Märta Tikkanen
Märta Eleonora Tikkanen, geb. Cavonius (* 3. April 1935 in Helsinki (schwed. Helsingfors), Finnland), ist eine finnlandschwedische Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Philosophie-Lehrerin.
Leben
Tikkanen ist Tochter des Hochschullehrers Gösta Edvin Cavonius und seiner Frau Julia Margit Stadius. Mit dem Schriftsteller Henrik Tikkanen war sie von 1963 bis zu seinem Tod 1984 verheiratet.
Ihr Studium der Literaturwissenschaft schloss Tikkanen im Jahr 1958 ab.[1] Danach war sie als Literaturkritikerin und Journalistin tätig, unter anderem bei der schwedischsprachigen Tageszeitung Hufvudstadsbladet. Von 1961 bis 1966 betätigte sie sich als Sprachlektorin. Auch hat sie als Rektorin des Schwedischen Arbeiterinstituts Helsinki (Helsingfors svenska arbetarinstitut) gearbeitet. Von 1972 bis 1980 war sie Rektorin einer Volkshochschule. Seit 1980 ist sie freie Schriftstellerin.
Tikkanen ist international in erster Linie bekannt geworden durch ihren Roman Wie vergewaltige ich einen Mann? (Män kan inte våldtas – Männer kann man nicht vergewaltigen, 1975), der in der feministischen Literatur der 1970er Jahre einige Beachtung fand. Das Buch wurde 1978 verfilmt in einer finnisch-schwedischen Koproduktion (Regie: Jörn Donner). Der Film erschien international unter dem englischen Titel Manrape. 1992 inszenierte Ingrid L. Ernst Älskap für das Moderne Theater Berlin.
Weil zum 18. Mal in Folge der offizielle Literaturpreis des Nordischen Rates an einen Mann verliehen werden sollte – Ivar Lo-Johansson bekam ihn –, wurde „aus Protest“ der Nordiske kvinders litteraturpris gestiftet und ihr 1979 verliehen.[2]
Tikkanen lebt und arbeitet in Finnland.
Autorenschaft und Ideologie
Die Hauptfigur in Tikkanens Romanen ist oft eine gebildete Frau aus der Vorstadt, die ein Leben als Mutter kleiner Kinder und Hausfrau führt. Oft träumt sie davon, etwas Zeit für sich selbst und ihre eigene Kreativität zu haben.
Tikkanens erster Roman Nu Imorron wurde 1970 veröffentlicht und handelt von Fredrika, einer Hausfrau und Mutter von vier Kindern. Bereits Tikkanens erster Roman behandelt die Gleichberechtigung in heterosexuellen Paarbeziehungen, in denen beide Partner ihren Platz haben und füreinander da sind.[3] Fredrika träumt davon, dass ihr Mann eines Tages sagt: „Wir sind immerhin zu zweit, nebeneinander, einer, der den anderen unterstützt, wenn er ins Wanken gerät, zwei für alles, was getan werden muss, nicht er, der handelt, und sie, die zuhört, korrigiert und applaudiert, sondern im Wechselspiel und Dialog, abwechselnd und gemeinsam.“[4] Es ist die Geschichte einer Mutter kleiner Kinder, die davon träumt, ein wenig Zeit vor der Schreibmaschine zu verbringen. Tikkanens zweiter Roman Ingenmansland (1972) ist eine Fortsetzung der Geschichte von Fredrika.
In Århundradets kärlekssaga (1978) schreibt der Erzähler: „Deshalb stimme ich voll und ganz zu/ allen Kunsttheorien/ und allen Verurteilungen Breschnews/ ich finde immer genau dasselbe/ bin besonders bereit/ zu akrobatischem Geschlechtsverkehr/ je heißer ich mich danach sehne/ mich an die Schreibmaschine zu setzen/ Es gelingt mir fast vollständig/ vor meiner Familie zu verbergen/ dass ich auch/ ein eigenes Leben habe/ zu leben.“[5] Das Werk, das Till Henrik heißt, handelt von der Ehe mit einem großen Künstler und Alkoholiker, während sie gleichzeitig gezwungen ist, ihre eigenen Bedürfnisse und Träume zugunsten der übrigen Familie aufzugeben.
