Novellae

Die novellae (der Schlussteil der justinianischen Gesetzessammlung) und Bestandteil des seit 1583 nach Dionysius Gothofredus so genannten Corpus iuris civilis; hier als Auszug aus dem Authenticum (Gothofredus, 1614.)

Die Novellae (kurz: NJ, hergeleitet aus Novellae Iustiniani; gelegentlich: Nov.)[1] sind eine teilweise in Latein, vornehmlich aber in Griechisch[2] gehaltene Sammlung von Nachtragsgesetzen (leges novellae) aus der iustinianischen Zeit nach 535. Sie sind Anhangsbestandteil des später so genannten Corpus iuris civilis,[3] zu dem auch die Institutionen (Lehr- und Lernmaterial für Studienanfänger), die Digesten (Unterrichtsstoff für Fortgeschrittene) und der Codex Iustinianus, der ausgewählte kaiserliche Anordnungen von Hadrian bis Justin I. enthielt, gehören.[4]

Die Gesetzessammlung repräsentiert einen Querschnitt durch alle gesellschaftlichen Lebensfragen der Zeit. Den hohen Privatwirtschafts- und Handelsbedürfnissen ist mit knapp einem Drittel aller Regelungen Rechnung getragen. Den größten Handlungsbedarf erkannte Justinian jedoch im allgemeinen Ordnungsrecht, das er akribisch hoheitlich ausstattete. Da die spätantike Kaiserzeit ihren Beamtenapparat mit einem hohen administrativen Aufwand betrieb, entfiel knapp die Hälfte aller Vorschriften auf die Organisation der Reichsverwaltung, das heißt Zuteilung der Amtsbefugnisse im Reich und in den Provinzen, die Versorgung des Militärs und Klarstellungen im Gerichts- und Steuerwesen. Im Übrigen werden Fragen der Organisation und der Vermögensausstattung der Kirche geregelt, wobei auch Anforderungen an Sitte und Moral formuliert werden. Die Regelungen beziehen „alle Untertanen“ ein, kennen bisweilen Ausnahmen und sind regelmäßig durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichnet. Justinian hielt sein rechtliches Instrumentarium weitgehend flexibel und steuerbar, um anstehende Veränderungen bewältigen zu können, insbesondere bei Betroffenheit unmittelbarer Staatsinteressen. Andererseits waren Regelungen aber auch statisch und häufig unscheinbar, insbesondere dann, wenn die Interessenlage privatrechtlicher Natur war.[5]

Form, Inhalt und Bedeutung

Novellae ist kein Gesetzesbegriff des Kaisers selbst, die Bezeichnung findet sich vornehmlich im Rechtsunterricht. In überwiegenden Teilen ist die Gesetzessammlung in anderen Sammlungen handschriftlich überliefert, zudem inschriftlich bezeugt.[6]

Die Abfassung der Gesetze in Griechisch bedeutete eine Kehrtwende in der juristischen Fachsprache. Latein wurde als Gesetzessprache verdrängt, gleichwohl Wolfgang Kaiser mit seinen spezifischen Untersuchungen davon ausgeht, dass reichsweite Novellen grundsätzlich zweisprachig verfasst wurden.[7] Die erhalten gebliebenen Konstitutionen sind in Italien und Nordafrika nachweislich in Latein, die Novellen, die sich auf östliche Provinzen beschränken, auf Griechisch verfasst. Paraphrasen und Kommentare wurden in Griechisch eingefügt. Leo VI. unterzog das justinianische Gesamtwerk einer Revision; das Ergebnis veröffentlichte er nebst Anmerkungen und Hinweisen als Basiliken[8] ().

Zwar war die große Kodifikation publiziert worden, infolge fortlaufender Reformgesetzgebungen wurde jedoch eine zweite Fassung des Codex Iustinianus nötig, damit der Anspruch auf ein umfassend geltendes Gesamtrecht erhalten bleiben konnte. 534 wurde deshalb der Codex repetitae praelectionis präsentiert. Da der Kaiser mit teils umfangreichen Einzelgesetzen in den Bestand der Rechtsordnung eingegriffen hatte und insbesondere Teilgebiete des Privatrechts, vornehmlich des Familien- und Erbrechts neu ordnen ließ, bedurfte es ergänzender Nachtragsgesetze (novellae).[1] Justinian passte die Gesetzgebung häufig an die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an. Zwischen 535 bis 539 erließ er reihenweise Novellen. Die Regelungen enthielten häufig keine neuen Grundsätze, aber situativ erforderliche Maßnahmen verlangten aus seiner Sicht immer wieder eines gesetzlichen Formats. Mit Inkrafttreten des „neuen“ Codex wurden Ende 534 auch die ersten Novellae promulgiert. Wenngleich in Aussicht genommen, wurden die Gesetzesnachträge während Justinians Regentschaft[1] wohl nie offiziell kompiliert.[9]

