Oskar Vogt

Oskar Vogt zusammen mit seiner Ehefrau Cécile Vogt
Hans Scheib: Büste Vogts auf dem Campus Berlin-Buch

Oskar Vogt (* 6. April 1870 in Husum; † 31. Juli 1959 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Nervenarzt und Hirnforscher.

Er war mit der französischen Neurologin und Hirnforscherin Cécile Vogt verheiratet und arbeitete mehr als sechzig Jahre mit ihr zusammen. Das Paar ist für seine gemeinsame Pionierarbeit in der lokalisatorischen Hirnforschung bekannt.

Leben

Oskar Vogt, der Sohn eines Pastors an der Marienkirche, absolvierte die Husumer Gelehrtenschule, wurde von einem Onkel für Darwins Deszendenzlehre begeistert und studierte von 1888 bis 1894 Psychologie, Zoologie und Medizin in Kiel und, angezogen von Ernst Haeckel, ab 1890 in Jena. 1890 wurde er in Jena Mitglied der Burschenschaft Teutonia.[1] 1894 wurde er mit seiner Arbeit Ueber Fasersysteme in den mittleren und caudalen Balkenabschnitten in Jena promoviert. Im Anschluss arbeitete er an der Psychiatrischen Klinik bei Otto Binswanger, bei dem er seit 1893 Assistent war, und hielt sich vermittelt von Binswanger bei Auguste Forel in Zürich auf. Forel, unter anderem Ameisenforscher, und Vogt, unter anderem Hummelsammler, wurden Freunde.[2] Bei Forel lernte Vogt 1894 die therapeutische Anwendung der Hypnose. Forel übertrug ihm die Redaktion der Zeitschrift für Hypnotismus (ab 1902: Journal für Psychologie und Neurologie).

Im Oktober 1894 wurde Vogt Assistent an der Leipziger Psychiatrischen und Nervenklinik von Paul Flechsig. Bereits ein halbes Jahr später wurde Vogt von Flechsig unter anderem seiner hypnotischen Therapiemethoden wegen gekündigt. In einem privaten Brief an Forel bezeichnete Vogt Flechsig 1895 als „Lumpen und Dégenerée“ sowie als Verleumder.[3] Auch Emil Kraepelin hatte zehn Jahre zuvor an Flechsigs Institut mit diesem nach wenigen Monaten unlösbare Differenzen entwickelt, war von diesem gekündigt worden und empfand dessen Vorwürfe als Verleumdungen.[4][5] Im Dezember 1895 schloss Vogt einen Arbeitsvertrag mit dem Eigentümer der Wasserheilanstalt Bad Alexandersbad bei Wunsiedel ab, dem Arzt Emil Cordes. Der Vertrag wurde bereits im Januar 1897 wegen „geschäftlicher Differenzen“ aufgelöst, obwohl Vogt bis 1900 leitender Arzt der Anstalt bleiben sollte. Zeitweilig war währenddessen der spätere Neuroanatom Korbinian Brodmann als Assistent an der Wasserheilanstalt tätig, um sich zugleich von den Folgen einer Diphtherieerkrankung zu erholen. In Alexandersbad lernte Vogt seinen späteren Förderer Alfred Krupp als Patienten kennen.[6]

Gedenktafel für Oskar und Cécile Vogt am ehemaligen Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch. Künstler: Axel Schulz (1965)

Vogt betrieb, nachdem er 1899 geheiratete hatte, in der Magdeburger Straße 16 in Berlin-Dahlem eine Praxis als Nervenarzt und errichtete ein Privatlabor für Hirnforschungen, die „Neurologische Zentralstation“.[7] Im Jahr 1902 gründete Vogt das Neurobiologische Laboratorium der Universität Berlin, das aus der Neurologischen Zentralstation hervorging, an der ab 1901 auch Korbinian Brodmann forschte. Aus dem Neurobiologischen Laboratorium ging 1914 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWI für Hirnforschung) hervor (Neubau 1931 in Berlin-Buch). Im Jahr 1913 hatte Krupp eingewilligt, für die Errichtung eines KWI für Hirnforschung unter Vogts Leitung eine Million Mark zu stiften.[8] Vogt wurde mit mindestens 20 Anträgen durch die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefördert.[9]

