Neuralrohrdefekt

Klassifikation nach ICD-10
O35.0Betreuung der Mutter bei (Verdacht auf) Fehlbildung des Zentralnervensystems beim Feten
Q00Anenzephalie und ähnliche Fehlbildungen
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Unter dem Oberbegriff Neuralrohrdefekt (NRD) oder Neuralrohrfehlbildung werden jene Fehlbildungen zusammengefasst, bei denen es in der Embryonalentwicklung zu einem unvollständigen Verschluss des Neuralrohrs gekommen ist.

Zu den häufigsten Neuralrohrfehlbildungen gehören die Anenzephalie (bei der sich wesentliche Teile des Gehirns, der Hirnhäute und der darüber liegenden Schädelknochen und Haut nicht entwickeln) und die Spina bifida aperta (eine entsprechende, unterschiedlich stark ausgeprägte Fehlbildung im Bereich der Wirbelsäule).

Embryologie

Die entscheidende Zeitspanne ist jene vom 22. bis 28. Tag (der beginnenden Organentstehung), die im Bereich des ZNS mit der „primären Neurulation“ beginnt. Nachdem unter dem Einfluss der Chorda dorsalis aus dem Ektoderm die (kranial breitere) Neuralplatte entstanden ist, bilden sich noch im Verlauf der dritten Woche aus den Rändern der Neuralplatte die Neuralfalten, zwischen denen jetzt eine Neuralrinne liegt.[1] Ab dem 22. Tag nähern sich diese Neuralfalten einander an und verschmelzen zum Neuralrohr, aus dessen Lumen sich das Ventrikelsystem des Gehirns und Rückenmarks bilden wird.

Häufigkeit

Neuralrohrdefekte treten (regional unterschiedlich häufig) bei 1 bis 5/1000 Lebendgeburten auf. Die Gesamtinzidenz müsste dabei wesentlich höher angesetzt werden, würde man auch Schwangerschaften mit einschließen, die (aufgrund der diagnostischen Abklärung im Rahmen der Schwangerschaftsuntersuchungen) vorzeitig beendet werden.[2]

Zudem gibt es regionale Unterschiede in der Häufigkeit, weil zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen der Exposition von Autoabgasen in der Frühschwangerschaft und dem Auftreten von Neuralrohrdefekten gefunden werden konnten.[3]

Diagnose

Schon 1983 konnte gezeigt werden, dass die Ultraschall-Untersuchung von Müttern mit hohem Risiko für Neuralrohrdefekte – d. h. Frauen mit erhöhtem Alpha-1-Fetoprotein – ausreichend genaue Aussagen über das Vorliegen einer Fehlbildung ermöglicht.[4]

Der ICD-10-Code O35.0 wird angegeben bei der Betreuung der werdenden Mutter bei „Verdacht auf Fehlbildung des Zentralnervensystems beim ungeborenen Kind (Anenzephalie oder Spina bifida aperta)“.
Beim Kind selbst kommt als Diagnoseschlüssel Q00 („Anenzephalie und ähnliche Fehlbildungen“) zum Einsatz.

Folsäure

Die Einnahme von Folsäure in der Frühschwangerschaft reduziert die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer Neuralrohrfehlbildung beim Kind erheblich, wobei die Einnahme eines entsprechenden Präparates bereits im Vorfeld der Schwangerschaft bzw. innerhalb der ersten vier Schwangerschaftswochen beginnen muss, um effektiv zu sein. Allerdings ist die Schwangerschaft in dem entscheidenden Zeitraum oft noch gar nicht bekannt.

In Kanada wurde ab 1994 versucht, offene Neuralrohrdefekte durch die Gabe von Folsäure vor der Empfängnis zu vermindern, wobei deren Häufigkeit (in Neuschottland) statistisch nicht signifikant von 2,55 pro 1000 Geburten (Lebend- und Totgeburten im Zeitraum von 1991 bis 1994) auf 2,61/1000 (1995–1997) anstieg (RR 1,02). Erst mit der Anreicherung von Getreideprodukten ab November 1998 wurde deren Auftreten deutlich vermindert (1,17 pro 1000 Geburten im Zeitraum 1998–2000, RR 0,46).[5]

In den USA ist seit 1996 durch die FDA eine Anreicherung von Brot, Cerealien, Mehl und anderen Getreideprodukten vorgeschrieben.[6][7]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Kohei Shiota, John M. Opitz: Neural tube defects and maternal hyperthermia in early pregnancy: Epidemiology in a human embryo population. In: American Journal of Medical Genetics, 12, 1982, S. 281; doi:10.1002/ajmg.1320120306.
  2. A. Pollak et al.: Richtlinien zur Prävention von Neuralrohrdefekten durch perikonzeptionelle Folsäuresubstitution. (PDF) Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, Ernährungskommission und Österreichische Gesellschaft für prä- und perinatale Medizin
  3. A. M. Padula, I. B. Tager, S. L. Carmichael, S. K. Hammond, F. Lurmann, G. M. Shaw: The Association of Ambient Air Pollution and Traffic Exposures With Selected Congenital Anomalies in the San Joaquin Valley of California. In: American Journal of Epidemiology, 2013, 177 (10), S. 1074–1085. doi:10.1093/aje/kws367.
  4. C. J. Roberts u. a.: Diagnostic effectiveness of ultrasound in detection of neural tube defect. The South Wales experience of 2509 scans (1977–1982) in high-risk mothers. In: Lancet. 1983. PMID 6138609.
  5. L. Vidia u. a.: Incidence of open neural tube defects in Nova Scotia after folic acid fortification. In: CMAJ, 2002 (Nova Scotia: Häufigkeit offener Neuralrohrdefekte vor und nach Getreideanreicherung mit Folsäure; englisch)
  6. S. Daly, J. L. Mills u. a.: Minimum effective dose of folic acid for food fortification to prevent neural-tube defects. In: Lancet, Band 350, Nr. 9092, Dezember 1997, S. 1666–1669, ISSN 0140-6736. doi:10.1016/S0140-6736(97)07247-4. PMID 9400511.
  7. S. W. Junod: Folic Acid Fortification: Fact and Folly. FDA; abgerufen am 2012-Sep-11