Oktavregel

Die Oktavregel ist eine seit dem frühen 18. Jahrhundert überlieferte Anweisung, die ursprünglich die improvisatorische Realisierung unbezifferter Basslinien erleichtern sollte. Sie hält fest, welcher Akkord üblicherweise über einem Basston gespielt wird

  • je nach der Position dieses Basstons in der jeweils herrschenden Dur- oder Mollskala („Oktave“) und
  • je nachdem, ob dieser Basston schrittweise an- oder absteigt.

So schreibt die Oktavregel z. B. über dem 6. Ton der Tonleiter (z. B. in G-Dur: E), dem ein Sekundschritt zum 5. Ton der Tonleiter folgt, einen Sextakkord oder Terzquartakkord mit großer Sexte vor (also mit G, Cis und eventuell auch A). Geht ein solcher 6. Ton aber schrittweise aufwärts, schreibt die Oktavregel hingegen einen leitereigenen Sextakkord (also mit kleiner Sexte) vor (in G-Dur: E-G-C).

Da Klavierspiel vorgegebener Kompositionen, Generalbassspiel, Improvisation und Komposition erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als getrennte Bereiche galten, spielte die Oktavregel bis dahin in der Didaktik jeder dieser Tätigkeiten eine Rolle.[1] Insbesondere seit Wolfgang Buddays Harmonielehre Wiener Klassik (2002) wird sie in der (hochschulischen) Musikausbildung im deutschsprachigen Raum erneut verstärkt beachtet.[2]

Begriff

Der Ausdruck Oktavregel geht zurück auf den französischen Terminus règle des octaves, der 1716 von François Campion eingeführt wurde.[3] Seine Übertragung ins Deutsche ist im Musiklexikon Heinrich Christoph Kochs (1802) nachweisbar.[4] Im 18. Jahrhundert wurden allerdings sehr unterschiedliche Bezeichnungen verwendet (sofern das Satzmodell überhaupt explizit benannt wurde). Johann David Heinichen, der sich in Der General-Bass in der Composition (1728) ausführlich mit dem Thema auseinandersetzt, spricht von dem Schema einer Tonart.[5] Bei italienischen Musikern (z. B. Fedele Fenaroli) ist oft schlicht von der scala die Rede.[6] Die Bezeichnung scala ist besser nachvollziehbar, denn die Oktave als Intervall spielt bei der Oktavregel kaum eine Rolle und führt oft zu Missverständnissen dieser Lehrmethode.

Varianten

Bei Campion und Fenaroli hat die Oktavregel diese Gestalt:

Dur:

Moll (melodisches Moll):

Demnach wird der 4. Ton der Skala, wenn er aufwärts schreitet, mit einem Quintsextakkord und, wenn er abwärts schreitet mit einem Sekundakkord harmonisiert. Der 6. Ton der Skala, wenn er aufwärts schreitet, mit einem Sextakkord und, wenn er abwärts schreitet, mit einem Terzquartakkord mit großer Sexte begleitet.

Unterschiede gegenüber dieser Variante bieten andere Quellen in bis zu drei Punkten:[7]

  • Sextakkorde anstelle der Terzquartakkorde
  • Steigende 4. Stufe: Terzquint- statt Quintsextakkord
  • Steigende 7. Stufe: Sext- statt Quintsextakkord

Anwendungsbeispiel

Anhand dieser Basslinie soll gezeigt werden, wie die Oktavregel angewendet wird:

Um die Oktavregel auf einen solchen Bass anzuwenden, muss jede Note der Basslinie einer Dur- oder Molltonart zugeordnet werden. So wird festgehalten, welche Tonleiterstufe jeweils vorliegt. Hierbei sind unter Umständen verschiedene Deutungsmöglichkeiten denkbar. So könnte z. B. das D am Ende des 5. Taktes „noch“ in h-Moll verstanden werden und wäre dann eine 3. statt einer 5. Stufe.

Die Akkorde, welche die Oktavregel für jede Tonleiterstufe vorschreibt, unterscheiden sich wie erwähnt bei einigen Stufen je nach der Bewegungsrichtung des Basses. Das C in Takt 1 z. B. ist eine 4. Stufe, die abwärts schreitet: Für diese Situation schreibt die Oktavregel einen Sekundakkord vor. Das G in Takt 3 hingegen ist eine 4. Stufe, die aufwärts schreitet: Für diese Situation schreibt die Oktavregel einen Quintsextakkord vor.

Die vierstimmige Realisierung der Generalbassbezifferung, die anhand der Oktavregel gefunden werden kann, könnte schließlich wie im folgenden Beispiel aussehen. Damit dieses „Aussetzen“ der Bezifferung zu einem stilistisch überzeugenden Ergebnis führt, müssen Prinzipien der Stimmführung und der Dissonanzbehandlung berücksichtigt werden, die dem Bereich der Kontrapunktlehre angehören.

