Maurice Halbwachs

Maurice Halbwachs (1898)

Maurice Halbwachs (* 11. März 1877 in Reims; † 16. März 1945 im KZ Buchenwald) war ein französischer Soziologe und Philosoph, dessen Werk bis heute das Konzept des kollektiven Gedächtnisses maßgeblich mitprägt.

Leben und Wirken

Halbwachs stammte aus einer katholischen Familie[1] und besuchte die École normale supérieure in Paris, er studierte dort Philosophie bei Henri Bergson. Nach seiner Prüfung in Philosophie 1901 lehrte er an Gymnasien und ging 1904 für ein Jahr zum Studium an die Universität Göttingen. Wieder in Frankreich wandte er sich 1905 als Schüler Émile Durkheims der Soziologie zu. Er wurde Mitherausgeber der Année Sociologique, wo er zusammen mit François Simiand im Bereich Wirtschaft und Statistik wirkte. 1909 ging er nach Berlin, um die deutsche Nationalökonomie und den Marxismus näher kennenzulernen. Im Dezember 1910 wurde er als „lästiger Ausländer“ aus Preußen ausgewiesen; als Korrespondent der Pariser L’Humanité hatte er nach Auffassung der Behörden zu kritisch über eine Versammlung streikender Arbeiter und deren gewaltsame Auflösung – die so genannten „Weddinger Krawalle“ – berichtet.[2] 1913 heiratete er Yvonne Basch, Tochter des jüdischen Germanisten und Philosophen Victor Basch (1863–1944) und dessen Ehefrau Hélène (1863–1944); zwei Söhne entstammten dieser Ehe. Seine Schwiegereltern wurden 1944 vom Kollaborateur Paul Touvier ermordet.

Während des Ersten Weltkrieges arbeitete Halbwachs im französischen Kriegsministerium und wurde danach Professor der Soziologie und Pädagogik an der wieder französischen Universität Straßburg. 1921 nahm er einen Lehrauftrag am Centre d’études germaniques in Mainz wahr – in der von französischen Truppen besetzten Zone des Rheinlands.

Halbwachs arbeitete 1932 als Gastprofessor für ein Jahr an der University of Chicago und wurde 1935 von Straßburg an die Sorbonne berufen. Dort lehrte er Soziologie, arbeitete eng mit Marcel Mauss zusammen und gab die Annales de Sociologie heraus, die Nachfolgezeitschrift der Année Sociologique. 1944 folgte er dem ehrenvollen Ruf auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie des Collège de France.

Als Sozialist und wegen Sippenhaft (seine beiden Söhne hatten sich der Résistance angeschlossen)[1] wurde Halbwachs am 23. Juli 1944 von der Gestapo in Paris verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert, wo er am 16. März 1945 an einer Krankheit als Folge der Vernichtung durch Arbeit starb.

In Reims ist eine Straße nach Halbwachs benannt.

Er ist der Großvater des Informatikers Nicolas Halbwachs.

Werke

  • Leibniz [1907], Paris: Mellottée, 1907.[3]
  • La mémoire collective [1939], Paris: Presses Universitaires de France, 1950.
  • Les cadres sociaux de la mémoire [1925], Paris: Presses Universitaires de France, 1952.
  • La Topographie lègendaire des Èvangiles en Terre Sainte [1941], Paris: Presses universitaires de France 1941.

Auf Deutsch sind erschienen:

  • Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart: Enke 1967. (Neuauflage: Frankfurt/M.: Fischer, 1985/1991).
  • Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin: Luchterhand 1966. (Neuauflage: Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985/2006).

Werkausgabe von ausgewählten Schriften in der édition discours:

  • Band 1: Entwurf einer Psychologie sozialer Klassen. Über die gesellschaftlichen Antriebe des Menschen, Konstanz: UVK Verlag 2001.
  • Band 2: Klassen und Lebensweisen. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK Verlag 2001.
  • Band 3: Kollektive Psychologie. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK Verlag 2001.
  • Band 4: Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK Verlag 2002.
  • Band 5: Theorie und Methode. Ausgewählte Schriften, Konstanz: UVK Verlag 2001
  • Band 6: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz: UVK Verlag 2003.

Literatur

  • Anette Becker: Maurice Halbwachs. Intellectuel en Guerres Mondiales 1914–1945, Paris 2003
  • Georges Canguilhem: Über Maurice Halbwachs. Mit einem Essay von Henning Schmidgen: Das Problem der Umwelt. Maurice Halbwachs und Georges Canguilhem und Dokumenten zu Halbwachs in Buchenwald. August Verlag, Berlin 2022. ISBN 978-3751890076
  • Hermann Krapoth & Denis Laborde, Hgg.: Erinnerung und Gesellschaft. Hommage à Maurice Halbwachs 1877–1945. Mémorie et Société. Jahrbuch für Soziologiegeschichte. VS Verlag, Wiesbaden 2005. ISBN 3-531-14852-4. Zweisprachig dt.-frz., mit Zusammenfassungen in der jeweils anderen Sprache. Unter Mitwirkung der Mission Historique Française en Allemagne
  • Stephan Egger (Hg.): Maurice Halbwachs. Aspekte des Werks. UVK Verlagsgesellschaft, 2003. ISBN 978-3-89669-895-7
  • Hans Leo Krämer: Die Durkheimianer Marcel Mauss (1872–1950) und Maurice Halbwachs (1877–1945). – In: Klassiker der Soziologie, Bd. I. Hrsg. von Dirk Kaesler. 5. Aufl. München: C.H.Beck 2006, S. 254–279. ISBN 978-3-406-54749-2
  • Dietmar J. Wetzel: Maurice Halbwachs. UVK Verlagsgesellschaft, 2009. ISBN 978-3-86764-106-7

Einzelnachweise

  1. a b Wolf Lepenies: Deutsch-französische Kulturkriege – Maurice Halbwachs in Berlin. WZB-Vorlesungen 10, 13. Juni 2004 (Online)
  2. Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München: Hanser 2006
  3. Kelly - University of Toronto: Leibniz. Paris : Mellottée, 1907 (archive.org [abgerufen am 22. März 2021]).

Weblinks

Commons: Maurice Halbwachs – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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Maurice Halbwachs, alors élève de l'ENS, en 1898.