Regierung die unabhängigen Institutionen auf Parteilinie zu bringen versucht. So wurde ein neues Mediengesetz verabschiedet, das der Regierung angeblich die Kontrolle über die Medien verschaffen soll.[8] Lendvai weist nach, dass Orbán mit der angestrebten Macht über die Medien einer langfristig angelegten Strategie folgt.[9] Kurz nach dem Erscheinen des Buches wurden in der regierungsnahen ungarischen Wochenzeitung Heti Válasz Dokumente des ungarischen Geheimdienstes veröffentlicht, nach denen er mit den kommunistischen Behörden Ungarns kooperiert haben soll,[10] was Lendvai jedoch in Abrede stellt.[11] In der Folge dieser Anwürfe gab es auch Mobilisierungen und Drohungen gegen Lendvai, woraufhin die Heinrich-Böll-Stiftung eine Lesung Lendvais aus Sicherheitsgründen absagte.[12]

Auszeichnungen (Auswahl)

Weblinks

Commons: Paul Lendvai – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Mitteilung der Europäischen Rundschau über die Einstellung (Juli 2020). Abgerufen am 16. Dezember 2020.
  2. Handke und die Wortspenden - derStandard.at. Abgerufen am 16. Oktober 2019.
  3. Prof. Paul Lendvai-Preis erstmals vergeben. In: apa.at. 4. April 2022, abgerufen am 5. April 2022.
  4. Denken Sie nie ans Aufhören, Herr Lendvai? In: krone.at. 11. August 2019, abgerufen am 16. Dezember 2020.
  5. a b Itthonról haza. In: 168ora.hu. 25. November 2012, abgerufen am 16. Dezember 2020.
  6. Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch, S. 121
  7. Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch, S. 215
  8. Pester Lloyd (Memento vom 21. Dezember 2010 im Internet Archive), abgerufen am 6. Dezember 2010
  9. Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch, 10. Kapitel: Die Macht der diskreten Pressezaren, S. 155–172
  10. Gregor Mayer: Rufmord-Kampagne gegen Paul Lendvai, bei Der Standard, 18. November 2010
  11. Ungarisches Blatt wirft Paul Lendvai Spitzeltum vor, bei Die Presse, 19. November 2010
  12. Angst vor Gewalt: Böll-Stiftung sagt Lendvai-Lesung ab auf ORF vom 25. November 2010, abgerufen am 26. November 2010
  13. a b c d e f Prof. Paul Lendvai der.orf.at, abgerufen am 25. Juli 2016
  14. a b c d e f Lendvai Paul Prof. (Memento vom 26. Dezember 2012 im Internet Archive) In: Hübners Who is who., abgerufen am 26. Juni 2010.
  15. https://renner-institut.at/media/1272/download/Bruno-Kreisky-Preistr%C3%A4ger.innen_alle.pdf?v=1
  16. Aufstellung aller durch den Bundespräsidenten verliehenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ab 1952 (PDF; 6,9 MB)
  17. Buchhandel ehrt Paul Lendvai auf ORF, abgerufen am 28. Oktober 2008
  18. Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2020 an Publizist Roger de Weck. In: ots.at. 1. Januar 2021, abgerufen am 1. Januar 2021.
  19. Concordia-Journalismuspreise an Lendvai, Thür, Zöchling. In: Kurier.at. 26. April 2022, abgerufen am 26. April 2022.

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Autor/Urheber: C.Stadler/Bwag, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Der österreichische Publizist Paul Lendvai auf der Wiener Buchmesse 2019.