In der Praxis erfolgen die einzelnen Schritte allerdings nicht wie hier dargestellt in verschiedenen Durchläufen: Vielmehr geschehen das Identifizieren der Tonleiterstufe einer Bassnote bzw. des vorliegenden Tonleiterausschnitts und das Greifen der dazugehörigen Akkorde jeweils gleichsam unmittelbar nacheinander. Eine wichtige Übung dazu ist das Spielen der Oktavregel (in ihrer Darstellung als harmonisierte Dur- oder Molltonleiter auf- und abwärts oder von Ausschnitten daraus, z. B. die Folge 5.-6.-7.-1. Stufe) in verschiedenen Tonarten.

Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass nicht jede Basslinie anhand der Oktavregel sinnvoll harmonisiert werden kann: Eine Basslinie kann zahlreiche Patterns wie Sequenzen oder bestimmte Kadenzformen enthalten, die von der Oktavregel nicht „thematisiert“ werden. Diese müssen also jeweils einzeln erlernt werden, damit ihre Unterstimme in einem vorliegenden Bass erkannt und die dazugehörigen Oberstimmen bzw. Akkordfolgen abgerufen werden können.

Ursprung und Rezeption

Als historische Hintergründe der Oktavregel gelten der improvisierte Kontrapunkt (contrapunto alla mente) sowie die römischen und neapolitanischen Generalbass- bzw. Partimento-Traditionen des 17. Jahrhunderts.[8] Demnach ist weder ein konkreter „Erfinder“ noch eine definitive Form des Satzmodells auszumachen. Nach Jean-Jacques Rousseau habe Etienne Denis Delair diese „formule harmonique“ 1700 als Erster veröffentlicht.[9] Als prominente frühe Formulierungen gelten außerdem die Darstellungen von Francesco Gasparini (1708) und Antonio Philippo Bruschi (1711).[10] Auch die Generalbasslehre von Lorenzo Penna (1684) enthält verschiedene Satzmodelle, die in der Oktavregel aufgehoben sind, z. B.:[11]

Fast alle führenden Musiktheoretiker des 18. Jahrhunderts haben die Oktavregel als musikalisches Grundlagenwissen vermittelt. Die Schrift Anfangs-Gründe des Generalbasses des Bachschülers Lorenz Christoph Mizler (1739) demonstriert ihre Bedeutung im Umfeld Johann Sebastian Bachs.[12] Auch dessen Sohn Carl Philipp Emanuel Bach stellt die Oktavregel im Rahmen einer umfassenden Lehre von der Improvisation in seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen vor. Diese Tradition erstreckt sich bis weit ins 19. Jahrhundert (u. a. Ludwig van Beethoven, Luigi Cherubini, Josef Gabriel Rheinberger).[13] Wie Wolfgang Budday gezeigt hat, können sich die Oktavregel und die Funktionstheorie sinnvoll ergänzen. Das Potenzial der Oktavregel im Hinblick auf eine eigenständige Analysemethodik hat insbesondere Ludwig Holtmeier herausgearbeitet.[14]

Einzelnachweise

  1. Vgl. z. B. Andreas Werckmeisters Verständnis eines professionellen Klavierspielers, dargestellt unter: Lutz Felbick: Indizien für die Qualitäten eines Clavier-Spielers nach Andreas Werckmeister 1698/1702.
  2. Siehe z. B. Holtmeier 2011.
  3. Christensen 1992, S. 91.
  4. Koch 1802, Art. Regel der Oktave, Sp. 1240–1241.
  5. Heinichen 1728, S. 744–768.
  6. Fenaroli 1775, S. 9–14. Ebenso Albrechtsberger 1790, S. 11–12.
  7. Siehe Sanguinetti 2012, S. 123.
  8. Holtmeier 2007, S. 10, 13.
  9. Rousseau 1768, S. 405.
  10. Bruschi 1711, S. 36f.; Budday 2002, S. 174; Groth 1989, S. 378f.
  11. Penna 1684, S. 196. Vgl. etwa G. F. Händel: Chaconne in G-Dur (G 228); J. S. Bach: Goldberg-Variationen; J. S. Bach: Verschiedene Canones.
  12. Felbick 2012, S. 185–232.
  13. Holtmeier 2007, S. 7; Holtmeier 2008.
  14. Holtmeier 2011.

