Sibyllinische Orakel

Die Sibyllinischen Orakel (griechisch Χρησμοὶ Σιβυλλιακοί Chresmoi Sibylliakoi, lateinisch Oracula Sibyllina, deutsch auch Sibyllinische Weissagungen) sind eine im 6. Jahrhundert zusammengestellte Sammlung von vermeintlich prophetischen Schriften in griechischen Hexametern, die auf jüdische, christliche und heidnische Quellen von 150 v. Chr. bis 300 n. Chr. zurückgeht. Sie sind nicht identisch mit den römischen Sibyllinischen Büchern.

Inhalt und Ursprung der Sammlung

Die Sammlung besteht aus zwölf Büchern, die als Bücher I-VIII und XI-XIV nummeriert werden. Das fehlen der Bücher IX und X ist auf die Textüberlieferung der Handschriften zurückzuführen, von denen es zwei Sammlungen gibt. Die erste besteht aus zwei Gruppen, die mit Φ und Ψ bezeichnet werden. Diese enthalten die Bücher I-VIII. Die zweite Sammlung besteht aus der Gruppe Ω die die Bücher IX-XIV umfasst. Da aber die Bücher IX und X mit den Büchern IV und VI identisch sind, werden sie ausgelassen, womit sich die geläufige Zählung ergibt.[1]

Allgemeine Inhalte und Schwerpunkte

Charakteristisch sind die Städte- und Völkerverfluchungen. Diese sind in der gesamten Sammlung wahllos aneinandergereiht. Es soll eine gewisse geografische Weite dargestellt werden, die durch Listen von Ländern, Königen und Städten verdeutlicht werden soll. Wichtig sind auch die klassischen Inhalte der jüdischen Ethik, die meist mit einer Drohung des Gerichts verbunden ist, wenn gegen sie verstoßen wird. In der gesamten Sammlung ist immer wieder der Gerichtsgedanke im Zusammenhang mit verschiedenen Naturkatastrophen und der Errettung der Frommen zu finden. Dabei spielt auch der Vergeltungsgedanke sowie die Vernichtung des Feindes eine tragende Rolle. Immer wieder tauchen auch Endzeitfiguren oder der Antichrist auf, ebenso apokalyptische Zeitmaße. Typisch ist auch das Bild des heilbringenden Königs aus dem Osten. Mehrmals werden auch gewisse Abfolgen der Weltalter und Zeiten genannt, wie zum Beispiel 5 Geschlechter, 10 Generationen oder die 10. Epoche als Endzeit.

Motivschwerpunkte sind:

  • Die Legende um Kaiser Nero, als Nero redivivus
  • Ablehnung des heidnischen Götzen- und Opferdienstes
  • Der Hass auf Rom
  • Geografische Bezugsschwerpunkte: Ägypten, Memphis und Alexandria
  • Der Turmbau zu Babel[2]

Bücher I–II

Die Bücher I–II haben eine jüdische Grundlage, sind aber stark christlich überarbeitet[3]. In den Handschriften werden diese beiden Bücher als eine Einheit angesehen. Die ältesten Teile dieser beiden Bücher werden zwischen 30 v. Chr. und 70 n. Chr. datiert. Neben den christlichen Überarbeitungen wird auch ein weiterer jüdischer Redaktor angenommen, der unter anderem in Ägypten verortet werden kann.[4]

Buch I

Buch I beginnt mit der Schöpfungserzählung. Zuvor sagt die Sibylle, dass sie sowohl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kenne und dies verkünden will. Nach der Schöpfung wird die Geschichte der einzelnen Menschengeschlechter dargestellt. Beide Abschnitte lehnen sich stark an die Genesis der Septuaginta an. Es wird in zehn Geschlechter, bzw. zehn Weltalter eingeteilt. Der Aufbau ist derselbe wie bei Hesiod in Werke und Tage. Parallelen gibt es auch zum apokryphen Henochbuch. Dabei gibt es fünf Geschlechter vor der Sintflut und fünf danach. Die ersten fünf sind dem moralischen Verfall unterworfen, wobei das fünfte Geschlecht das schlimmste ist. Die Menschen dieser Zeitalter sind nicht schuldlos, weshalb sie in den Hades hinab müssen. Diesem Geschlecht gehört nur ein Gerechter an, Noah. Dieser hält dann zwei Bußpredigten, die aber keine Wirkung entfalten. Daran anschließend wird die Sintfluterzählung selbst thematisiert. Nachdem die Welt von der Flut geläutert worden ist, kommt das sechste Geschlecht und mit ihr ein neuer Anfang. Diesem Geschlecht gehört die hier erzählende Sibylle selbst an, da sie sich als eine der Schwiegertöchter Noahs identifiziert. Diese Generation lebt ohne zu altern und der Tod ist für sie ein friedliches einschlafen. Das nächste Geschlecht ist jenes der Titanen, die übermütig sind. Der Text über das achte und neunte Zeitalter ging verloren. Erst im Buch II wird vom zehnten, letzten Geschlecht berichtet. Hier werden böse Zeichen genannt, die eine Zeit der Not und Drangsal ankünden. Es wird gegen das heidnische Rom polemisiert. Heil gibt es nur für die Rechtgläubigen, wobei am Ende Frieden auf Erde sein wird.

