Oberdeutscher Präteritumschwund

Als Oberdeutschen Präteritumschwund, seltener auch allein Präteritumsschwund, bezeichnet man das Verschwinden des Präteritums in den oberdeutschen (Alemannisch und Bairisch) und einigen mitteldeutschen Dialekten. In gewissen Regionen dieses Sprachraums besitzen zwar die Kopula sein sowie einige Hilfs- und Modalverben noch einfache Vergangenheitsformen, in anderen wiederum wie dem alemannischen Schweizerdeutsch ist das Präteritum vollständig vom Perfekt abgelöst worden. Kaj Lindgren stellt ein Zurückweichen des Präteritums zugunsten des Perfekts im Oberdeutschen seit dem 13. Jahrhundert fest; für die Mundarten des Hochalemannischen erfolgte dieser Prozess nach Ruth Jörg vorwiegend im 16. Jahrhundert, wobei einzelne Spuren von Präteritumsformen im Höchstalemannischen noch bis ins 19. Jahrhundert (Berner Oberländisch) und 20. Jahrhundert (Saleydeutsch) fassbar sind.[1]

Als Grund für diesen Ausfall werden verschiedene Faktoren genannt:

  • die oberdeutsche Apokope, also der Schwund des Endungs-e in den Präteritalformen der 3. Person Singular und damit der Gleichklang von Präsens und Präteritum in der häufigsten Verbalform der Alltagssprache, z. B. er lebt – er lebte > er lebt – er lebt
  • die Umfunktionierung des Dentalsuffixes -t- zum reinen Konjunktivmarker, was die Aufgabe der Funktion als Präteritalmarker erzwang, z. B. er lebte (Ind. Prät.) vs. er lebete (Konj. Prät.), nach der Apokope: er lebt (Ind. Präs.) vs. er lebet (Konj.)
  • der Auftritt einer zusammengesetzten bzw. analytischen Präteritalform, nämlich des Perfekts, ab dem Mittelhochdeutschen. Dadurch erst konnte auf die ehemals einzige Präteritalform, nämlich das synthetische Imperfekt, verzichtet werden, ohne die Kategorie Tempus im sprachlichen Ausdruck aufgeben zu müssen.

Im Oberdeutschen gibt es damit im Wesentlichen nur eine Präteritalform, nämlich das Perfekt mit den Hilfsverben haben und sein, wozu noch das doppelte Perfekt tritt. Der synthetische Konjunktiv ist außerdem häufiger im Gebrauch als in anderen deutschen Dialekten, die diesen Modus zumeist aufgegeben haben, um einen Zusammenfall mit dem Präteritum zu vermeiden.

Literatur

  • Robert Peter Ebert, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Niemeyer, Tübingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A. 12), S. 388 f. (Forschungsüberblick mit weiterführender Literatur).
  • Hanna Fischer: Präteritumschwund in den Dialekten Hessens. Eine Neuvermessung der Präteritalgrenze(n). In: Michael Elmentaler, Markus Hundt, Jürgen E. Schmidt (Hrsg.): Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder. Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). Stuttgart 2014. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte.
  • Gertrud Frei: Walserdeutsch in Saley. Wortinhaltliche Untersuchungen zu Mundart und Weltsicht der altertümlichen Siedlung Salecchio/Saley (Antigoriotal). Haupt, Bern/Stuttgart 1970 (Sprache und Dichtung 18), S. 362–371 (Überlegungen zum Präteritumsschwund aus der Perspektive der einzigen oberdeutschen Mundart, in welcher dieser vollständig ausgeblieben ist; vgl. Alemannische Grammatik#Tempus).
  • Ruth Jörg: Untersuchungen zum Schwund des Präteritums im Schweizerdeutschen. Francke, Bern 1976 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 52).
  • Jean Langenberg: Der Präteritumschwund in der deutschen Literatursprache: Ein Vergleich der Literatur des 18. und 21. Jahrhunderts. AV Akademikerverlag, Saarbrücken 2012.
  • Kaj Lindgren: Über den oberdeutschen Präteritumsschwund. Helsinki 1957 (Acta Academiae Scientiarum Fennica B.112/1).
  • Anthony Rowley: Das Präteritum in den heutigen deutschen Dialekten. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 50. Jahrg., H. 2 (1983), S. 161–182.
  • Pavel Trost: Präteritumsverfall und Präteritumsschwund im Deutschen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 47. Jahrg., H. 2 (1980), S. 184–188.

Einzelnachweise

  1. Ruth Jörg: Untersuchungen zum Schwund des Präteritums im Schweizerdeutschen. Bern 1976, vor allem S. 174–185.