Von Mitte 1925 bis Mitte 1927 ließ Vogt in 30.000 Schnitten das Gehirn des kommunistischen Revolutionärs Lenins sezieren und stellte dabei eine außergewöhnliche Häufung von Pyramidenzellen in der dritten Hirnrindenschicht fest. Daraus schlussfolgerte er, dass Lenin eine besonders ausgeprägte Assoziationsfähigkeit besessen hätte, und bezeichnete ihn bei einem Vortrag in Moskau 1929 als einen „Assoziationsathleten“. Diese Folgerung war jedoch auch schon zu dieser Zeit stark umstritten. Später erhielt Vogt „DFG“-Gelder „zur Erforschung der pathologischen Anatomie des Schwachsinns“ sowie für „kriminalbiologische Untersuchungen“ und Vogt suchte nach einem „morphologischen Substrat für cerebrale Über- und Unterwertigkeit“. 1929 schrieb er: „Die Erfassung des Unter- und Überwertigen im Hirnbau soll dabei die Grundlage bilden für praktische Maßnahmen zur Unterdrückung der Unterwertigen und zur Höherzüchtung des Vollwertigen.“[10]

Im Jahr 1926 kam auf Einladung Vogts der sowjetische Genetiker Nikolai Tomoféeff-Ressovsky ans KWI für Hirnforschung und befasste sich dort mit Mutationen bei Fruchtfliegen. In Moskau, wo Vogt 1927 Leiter des Staatsinstituts für Hirnforschung wurde, war Vogt nur gelegentlich anwesend. Vogt wollte nach eigenen Angaben 1928 als Mitglied eines Russisch-Deutschen Komitees für Rassenforschung klären, „wieweit kulturell zurückgebliebene Nationen nur kulturarm oder gleichzeitig infolge ihres Gehirnbaus nur begrenzt kulturfähig sind“.[11]

Oskar Vogt war von 1930 bis 1937 Direktor des KWI für Hirnforschung (Vorgängerinstitution des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung) im 1928 begonnenen Neubau auf einem Gelände in Berlin-Buch,[12] bis er wegen seiner Haltung gegenüber Kommunisten und Juden denunziert wurde.[13] Am 15. März 1933 war das Institut von einer SA-Einheit besetzt worden; in diesem Zusammenhang wurde Vogt vorgeworfen, Kommunisten zu unterstützen. Eine dem KWI angeschlossene Nervenklinik unter Leitung von Getrud Soeken wurde im Mai 1932 bezugsfertig.[14] Obwohl ihm das Ministerium bereits 1934 gekündigt hatte und er 1935 die Institutsleitung an Hugo Spatz hatte abgeben müssen, blieb Vogt noch mehr als zwei Jahre geschäftsführend im Amt, bis er das 67. Lebensjahr vollendet hatte. Mit seiner Frau, der französischen Hirnforscherin Cécile Vogt, geborene Mugnier, die er während einer auf Empfehlung Forels gemachten Fortbildungsreise nach Paris im Winter 1896/98 kennengelernt und 1899 geheiratet hatte, zog er nach Neustadt im Schwarzwald, wo er das private Institut für Hirnforschung und allgemeine Biologie aufbaute und mit Unterstützung der Familie Krupp forschend bis zu seinem Tod leitete.

Nach dem Ehepaar Vogt ist das Vogt-Vogt-Syndrom benannt.

In der Zeit der Nürnberger Prozesse bekam er keine Unterstützung für seine Idee, die Gehirne der verurteilten und hingerichteten Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches zu untersuchen.[15]

Ab 1924 war Vogt korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR,[16] im Jahr 1932 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina[17] und war ab 1950 Ehrenmitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Mit seiner Frau Cécile hatte er die Töchter Marthe Louise Vogt (1903–2003) und Marguerite Vogt (1913–2007), die beide Wissenschaftlerinnen wurden und viele Jahre in Kalifornien tätig waren.

Er starb am 31. Juli 1959, seine Beisetzung fand am 4. August im Krematorium des Freiburger Hauptfriedhofs statt.[18]

Auszeichnungen

  • 1928: Goldene Kraepelin-Medaille
  • 1960: Nationalpreis der DDR
  • Ehrenmitgliedschaft verschiedener Fachverbände

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • Über nationale Hirnforschungsinstitute. In: Journal für Pschyologie und Neurologie. Band 50, 1941, Heft 1/2, S. 1 ff.