Danach folgt eine Erzählung der wichtigsten Handlungen von Jesus Christus. Die Schilderung seiner Geburt ging verloren. Deshalb setzt Buch I mit den Hl. Drei-Königen fort. Danach folgt Johannes der Täufer, dessen Wirken und Tod erwähnt wird. Direkt danach folgt das Leiden und die Himmelfahrt Christi. Am Ende von Buch I wird gegen das Volk Israel geweissagt, dessen Herz trotz der Verkündigung Jesu verstockt blieb. Dabei wird die Zerstörung des Tempels in Jerusalem vorausgesagt sowie die Vertreibung der Juden aus dem Land.[5]

Buch III

Buch III ist nach der Mehrheit der Forscher das älteste Stück der Sammlung, und rein jüdischen Ursprungs. Die Hauptstücke sind ins zweite Jahrhundert vor Christus zu datieren[6].

Buch IV

In der überlieferten Gestalt ist das Buch in den achtziger Jahren des ersten Jahrhunderts aus der Feder eines jüdischen Verfassers entstanden[7]. In den Versen 116 und 125f. finden sich Hinweise auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.); die Verse 130–136 spielen auf den Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. an. Der Verfasser hat wahrscheinlich in den Versen 49–101 eine aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert stammende Passage heidnischen Ursprungs aufgenommen, in der die Weltgeschichte in vier Weltreiche mit insgesamt zehn Generationen eingeteilt wird.[8]

Buch V

Buch V bietet recht unterschiedliche und nur wenig miteinander verbundene Orakelsprüche. In seinen Hauptstücken ist es um 100 n. Chr. entstanden.[9] Es enthält eine Liste der römischen Kaiser von Cäsar bis Hadrian, die mit symbolischen Zahlen (→ Gematrie) oder Initialen bezeichnet werden.[10] Weiter finden sich darin Weissagungen gegen Völker oder Städte, vor allem gegen Ägypten und Rom[11] und es wird von einer messianischen Gestalt erzählt. Es endet mit einem Abschnitt über den Krieg zwischen einzelnen Sternen, der von astrologischen Vorstellungen geprägt ist.

Bücher VI–X

Die Bücher VI–VIII sind rein christlichen Ursprungs[12]; die Bücher IX und X wiederholen nur Stoff aus den anderen Büchern und fehlen daher in den Textausgaben[13]. Das VI. Buch ist mit 28 Versen das kürzeste und enthält einen Christus-Hymnus[14].

Bücher XI–XII (XIV)

Weil das VIII. Buch ursprünglich dreiteilig war, zählen frühere Forscher XIV Bücher[14].

Wertung als historische Quelle

Die Bücher des Sibyllinischen Orakels können trotz ihrer Überarbeitungen als Quelle kultureller Information, zur Deutung des Religionsverständnisses und zur Interpretation von politischen Ereignissen ihrer Entstehungszeit in den orientalischen Provinzen des Römischen Reiches herangezogen werden.[15]

Spätantike und mittelalterliche Fassungen

Christliche Autoren seit der Spätantike betrachteten die Sibyllen als Prophetinnen. Im Mittelalter erfuhren die Orakelschriften in zahlreichen Fassungen große Verbreitung. Die bedeutenden Traditionslinien des Sibyllinischen Orakels waren:

  • Die Tiburtinische Sibylle (lat. Sibylla Tiburtina) geht auf ein griechisches Vorbild zurück und entstand im südlichen Italien des 11. Jahrhunderts. Mehr als 130 Handschriften in lateinischer Sprache sind allein von dieser Sammlung überliefert; 30 davon datieren von vor 1200. Daneben existierten zahlreiche Übersetzungen ins Griechische, Äthiopische und Arabische. Damit trägt diese Sibylle maßgeblich zur im abendländischen Mittelalter von weithin gehegten eschatologischen Erwartung des Friedenskaisers bei, dessen Kommen in ihr vorausgesagt wird.
  • Die Eritreische Sibylle (lat. Sibylla Eritrea), ebenfalls nach einem griechischen Vorbild und war bereits dem Kirchenvater Augustinus von Hippo bekannt, der sie in De civitate Dei 18.23 erwähnt. Seit dem 12. Jahrhundert ist diese Sammlung auch weit verbreitet. Eine von Franziskanern überarbeitete Langfassung (um 1240) wird als Mittel der politischen Propaganda gegen Kaiser Friedrich II. gebraucht.
  • Weniger als die Vorigen wurden die Cumanische Sibylle (lat. Sibylla Cumana) und
  • die Samische Sibylle oder Delphische Sibylle (lat. Sibylla Samia/Delphica) rezipiert. Zur letztgenannten Orakelsammlung verfasste Joachim von Fiore einen Kommentar.

