Nestbeschmutzer

Als Nestbeschmutzer werden abwertend Menschen bezeichnet, die das soziale, wirtschaftliche oder politische System (Familie, Berufsumfeld, Dorf, Stadt, Unternehmen, Staat etc.), in dem sie selbst leben oder tätig sind, kritisieren oder Missstände aufzeigen. Gegenstück mit positiver Besetzung ist Whistleblower. Die Bezeichnung eines Menschen als Nestbeschmutzer ist spätestens um das Jahr 1900 aufgekommen.[1]

Älter, aber in gleicher Bedeutung gebraucht, ist die Redensart „das eigene Nest beschmutzen“. Sie bedeutet „abwertend über die eigene Familie oder die Gemeinschaft, in der man lebt, sprechen“;[2][3] sie lässt sich ab dem Spätmittelalter nachweisen.[4][5]

Herkunft

Ab dem Spätmittelalter ist die Redensart „das eigene Nest beschmutzen“ oder „ins eigene Nest scheißen“ sicher zu belegen. Diese Verwendung geht auf die in der Zoologie des Mittelalters dem Wiedehopf fälschlich zugeschriebene Eigenschaft, sein eigenes Nest zu beschmutzen, zurück.

Der Dichter Muskatblüt (um 1390–1438) schrieb in einem Lied: „Duostu selbe in din eigen nest / Du glichest wol dem wedehoppen, / Wa du dan sitzest oder stest, / Darin so muostu knoppen.“[6] (Übertragen etwa: Machst Du selber in dein eigenes Nest / dann gleichst Du dem Wiedehopf / Wo Du sitzt oder stehst / Mußt Du hineinkoten.[7]) Im Ehzuchtbüchlein des Schriftstellers Johann Fischart (1546 oder 1547–1591) heißt es: „Dan was ist dieses für ein Viehische Widhopfenart, sein eygen Nest beschmeyssen?“[8] (Übertragen etwa: Denn was ist das für ein viehisches Wiedehopf-Benehmen, sein eigenes Nest zu bescheißen?).

Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts findet sich die Redensart in Sprichwörtersammlungen: In seinem Buch Sprichwörter, Schöne, Weise, Herrliche Clugreden, unnd Hoff sprüch … aus dem Jahr 1541 bietet sie der Schriftsteller Sebastian Franck (1499–1542 oder 1543) in der Form: „in sein eygen nest hofieren wie ein widhopff / Sein eygen schand nit moegen verschweigen.“[9](Übertragen etwa: Sein eigenes Nest hofieren wie ein Wiedehopf / Seine eigene Schande nicht verschweigen können.[10]) Johannes Agricola (1494–1566) schreibt in seinem Buch Außlegung gemeyner deutscher Sprichwörter im Kapitel 665: „Wer in sein eygen nest scheißt, der ligt vnsannft, und ist nit ehren werdt ... Man sagt, daß vnder allen fögeln keyner in sein nest thuo denn der Widhopff, darumb er auch eyn verachter vogel ist, wiewol er eyn kron vnd kamp tregt, vnd hatt hübsche federn, denn er ist nit ehren werdt.“[11](Übertragen etwa: Wer in sein eigenes Nest scheißt, der liegt unbequem und ist nicht ehrenwert … Man sagt, dass von den Vögeln nur der Wiedehopf es in seinem eigenen Nest verrichtet, weshalb er ein verachteter Vogel ist, obwohl er eine Krone und einen Kamm trägt [damit dürfte das Kopfgefieder des Wiedehopfes gemeint sein] und ein schönes Federkleid hat, denn er ist nicht ehrenwert.)

In Thomas Murners (1475–1537) Buch Schelmenzunft aus dem Jahr 1514 ist die Redensart auch mit einem Holzschnitt illustriert. Unter der Überschrift Der unnütz vogel[12] heißt es unter anderem: „Der Vogel hatt eyn bose art / Der seym eigen nest nit spart / Sunder selber scheisset dreyn / Den gschmack doch selber nymmet eyn / … / Der Vogel kan nit sein der best, / Der scheisset in sein eigen nest.“ (Übertragen etwa: Der Vogel hat eine schlechte Angewohnheit / Der sein eigenes Nest nicht verschont / sondern selber hineinscheißt / (und) den Geruch annimmt / … / Dieser Vogel kann nicht der beste sein / der in sein eigenes Nest scheißt.)