Literatur

  • Tilman Spengler: Lenins Hirn. Roman. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-498-06256-5.
  • Barbara I. Tshisuaka: Vogt, Oskar. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1453.
  • Edith Feiner: Vogt, Oskar Georg Dieckmann. In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Band 2. Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1971, ISBN 3-529-02642-5, S. 238–242.
  • Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 29–30, 150–153 und 171.
  • Peter Düweke: Cecilie und Oskar Vogt (1875–1962, 1870–1959). In: Ders.: Kleine Geschichte der Hirnforschung: Von Descartes bis Eccles. Beck, München 2001, ISBN 3-406-45945-5, S. 114–128.
  • Kurt Kolle: Große Nervenärzte. 3 Bände. Thieme, Stuttgart 1956–1963, hier: Band 2 (1959).
  • Arno Bammé: Oskar Vogt: Der Hüter von Lenins grauen Zellen. In: Husumer Nachrichten. 13. April 2011 (PDF).
  • Jürgen Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974: Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie und Neurowissenschaften sowie zum Einfluss des politischen Umfeldes auf Wissenschaftler (= Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Nr. 13). Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-40690-5.
  • Hubertus Averbeck: Von der Kaltwasserkur bis zur Physikalischen Therapie. Betrachtungen zu Personen und zur Zeit der wichtigsten Entwicklungen im 19. Jahrhundert. EHV, Bremen 2012, S. 407–408, ISBN 978-3-86741-782-2
  • Walter Kirsche: Oskar Vogt 1870–1959: Leben und Werk und dessen Beziehung zur Hirnforschung der Gegenwart. Ein Beitrag zur 25. Wiederkehr seines Todestages. Akademie-Verlag, Berlin 1986, ISBN 3-05-500006-4
  • Horst-Peter Wolff: Cécile und Oskar Vogt. Eine illustrierte Biographie, Fürstenberg / Havel, 2009 (Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion, Heft 128) (https://ubdocs.aau.at/open/voll/tewi/AC08125853.pdf)

Weblinks

Commons: Oskar Vogt – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Peter Kaupp: Frühe Prägungen – Aus den Erinnerungen des Soziologen Ferdinand Tönnies an seine Studienzeit in Jena (1872/73). In: Bernhard Schroeter (Hrsg.): Für Burschenschaft und Vaterland. Festschrift für den Burschenschafter und Studentenhistoriker Prof. (FH) Dr. Peter Kaupp. Jena 2006, S. 395–424, hier: S. 411.
  2. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 150.
  3. Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1848–1974. 2004, S. 229.
  4. Volker Roelcke: Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft: Das Projekt einer „Irrenstatistik“ und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation. In: Eric J. Engstrom, Volker Roelcke (Hrsg.): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum. Schwabe Verlag, Basel 2003, ISBN 3-631-51846-3, S. 179.
  5. Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1848–1974. 2004, S. 184 (Brief an F. W. Hagen vom 19. Januar 1883).
  6. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 151.
  7. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 151.
  8. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 151.
  9. Prof. Dr. Oskar Vogt bei GEPRIS Historisch. Deutsche Forschungsgemeinschaft, abgerufen am 1. Juni 2021.
  10. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 152–153 (zitiert).
  11. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 29–30 und 151.
  12. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 152.
  13. Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. S. 126.
  14. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2001, S. 152.
  15. Wie ein deutscher Hirnforscher Lenins Genialität belegte. In: NZZ vom 20. November 2017.
  16. Ausländische Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften seit 1724. Oskar Vogt. Russische Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 30. Oktober 2015 (russisch).
  17. Mitgliedseintrag von Oskar Vogt bei der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, abgerufen am 18. Juni 2016.
  18. Badische Zeitung.

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Gedenktafel für Oskar und Cécile Vogt am Gebäude des von ihnen gergründeten Instituts für Hirnforschung in Berlin-Buch. Geschaffen wurde die Gedenktafel 1965 vom Bildhauer Axel Schulz.
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Husband and wife neuroscience research team Oskar Vogt and Cecile Vogt-Mugnier.
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Bronzene Büste des Hirnforschers Oskar Vogt. Geschaffen 2002 von Hans Scheib. Standort auf dem biomedizinischen Campus Berlin-Buch vor dem ehemaligen Institut für Hirnforschung.