Ausgaben

  • Charles Alexandre: Χρησμοὶ Σιβυλλιακοί. Ed. altera ex priore ampliore contracta, integra tamen et passim aucta, multisque locis retractata. Didot, Paris 1869. Auf Archive.org
  • Jörg-Dieter Gauger: Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von A. Kurfeß hg. und neu übersetzt. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1998, ISBN 3-7608-1701-7.
  • Johannes Geffcken: Die Oracula Sibyllina, GCS 8, Leipzig 1902.
  • Helmut Merkel: Sibyllinen. In: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Sibyllinen V/8. Gütersloh 1998, ISBN 3-579-03958-X.
  • Friedrich Blass: Die Sibyllinen. In: Emil Kautzsch (Hrsg.): Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Mohr (Siebeck) Tübingen 1900, Bd. 2, S. 177–217.

Literatur

  • Jens Fischer: Folia ventis turbata – Sibyllinische Orakel und der Gott Apollon zwischen später Republik und augusteischem Principat (= Studien zur Alten Geschichte, Band 33), Göttingen 2022.
  • Ferdinand Hahn: Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Neukirchen-Vluyn 1998, ISBN 3-7887-1667-3, S. 90f.
  • Xavier Lafontaine: Hellénisme et prophétie. Les Oracles sibyllins juifs et chrétiens. (Semitica & classica supplementa, 4). Brepols, Turnhout 2023, ISBN 9782503607962. – Rezension von Oliver Parkes, Bryn Mawr Classical Review 2024.05.21
  • Jane L. Lightfoot: The Sibylline Oracles. With Introduction, Translation, and Commentary on the First and Second Books. Oxford 2007, ISBN 978-0-19-921546-1.
  • Liliana Rosso Ubigli: Sibyllinen. In: Theologische Realenzyklopädie. 31, Berlin 2000, S. 240–245.
  • Alois Rzach: Sibyllen, Sibyllinische Orakel. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band II A,2, Stuttgart 1923, Sp. 2073–2183.
  • Ursula Treu: Christliche Sibyllinen. In: Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. 2. Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes. 5. Aufl., Göttingen 2022, ISBN 3-16-145181-3, S. 591–619.
  • Olaf Waßmuth: Sibyllinische Orakel 1–2. Studien und Kommentar (= Ancient Judaism and Early Christianity. Band 76). Brill, Leiden/Boston 2011, ISBN 978-90-04-17593-8.

Anmerkungen

  1. John J. Collins: The Development of the Sibylline Tradition. In: Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), Teil II: Principat. Band 20, Nr. 1. De Gruyter, Berlin / New York 1987, S. 422.
  2. Jörg-Dieter Gauger, Alfons Kurfeß (Hrsg.): Sibyllinische Weissagungen: griechisch-deutsch (= Sammlung Tusculum). 2. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002, ISBN 978-3-7608-1701-9, S. 423–435.
  3. Hahn, Apokalyptik, 91.
  4. Jörg-Dieter Gauger, Alfons Kurfeß (Hrsg.): Sibyllinische Weissagungen: griechisch-deutsch. (= Sammlung Tusculum). 2. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002, ISBN 978-3-7608-1701-9, S. 438–439.
  5. Alois Rzach: Art. Sibyllen. In: Wilhelm Kroll, Kurt Witte (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, neu Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa. II,4. Stuttgart 1923, Sp. 2146–2149.
  6. Merkel, Sibyllinen 1059–1064.
  7. „Die Annahme, Buch IV sei […] christlicher Herkunft, ist heute endgültig aufgegeben“ (Rosso Ubigli 241).
  8. Merkel, Sibyllinen 1064f.
  9. Merkel, Sibyllinen 1066f. Rosso Ubigli (243) nennt den Zeitraum von 80 bis 130 n. Chr.
  10. Buch V, 12–51.
  11. Wie in der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes finden wir auch hier die Bezeichnung Roms mit dem Symbolnamen Babylon. Vgl. V, 159 und (Offb 18,2 ) u.ö.
  12. Hahn, Apokalyptik, 91.
  13. Merkel, Sibyllinen, 1046.
  14. a b Ursula Treu: Christliche Sibyllinen. In: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen. 5. Auflage. Band II. Tübingen 1989, S. 591; 600–601.
  15. Siehe zum Beispiel Udo Hartmann: Orientalisches Selbstbewusstsein im 13. Sibyllinischen Orakel. In: Michael Blömer, Margherita Facella, Engelbert Winter (Hrsg.): Lokale Identität im Römischen Nahen Osten (= Oriens et Occidens. Band 18). Franz Steiner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09377-4, S. 75–98.