Die Forschung geht bis heute davon aus, dass sich die Novellen erstmals in Privatsammlungen wiederfinden, die andere Namen tragen, so beispielsweise Epitome Iuliani und Authenticum.[6] Die Niederschrift der Epitome gilt für das Jahr 556 als nachgewiesen, für das Authenticum besteht in der Forschung lediglich eine Vermutung für dasselbe Verkündungsjahr. Einen ursprünglich ganzheitlichen Überblick über alle Novellen im jeweils ursprünglichen Urtext (in Latein beziehungsweise Griechisch) verschaffte einst die sogenannte griechische Novellensammlung, bezeichnet wird sie zumeist als Collectio CLXVIII Novellarum. Sie umfasste wohl 168 Novellae, weil neben den justinianischen (zuzüglich der dreizehn Novellen, die anhangsweise zur Edicta Iustiniani verarbeitet worden waren) noch Konstitutionen der kaiserlichen Nachfolger Justin II. und Tiberios II. enthalten waren, ja sogar drei bloße Edikte von Prätorianerpräfekten (praetorii).[10][1][7]

Thematisch kennen die Novellen keine Einschränkungen. Die behandelten Lebenssachverhalte sind aus allen Bereichen des Rechtsalltags geschöpft, so finden kirchenrechtliche, verwaltungsrechtliche, steuerrechtliche, strafrechtliche Auseinandersetzungen statt, ebenso natürlich zivil- wie zivilprozessrechtliche. Trotz der wachsenden Bedeutung des Kirchenrechts und Justinians Interesse an theologischen Materialien und Korrespondenzen mit den Päpsten seiner Zeit, so Johannes II., Agapitus I. und Vigilius, wurde in die Novellen davon nichts aufgenommen.[6] Im Übrigen sind die Novellen so miteinander verbunden, dass sie etliche Bezüge untereinander herstellen. Der Diskurs erstreckt sich aber auf den Codex, die Institutionen und die Digesten. Gelegentlich wird auf vorjustinianisches Recht reflektiert. M. T. Fögen reiht die Topoi der Novellen so auf: „Menschliches Zusammenleben bedarf einer guten Ordnung“, „die Ehe ist höchst ehrwürdig“, „Traditionen werden nicht abgeschafft, allenfalls verbessert“, „Kaiser und Kirche stimmen nutzbringend überein“, „Gottes Hilfe macht das Reich mächtig“ und „andere Völker sind Barbaren“.[11]

Wie ihr Inhalt, sind auch Anlass und Zielsetzung der Novellen vielgestaltig. Erstmalig eröffnet ein Kaiser seinen Gesetzeskatalog – neben Namen und Titulatur (intitulatio)[12] – mit der Anrufung Christi, der sogenannten invocatio. Zwar praktizierte Justinian das wohl schon seit 533, so etwa 534 auch beim Promulgationsgesetz Constitutiones Cordi für den Codex repetitae lectionis (zweite Fassung des Codex Iustinianus), aber Verkündungen mit der Spruchformel in nomine Domini nostri Iesu Christi waren eine Neuerung von ihm.[13]

Gewöhnlicherweise ist eine Novelle einzelfallbezogen, ausgewiesen werden individualisierte Adressaten, genannt beim Hauptnamen, allen seinen (auch stattgehabten) Amtsbezeichnungen und seinem Rang. In sehr seltenen Fällen sind mehrere Personen genannt. Der Kaiser wird zudem an drei Stellen persönlich: in der inscriptio (zum Adressaten), in der dispositio (zur Anordnung, Verfügung) sowie in der salutatio (zum Gruß am Schluss). Hochrangige (kirchliche) Würdenträger werden dabei mit pater oder parens angesprochen, niederrangigere, wie Provinzstatthalter, mit frater.[6]

Justinians Streben nach der Vereinheitlichung allen Rechts, wurde von der Kirche aufgegriffen. Er eröffnete dem Recht den Weg zu einer christianisierten Weltanschauung, weshalb summarisch attestiert werden kann, dass das weltliche und das kirchliche Recht unter seiner Ägide zusammenzuwachsen begannen.

Nicht zu verwechseln sind die Novellae mit den Leges novellae, die sich auf die Gesetzgebung der Kaiser Theodosius II., Valentinian III. und Majorian beziehen.

Wirkungsgeschichte

Um Juristen, die mit der Novellensammlung arbeiteten, eine systematische Orientierung zu geben und Breitenwirkung zu erzielen, wurden früh Bücher zur Erleichterung der Rechtspraxis geschaffen. Zeugnis davon gibt vornehmlich das Novellensyntagma des Athanasios von Emesa, dessen Entstehung im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts liegt. Als Arbeitsgrundlage verwendete er – entkleidet um alle Proömien, Epiloge und Sprachornate des Grundstoffs – die Collectio CLXVIII Novellarum.[14]

