Nyūnai suzume

Der Nyūnai suzume, wie er in Sekiens Konjaku Gazu Zoku Hyakki dargestellt ist.
Nyūnai suzume, wie sie in Yoshitoshis Shinkei Sanjūrokkai-Sen erscheinen.

Der Nyūnai suzume (入内雀; „Palaststürmer-Spatz“), auch Sanekata suzume (実方雀; „Spatz des Sanekata“) genannt, ist ein fiktives Wesen der japanischen Folklore aus der Gruppe der Yōkai. Er soll zwar aufdringlich und penetrant sein, dem Menschen selbst aber nicht schaden. Stattdessen ist der Nyūnai suzume für seine Zerstörungswut und Gefräßigkeit gefürchtet.

Beschreibung

Der Nyūnai suzume soll in Gestalt des Rötelsperlings (Passer cinnamomeus) erscheinen, aber deutlich größer sein und gespenstisch glühen. Er kann einzeln oder in Schwärmen auftreten und große Verwüstungen anrichten. Es heißt, dass er binnen weniger Minuten ganze Reis- und Getreidefelder plündern und sogar Vorratskammern leerräumen kann. Der Nyūnai suzume ist der Folklore nach die dämonische Reinkarnation des angeblich im Exil gestorbenen Dichters Fujiwara no Sanekata.

Legende

Fujiwara no Sanekata wurde posthum durch eine düstere Legende aus der Tōhoku-Region bekannt, die ihm wahrscheinlich von Neidern im wahrsten Sinne des Wortes angedichtet wurde: Während der Herrschaft des Tennō Ichijō (Heian-Zeit) galt Sanekata als begnadeter, aber leicht kränkbarer Dichter. Mit seinem ärgsten Rivalen, Fujiwara no Yukinari, lieferte er sich am kaiserlichen Hof aufsehenerregende Poesie-Wettkämpfe und buhlte mit ihm um die Gunst der Dichterin Sei Shōnagon.[1][2]

Die Legende besagt, dass Sanekata und Yukinari sogar so weit gingen, dass sie gegenseitig Schreibutensilien und/oder Schreibentwürfe sabotierten. Eines Tages aber soll Sanekata zu weit gegangen sein, angeblich riss er Yukinari den Prachthut vom Kopf und zertrat ihn mitten im Hof des Kaiserpalastes. Wegen seines Jähzorns und vorausgegangener Handgreiflichkeiten sei Sanekata bei Hofe bereits in Ungnade gefallen und bei der letzten Eskalation wurde er zur Strafe ins Exil geschickt. Er soll auf eine kleine Insel in der Provinz Mutsu verbannt worden sein, wo er drei Jahre später voller Bitterkeit und Groll starb. Sein Herz war der Sage nach so von Rachsucht und Missgunst zerfressen, dass sein Geist sich in einen Yōkai verwandelte und die Gestalt eines rasenden Spatzenschwarms annahm. Dieser flog bis nach Kyōto zum Kaiserpalast, drang in Küche und Speisesaal ein und verwüstete und verdreckte die gesamte Einrichtung. Sogar die Vorratskammern wurden geplündert.[1][2]

Als sich der Vorfall mehr als einmal wiederholte, ließ der Tennō schließlich den Priester Kanichi Shōnin (上人観智) kommen und erbat dessen Rat. In einer Traumvision gelang es Shōnin, die Spatzen zu befragen, wer sie seien und warum sie sich so aufführten. Die Spatzen erzählten dem Priester schließlich von Sanekatas Schicksal. Am nächsten Morgen entdeckte der Priester nahe eine einem Waldstück einen toten Spatzen. Der Priester trug das Erlebte dem Tennō vor und riet dem kaiserlichen Hof, Sanekata zu vergeben und ihn würdevoll zu bestatten. Dies geschah auch und gleich neben Sanekatas Grab wurde ein kleiner Tempel errichtet. Seither soll es keine Überfälle durch Spatzenschwärme mehr gegeben haben.[1][2]

