Neoklassizismus (Musik)

Neoklassizismus bezeichnet die ästhetische Strömung, die die gesamte europäische Musikkultur ab etwa 1920 durchzog. In deutlicher Ablehnung von spätromantischer Expressivität, von Impressionismus und Expressionismus ist der Neoklassizismus gekennzeichnet durch das Streben nach Klarheit und Einfachheit. Im Neoklassizismus entstand eine neue, weitgehend linear bestimmte Musik meist in erweiterter Tonalität, wobei das 18. Jahrhundert (Spätbarock und Vorklassik) häufig Vorbild für Satztechniken, Formen und Gattungen ist.

Der Begriff Neoklassizismus ist eine ungenaue Übersetzung des französischen néoclassicisme und bedeutet „neue Klassik“.[1]

Begriff

Der musikhistorische Begriff des Neoklassizismus (nicht zu verwechseln mit der Dark-Wave-Neoklassik der 1980er Jahre oder der Neoklassik der 2000er Jahre) entstand nach 1920 in Paris im Umfeld von Künstlern wie Igor Strawinsky, Jean Cocteau und der Groupe des Six.[2] Jean Cocteau forderte 1918 „eine vom Individuum abgelöste, objektive Kunst, die den Hörer bei klarem Bewusstsein lässt“.[3]

Die kompositorische Strömung des Neoklassizismus beschränkt sich nicht auf Rückgriffe auf die Wiener Klassik, in besonderem Maße typisch sind Elemente des Barock (worauf mit dem Terminus Neobarock[4] hingewiesen wird), aber auch Vorbilder aus der romantischen Epoche werden verarbeitet. Als Adjektiv wird manchmal „neoklassisch“ statt neoklassizistisch verwendet.

Der Begriff „Neoklassizismus“ wird sehr unterschiedlich verwendet und ist daher tendenziell mehrdeutig.[5] Auch Arnold Schönbergs atonale zwölftönige Werke orientieren sich oft an klassischen Formen. Mitunter werden fast sämtliche wesentliche kompositorische Leistungen der Zeit von 1918 bis 1945 als neoklassizistisch charakterisiert, mit Ausnahme insbesondere von Edgard Varèse.[6]

Verglichen mit atonalem Neoklassizismus war der „neotonale“ wie bei Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Alfredo Casella oder der Groupe des Six (Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre) weitaus verbreiteter.[7] Im Laufe der Zeit wurde öfter der Begriff „Neoklassizismus“ in Abgrenzung zur „neuen Musik“ pejorativ verwendet, um damit Zugehörigkeit zu einer veralteten Ästhetik zum Ausdruck zu bringen.[8]

Geschichte

Wesentliche Elemente des Neoklassizismus zeigen sich bereits in Werken wie Maurice Ravels Le Tombeau de Couperin (1914–1917)[9] oder Sergej Prokofjews Symphonie Classique (1916/17, UA 1918).

Um 1920 entstanden mehrere Bearbeitungen nach „alten Meistern“, worunter Strawinskis Pulcinella hervorsticht durch stärkere verfremdende Eingriffe in die Vorlagen; Verfremdung, Mechanisierung und Parodie von alten Materialien werden dann Grundlage für Neukompositionen wie dem Oktett für Blasinstrumente (1922/23) und dem Konzert für Klavier und Blasorchester (1923/24).[10]

Die Entwicklung der 20er und 30er Jahre ist bestimmt durch die Suche nach einer neuen Ordnung, in Strawinskys dominierender Spielart des provozierenden Neoklassizismus ebenso wie bei Hindemiths neusachlicher „Objektivität“, bei Bartóks Synthese klassischer Formen mit authentischer Folklore, Honeggers Händel-Renaissance und Ravels Stilpluralismus.[11] Ebenfalls wichtig für die Geschichte des Neoklassizismus ist die Entwicklung in Russland, wo mit Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch zwei der bedeutendsten Vertreter der Strömung überhaupt wirkten.[12] Durch Vermittlung der Musikpädagogin Nadia Boulanger wurde der Charakter von Strawinskys Neoklassizismus einflussreich für die nächste Komponistengeneration Amerikas.[13]

Orgelbau

Im Orgelbau bezeichnet Neoklassizismus einen vor allem in Frankreich zwischen ca. 1925 und 1975 dominierenden Instrumententyp, der französisch-barocke („klassische“), französisch-romantische und norddeutsch-barocke Klangelemente mit modernster Technik zu verbinden sucht („l’orgue néoclassique“). Diese Strömung fand in der Orgelbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt.