Der Athanasiostext lässt zahlreiche Weiterverarbeitung erkennen, reflektiert werden sie durch zahlreiche Glossen und Transkriptionen. Die Bearbeitungen legen zudem nahe, dass sie mehreren Benutzerschichten unterworfen sind, anders gesagt, aus mehreren Zeitabschnitten stammen und von verschiedenen Autoren herrühren. Die Wirkungsgeschichte des Syntagma war aber nicht allein wegen ihrer Verwendung zum Zwecke der Identifikation der Novellen (aktuelle Benutzung) bedeutsam, sondern auch weil der Text als Grundlage für die folgenden Weiterverwertungen diente. Damit war er prägend für die byzantinische Literaturgeschichte an sich. Sehr beliebt anfänglich, ließ die Beschäftigung mit dem Athanasiostext schnell nach, wurde während der Renaissance des justinianischen Rechts von den Makedonen aber wieder aufgegriffen. Allerdings fanden die Bearbeitungen keinen nennenswerten Niederschlag in den Hauptwerken der Zeit, etwa der Eisagoge oder dem Prochiron beziehungsweise den bereits genannten Basiliken. Erst die Epitome Legum und der Prochiron auctum zeigen wieder nachweislich auf, dass der Athanasiostext erneut abgeschrieben wurde und damit die Diskussion über die Novellen anregte.[14]

Quellen und Literatur

Edition

Literatur

  • Wolfgang Kaiser: Authentizität und Geltung spätantiker Kaisergesetze (= Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte. Heft 96). Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55121-5, S. 251 ff.
  • Wolfgang Kaiser: Die Zweisprachigkeit reichsweiter Novellen unter Justinian. Studien zu den Novellen Justinians. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Bd. 129, Heft 1, 2012, S. 392–474, doi:10.7767/zrgra.2012.129.1.392.
  • Wolfgang Kaiser: Wandlungen im Verständnis der Epitome Iuliani von der Spätantike bis zur Gegenwart, in: Martin Avenarius (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts, Baden-Baden 2008, S. 300–353.
  • Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 11, S. 208–223 (Die Rechtsentwicklung der Spätzeit bis auf Justinian).
  • Leopold Wenger: Die Quellen des römischen Rechts. (Schriftenreihe: Denkschriften der Gesamtakademie / Österreichische Akademie der Wissenschaften). Holzhausen, Wien 1953.
  • Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung (= Jurisprudenz in Einzeldarstellungen. Band 7, ZDB-ID 501118-8). 2., neubearbeitete Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967.
  • Bastian Zahn: Einführung in die Quellen des römischen Rechts. In: JURA – Juristische Ausbildung, 2015, S. 453 f.

Weblinks

Anmerkungen

  1. a b c d Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 11, S. 221–223 (Die Rechtsentwicklung der Spätzeit bis auf Justinian).
  2. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht. Böhlau, Wien 1981 (9. Aufl. 2001), ISBN 3-205-07171-9, S. 55 f.
  3. Corpus Iuris Civilis ist kein zeitgenössischer Begriff, er entstammt der humanistischen Epoche des ausklingenden 16. Jahrhunderts und wurde durch Dionysius Gothofredus im Jahr 1583 geprägt.
  4. Heinrich Honsell: Römisches Recht. 5. Auflage, Springer, Zürich 2001, ISBN 3-540-42455-5, S. 17 f.
  5. Marie Theres Fögen: Gesetz und Gesetzgebung in Byzanz. Versuch einer Funktionsanalyse. In: Ius Commune, hrsg. von Dieter Simon, Band 14. Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1987. S. 137–158 (140 ff.).
  6. a b c d Wolfgang Kaiser: Zur äußeren Gestalt der Novellen Justinians (2011)
  7. a b Wolfgang Kaiser: Die Zweisprachigkeit reichsweiter Novellen unter Justinian. Studien zu den Novellen Justinians I. (online); siehe auch Literaturhinweis
  8. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 2 Rnr. 3, S. 21.
  9. Tony Honoré: Justinian’s Codification in: The Oxford Classical Dictionary 803 (Hrsg: Simon Hornblower und Antony Spawforth), 2003; Timothy G. Kearley: The Creation and Transmission of Justinian’s Novels.
  10. Festgehalten bereits bei, Friedrich August Biener: Geschichte der Novellen Justinians. Berlin 1824 (Nachdruck 1970) S. 17 f.
  11. Marie Theres Fögen: Gesetz und Gesetzgebung in Byzanz. Versuch einer Funktionsanalyse. In: Ius Commune, hrsg. von Dieter Simon, Band 14. Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1987. S. 137–158 (147).
  12. Imperator Caesar Flavius Iustinianus, Alamannicus Gothicus Francicus, Germanicus Anticus Alanicus Vandalicus, Africanus pius felix inclitus victor ac triumphator semper augustus
  13. Gerhard Rösch: Onoma basileias. Studien zum offiziellen Gebrauch der Kaisertitel in spätantiker und frühbyzantinischer Zeit (= Byzantina Vindobonensia. Band 10). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1978, ISBN 3-7001-0260-7. S. 101 (FN 15).
  14. a b Dieter Simon, Spyros Troianos: Das Novellensyntagma des Athanasios von Emesa (Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte). Löwenklau-Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989. ISBN 978-3-92361511-7. Einleitung VIII, X–XII. (online)

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