Hintergrund

Der japanische Dichter und Aristokrat Fujiwara no Sanekata hat wirklich existiert. Er lebte ungefähr von 956 bis 999 n. Chr. (seine Lebensdaten sind allerdings umstritten) und wurde als Meister des sogenannten Waka (和歌), einer Form von Gedicht, berühmt. Er und einige andere Dichter machten die Verskunst des Imayō (今様) populär. Sanekata stieg schon in jungen Jahren zum Kommandeur der kaiserlichen Leibgarde zur Linken 2. Klasse auf und war ab 993 bis zu seinem Tod etwa 6 Jahre lang der Gouverneur der historischen Provinz Mutsu.[3] Und tatsächlich war Sanekata für seinen ungestümen und nachtragenden Charakter gefürchtet. Obwohl er mit seinen Haikus und Kurzgedichten zu schmeicheln und unterhalten wusste, sah sich der Kaiserpalast angeblich genötigt, den Dichter zu versetzen. In Wirklichkeit hatte Sanekata sich aus beruflichen wie familiären Gründen freiwillig versetzen lassen. Unbelegt bleiben auch die Unterstellungen jeglicher Handgreiflichkeiten und es liegen keinerlei staatlichen Dokumente über eine Spatzeninvasion im Kaiserpalast vor.[4][5]

Auch die Dichterin Sei Shōnagon hat wirklich gelebt und sogar Schmachtbriefe von Sanekata aufbewahrt. Sanekata starb jedoch überraschend und relativ jung, als Shōnagon an ihrem berühmten Kopfkissenbuch schrieb.[3] Auch den Tempel aus der Legende gibt es wirklich: Er heißt Suzume-dera (雀寺; „Tempel der Spatzen“) und steht heute im Stadtbezirk Sakyō von Kyōto.[6]

Eine bekannte Abbildung des Nyūnai suzume erscheint in dem Sammelband Konjaku Gazu Zoku Hyakki (今昔画図続百鬼; Bilderbuch der 100 Dämonen von einst und jetzt) von Toriyama Sekien aus dem Jahr 1779. Sekiens Zeichnung zeigt Fujiwara no Sanekata, während dessen Seele in Gestalt eines Spatzenschwarms entweicht. Der knapp gehaltene Begleittext beschreibt Sanekatas Verbannung nach Ōshū und erwähnt seine Zuwendung zu Spatzen.[4] Eine weitere bekannte Darstellung findet sich im Sammelband Shinkei Sanjūrokkai-Sen (新形三十六怪撰; Neue Formen der 36 Geister) von Tsukioka Yoshitoshi aus dem Jahr 1890. Yoshitoshis Bild trägt den Titel Sanekatas Besessenheit von den Spatzen.[5]

Literatur

  • Hiroko Yoda, Matt Alt: Japandemonium Illustrated: The Yokai Encyclopedias of Toriyama Sekien. Dover Publications, New York/Mineola 2017, ISBN 978-0-486-80035-6.
  • Murakami Kenji: 京都妖怪紀行 地図でめぐる不思議・伝説地案内. Kadokawa Shoten, Tokio 2007, ISBN 978-4-04-710108-1.
  • Murakami Kenji: 妖怪事典. Mainichi shinbun, Tokio 2000, ISBN 978-4-620-31428-0.
  • Peter Macmillan: One Hundred Poets, One Poem Each: A Treasury of Classical Japanese Verse. Penguin Publishing Group, London (UK) 2018, ISBN 978-0-14-139593-7.
  • Michael Stein, Sei Shōnagon: Kopfkissenbuch. Manesse Verlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-641-17225-1.

Einzelnachweise

  1. a b c Peter Macmillan: One Hundred Poets, One Poem Each..., London (UK) 2018, S. 102–104.
  2. a b c Murakami Kenji: 京都妖怪紀行 地図でめぐる不思議..., Tokio 2007, S. 62–64.
  3. a b Michael Stein, Sei Shōnagon: Kopfkissenbuch. Zürich 2015, S. 32, 85 u. 135.
  4. a b Hiroko Yoda, Matt Alt: Japandemonium Illustrated..., Mineola 2017, S. 97.
  5. a b Murakami Kenji: 妖怪事典. Tokio 2000, S. 106.
  6. Yamatani Kazuya: 続・駅名ものがたり 叡山本線・鞍馬線に沿って. Kagikō, Kyōto 1992, ISBN 4-7970-4901-4, S. 120.

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