Quellen

  • Lorenzo Penna: Li primi albori Musicali Per li Principianti della Musica Figurata. Giacomo Monti, Bologna 1684 (Digitalisat).
  • Francisco Gasparini: L'armonico pratico al cimbalo. Bortoli, Venedig 1708.
  • Antonio Filippo Bruschi: Regole per il contrapunto, e per l'accompagnatura del basso continuo. Venturini, Lucca 1711.
  • Johann David Heinichen (Hrsg.): Neu erfundene und Gründliche Anweisung, Wie Ein Music-liebender auff gewisse vortheilhafftige Arth könne Zu vollkommener Erlernung des General-Basses. Schiller, Hamburg 1711 (Digitalisat).
  • François Campion: Traité d'accompagnement et de composition selon la règle des octaves de musique. G. Adam, Paris 1716, (dazu: Addition au traité d'accompagnement par la règle d'octave. ebenda 1730).
  • Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition. beim Autor, Dresden 1728 (Digitalisat).
  • Lorenz Christoph Mizler: Anfangs-Gründe des Generalbasses, Leipzig 1739 Anfangs-Gründe des Generalbasses Digitalisat.
  • Jean Jacques Rousseau: Dictionnaire de Musique, Paris 1768 ([1] Digitalisat).
  • Francesco Durante: Bassi e Fughe. Un manuale inedito per riscoprire la vera prassi esecutiva della Scuola napoletana del Settecento (= Intelligere & concertare. 7, ZDB-ID 2590225-8). A cura di Giuseppe Alfredo Pastore. Armelin Musica, Padua 2003, (Erstdruck eines Manuskripts aus Neapel, ohne Jahr).
  • Fedele Fenaroli: Regole musicali per i principianti di cembalo, Vincenzo Mazzola-Vocola, Neapel 1775.
  • Giovanni Paisiello: Regole per bene accompagnare il partimento o sia il basso fondamentale sopra il Cembalo (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte. 43 = Praxis und Theorie des Partimentospiels. 1). Herausgegeben nach der Ausgabe St. Petersburg 1782 und der Handschrift Rari 3-4-17 des Conservatoria di Musica Napoli. (Herausgegeben von Ludwig Holtmeier, Johannes Menke und Felix Diergarten). Noetzel, Wilhelmshaven 2008, ISBN 978-3-7959-0905-5.
  • Johann Georg Albrechtsberger: Gründliche Anweisung zur Composition […]. Breitkopf, Leipzig 1790.
  • Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon […]. Frankfurt 1802.

Literatur

  • Lutz Felbick: Lorenz Christoph Mizler de Kolof. Schüler Bachs und pythagoreischer „Apostel der Wolffischen Philosophie“ (= Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, Leipzig. Schriften. Bd. 5). Georg-Olms-Verlag, Hildesheim u. a. 2012, ISBN 978-3-487-14675-1 (Zugleich: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, Dissertation, 2011). pdf Online-Version.
  • Ludwig Holtmeier, Felix Diergarten: Partimento. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Band 26: Supplement. 2., neubearbeitete Ausgabe. J. B. Metzler, Stuttgart u. a. 2008, ISBN 978-3-7618-1139-9, Sp. 653–659.
  • Carl Dahlhaus: Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität. 1966, (Kiel, Universität, Habilitations-Schrift, 1966).
  • Giorgio Sanguinetti: The Art of Partimento. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-539420-7.
  • Thomas Christensen: The „Règle de l'Octave“ in Thorough-Bass Theory and Practice. In: Acta Musicologica. Bd. 64, Nr. 2, 1992, S. 91–117, doi:10.2307/932911.
  • Ludwig Holtmeier: Heinichen, Rameau, and the Italian Thoroughbass Tradition: Concepts of Tonality and Chord in the Rule of the Octave. In: Journal of Music Theory. Bd. 51, Nr. 1, 2007, S. 5–49, doi:10.1215/00222909-2008-022.
  • Renate Groth: Italienische Musiktheorie im 17. Jahrhundert. In: Frieder Zaminer, Thomas Ertelt (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie. Band 7: Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert. Antikenrezeption und Satzlehre. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, ISBN 3-534-01207-0, S. 307–379.
  • Robert O. Gjerdingen: Music in the Galant Style. Oxford University Press, New York u. a. 2007, ISBN 978-0-19-531371-0.
  • Ludwig Holtmeier: Oktavregel (Regola dell'ottava, règle de l'octave). In: Heinz von Loesch, Claus Raab (Hrsg.): Das Beethoven-Lexikon (= Das Beethoven-Handbuch. Bd. 6). Laaber-Verlag, Laaber 2008, ISBN 978-3-89007-476-4.
  • Hans Aerts: ‚Thoroughbass in Practice, Theory, and Improvisation‘. International Orpheus Academy for Music & Theory 2006, Orpheus Instituut, Gent, 5. bis 8. April 2006. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH). Bd. 3, Nr. 3, 2006, ISSN 1862-6742, S. 359–361 (online).
  • Ludwig Holtmeier: Funktionale Mehrdeutigkeit, Tonalität und arabische Stufen. Überlegungen zu einer Reform der harmonischen Analyse. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH). Bd. 8, Nr. 3, 2011, ISSN 1862-6742, S. 465–487, (online).
  • Markus Jans: Towards a History of the Origin and Development of the Rule of the Octave. In: Towards Tonality. Aspects of Baroque Music Theory (= Collected Writings of the Orpheus Institute. 6). Leuven University Press, Leuven 2007, ISBN 978-90-5867-587-3, S. 119–143.
  • Wolfgang Budday: Harmonielehre Wiener Klassik. Theorie, Satztechnik, Werkanalyse (= Musiktheorie historisch. 1). Berthold Schwerdtner, Stuttgart 2002, ISBN 3-00-008998-5.

Weblinks