Literatur

  • Rudolf StephanKlassizismus. II. 20. Jahrhundert. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Sachteil, Band 5 (Kassel – Meiningen). Bärenreiter/Metzler, Kassel u. a. 1996, ISBN 3-7618-1106-3 (Online-Ausgabe, für Vollzugriff Abonnement erforderlich)
  • Gerd Sannemüller: Der „Klassizismus“ in der Musik des 20. Jahrhunderts. In: Schweizer Monatshefte 46 (1966/67), ISSN 0036-7400, S. 463–472 (online).
  • Markus Bandur: Neoklassizismus [1994], in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von H. H. Eggebrecht [Loseblattausgabe], Franz Steiner, Wiesbaden, später Stuttgart, 1971–2006 (Digitalisat); CD-ROM, Stuttgart 2012; wiederveröffentlicht in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, herausgegeben von H. H. Eggebrecht, Franz Steiner, Stuttgart 1995 (= Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Sonderband 1), S. 278–298.

Einzelnachweise

  1. Thomas Seedorf: Die Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Peter Schnaus (Hrsg.): Europäische Musik in Schlaglichtern. Meyers Lexikonverl. 1990, Seiten 403–434, hier 408.
  2. „Es war Boris de Schloezer, der im Februar 1923 wohl zum ersten Mal von néoclassicisme bei Stravinskij sprach“. Ute Henseler: Zwischen „musique pure“ und religiösem Bekenntnis: Igor Stravinskijs Ästhetik von 1920 bis 1939. Wolke 2007, Seite 245.
  3. Matthias Brzoska, Michael Heinemann: Die Musik der Moderne. (= Die Geschichte der Musik. Band 3). Laaber 2001, Seite 222.
  4. Beispiel für die Verwendung des Begriffs Neobarock im Zusammenhang mit musikalischem Neoklassizismus: Giselher Schubert: Paul Hindemith und der Neobarock. Historische und stilistische Notizen. In: Susanne Schaal/Luitgard Schader (Hrsg.): Über Hindemith. Aufsätze zu Werk, Ästhetik und Interpretation. Mainz 1996, Seite 121–141.
  5. Hermann Danuser: Die Musik des 20. Jahrhunderts. (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Band 7). Laaber 1984, Seite 146.
  6. Arnold Whittall: Neo-classical In: Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Reprint in paperback ed. Macmillan Publishers Ltd., London 1995, ISBN 1-56159-174-2, B. 13, S. 104f, hier 105.
  7. Thomas Seedorf: Die Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Peter Schnaus (Hrsg.): Europäische Musik in Schlaglichtern. Meyers Lexikonverl. 1990, Seiten 403–434, hier 408.
  8. Gereon Diepgen: Innovation oder Rückgriff? Studien zur Begriffsgeschichte des musikalischen Neoklassizismus. Peter Lang 1997, Seite 316.
  9. Das Stück „weist alle Züge des Neoklassizismus auf: die Orientierung an einem geschichtlichen Vorbild, die historisierende Form, die erweiterte Tonalität, das zeichnerische Klangideal.“ Josef Häusler: Musik im 20. Jahrhundert. Schünemann 1969, Seite 30.
  10. Thomas Seedorf: Die Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Peter Schnaus (Hrsg.): Europäische Musik in Schlaglichtern. Meyers Lexikonverl. 1990, Seiten 403–434, hier 408f.
  11. Matthias Brzoska, Michael Heinemann: Die Musik der Moderne. (= Die Geschichte der Musik. Band 3). Laaber 2001, Seite 239.
  12. Volker Scherliess: Neoklassizismus. Dialog mit der Geschichte. Bärenreiter 1998, Seite 132.
  13. Carole Harris: Boulanger and Talma, Women Who Changed the Twentieth-Century American Musical Landscape. In: Barbara Harbach (Hrsg.): Women in the Arts: Eccentric Essays II, Cambridge Scholars Publ. 2015, Seite 78–92, hier 82.