Moderne Verwendung

Der Begriff lässt sich bereits 1917 nachweisen. Richard Grelling schrieb in seinem Buch zur Kriegsschuldfrage Das Verbrechen über den englisch-deutschen Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain: „Den deutschen Volksfreund beschimpft man, den englischen Nestbeschmutzer aber, der ein ... Volk ... denunziert, ihn überhäuft man in Deutschland mit Auszeichnungen und Ehrenbezeugungen ...“[13]

In Österreich wurden Literaten wie Thomas Bernhard oder Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek von bestimmten Gesellschaftsschichten und Medien wie der Kronen Zeitung mit diesem Terminus bedacht.[14][15] Auch im politischen Diskurs fiel und fällt dieser Begriff immer wieder. So wurden im Nachkriegsdeutschland in vielen Debatten im Deutschen Bundestag Personen als Nestbeschmutzer bezeichnet, die Kritik an der Nazivergangenheit einzelner Würdenträger übten.[16]

Zitate

  • Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch bemerkte anlässlich einer Laudatio für Peter Bichsel: „Die das Nest schmutzig machen, zeigen empört auf einen, der ihren Schmutz bemerkt und nennen ihn den Nestbeschmutzer.“[17]
  • Heinrich Böll nannte Erich Kuby anerkennend einen „Nestbeschmutzer von Rang“.[18]
  • Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht. Kurt Tucholsky in einem Brief an Herbert Ihering vom 10. August 1922.

Literatur

  • Pia Janke u. a.: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Jung und Jung, Salzburg 2002, ISBN 3-902144-41-6.
  • Hermann L. Gremliza: Gegen Deutschland: 48 Nestbeschmutzungen. Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 2000, ISBN 3-89458-193-X.
  • Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bände, Freiburg i. Br. 1991, Band 3, Seite 1089 f.; Lemma: Nest.
  • Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, 1. Auflage, 6. Nachdruck. Stuttgart, München, Düsseldorf, Leipzig: Klett, 1997, Seite 571 f.; Lemmata Nestbeschmutzer und Nest
  • AutorInnenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepflicht. Eine Reportage. Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken. Unrast Verlag, Münster 1996, ISBN 3-928300-47-4.
  • Christian Hörburger: Nihilisten – Pazifisten – Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts. Tübingen 1993, Verlag: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V.

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary: Nestbeschmutzer – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, 1. Auflage, 6. Nachdruck. Stuttgart, München, Düsseldorf, Leipzig: Klett, 1997, Seite 571; Lemma Nestbeschmutzer
  2. Knaur: Das deutsche Wörterbuch, Lexikographisches Institut München, 1985, Seite 697
  3. Duden 11, Dudenverlag, 1992, ISBN 3-411-04111-0, Seite 515
  4. Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bände, Freiburg i. Br. 1991, Band 3, Seite 1089 f.; Lemma: Nest.
  5. Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, 1. Auflage, 6. Nachdruck. Stuttgart, München, Düsseldorf, Leipzig: Klett, 1997, Seite 571 f.; Lemma Nest, Nr. 12 und Nr. 14.
  6. Text des Liedes bei Eberhard von Groote: Lieder Muskatbluts, Cöln 1852, Lied Nr. 44, Seite 116 ff., hier: Vers 67–70.
  7. Übersetzung „knoppen“ als „koten“ nach Eberhard von Groote: Lieder Muskatbluts, Cöln 1852, Seite 313, Kommentar zu Lied Nr. 44.
  8. Johann Scheible: Johann Fischarts Flöhhatz, Weibertratz, Ehezuchtbüchlein, Podagrammisch Trostbüchlein …, (= Johann Scheible (Hg.), Das Kloster; 10. Band: 37. bis 40 Zelle), Stuttgart 1848, Seite 487.
  9. Sebastian Franck: Sprichwörter, Schöne, Weise, Herrliche Clugreden, unnd Hoff sprüch …, Getruckt zou Franckenfurt am Meyn, Bey Christian Egenolffen, (1541), Seite 56.
  10. „hofieren“ dürfte hier euphemistisch für „seine Notdurft verrichten“ stehen; vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Wörterbuch Lemma „hovieren“.
  11. Zitiert nach Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bände, Freiburg i. Br. 1991, Band 3, Seite 1089 f.; Lemma: Nest.
  12. Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek einer Schelmenzunft-Ausgabe Augsburg 1514; Abbildung und Text „Der unnütz vogel“.
  13. Richard Grelling: Das Verbrechen, Payot & Cie, 1917, Seite 352
  14. Die-eule.at (Memento des Originals vom 24. Mai 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.die-eule.at
  15. 3sat.de
  16. Bundestag.de (Memento des Originals vom 4. August 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bundestag.de
  17. Wolfgang Mistereck, Adrienne Schneider (Hrsg.): Zeltreden: Reden zur Verleihung des Literaturpreises "Stadtschreiber von Bergen" 1974-1998. Wallstein Verlag, Göttingen 1998, ISBN 3-89244-322-X, S. 96 (367 S., eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  18. Kuby-Biografie