Zusammenhalten, einander zuhören und die Arbeitslast teilen – das sind Themen, die in mehreren Romanen von Tikkanen wiederkehren. In den 1970er Jahren erlebte die linke Bewegung ihre Blütezeit, und eine neue feministische Bewegung kam in Gang. Die zweite Welle des Feminismus konzentrierte sich auf einige der Themen, die Tikkanen in ihrer Literatur aufgreift.[6] Vorstellungen über die Rolle der Mutter, das Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, und die problematische Rolle des Mannes sind Themen, die sie in ihren Büchern behandelt. „Im Rückspiegel der Geschichte wie auch aus internationaler Perspektive erscheint der nordische Feminismus jener Zeit in seiner Sichtweise auf den Mann als (potenziellen) Kameraden auffallend dialogisch.“[7] Dies steht im Einklang mit Tikkanens Idee, ein Buch wie Wie vergewaltige ich einen Mann? zu schreiben, das zeigen sollte, dass auch Männer sexueller Gewalt ausgesetzt sein können und dass dieses Thema daher sowohl Männer als auch Frauen betrifft.[8] Die literarische Ästhetik, die die Literatur der 1970er Jahre dominierte, basiert auf der Grundidee, dass jeder Mensch, ob Mann oder Frau, eine einzigartige Geschichte in sich trägt.[6] Der literarische Realismus schuf Raum für Geschichten, die zuvor noch nicht erzählt worden waren.[6] Tikkanen kann zusammen mit Autorinnen wie Sonja Åkesson, Kerstin Thorvall und Inger Alfvén einem zeitgenössischen literarischen Stil zugeordnet werden.
Wie vergewaltige ich einen Mann?
Im Nachwort zu Söderströms zweiter Ausgabe des Romans Wie vergewaltige ich einen Mann? schreibt Tikkanen darüber, wie die Idee zu diesem Roman entstand, als sie auf einer Klippe im finnischen Archipel saß und die dänische Zeitung Politiken las. Sie schreibt: „‚Männer können bestraft, aber nicht vergewaltigt werden‘, stand dort, und der Artikel berichtete von einem Mann, der von einer Frau, die ihn nach einem gemeinsamen Abend zu Smørrebrød eingeladen hatte, erniedrigend behandelt worden war.“[9] Da wusste sie, worüber sie schreiben würde.[10] Der Roman Männer können nicht vergewaltigt werden wurde erstmals 1975 veröffentlicht. Die Geschichte wurde 1978 von Jörn Donner verfilmt.
Das Buch handelt von der Bibliothekarin und geschiedenen Mutter zweier Kinder, Tova Randers, die sich an ihrem 40. Geburtstag beschließt, in eine dänische Kneipe zu gehen, um etwas zu essen. Der Abend, der zunächst einsam und kurz werden sollte, wird stattdessen zu dem Abend, an dem sie den ihr bisher unbekannten Martti Wester kennenlernt. Sie tanzen und trinken Kaffee und Cognac, und als der Abend sich dem Ende zuneigt, begleitet Tova Martti zu seiner Wohnung. Als Tova später aus der Wohnung flieht, hat sie eine brutale Vergewaltigung erlebt, und ihre Heimatstadt Helsinki fühlt sich nicht mehr wie die sichere Stadt an, in der sie aufgewachsen ist.
Anfangs ist Scham das vorherrschende Gefühl, das Tova empfindet, aber nach einer Weile beschließt sie, sich an dem Mann zu rächen, der ihr ihre Würde genommen hat. Sie will ihm eine Lektion erteilen und ihm zeigen, wie es sich anfühlt, gedemütigt zu werden. Sie ruft ihren ehemaligen Scheidungsanwalt an, um herauszufinden, welche Strafe für die Vergewaltigung eines Mannes droht, erfährt jedoch, dass es als unmöglich gilt, dass eine Frau einen Mann vergewaltigen könnte. Deshalb beschließt Tova, sich selbst anzuzeigen, wenn sie ihre Rache vollendet hat.
Die Vergewaltigung von Martti Wester wird Realität, aber als Tova die Polizei ruft, glauben sie ihr nicht, obwohl sie Martti Wester gefesselt sehen. Obwohl Martti Wester zuvor vor Angst, Scham und Ohnmacht geweint hat, versucht er, die Polizei davon zu überzeugen, dass es sich um Tova handelt, die seine Geliebte sein soll und eifersüchtig auf eine andere Frau ist, mit der Martti Wester Zeit verbracht haben soll. Das Wichtigste für Martti Wester nach der Vergewaltigung ist es, seine Männlichkeit zu betonen.[11]
Auch wenn sexuelle Gewalt das offensichtlichste Thema ist, behandelt der Roman mehrere Aspekte patriarchalischer Strukturen. Das Gleichgewicht zwischen Liebe und dem „Traum von Gleichberechtigung, gleichberechtigt nebeneinander stehen zu dürfen“[12] ist ein Thema, das in mehreren Romanen von Tikkanen wiederkehrt.[12] In Wie vergewaltige ich einen Mann reflektiert Tova Randers unter anderem über Mutterschaft, Geschlechterrollen in ihren früheren Beziehungen, weibliche Fortpflanzung und Verhütungsmittel. Sie steht der Unterdrückung von Frauen und Geschlechterrollen kritisch gegenüber.[13] Es ist offensichtlich, dass Tovas Leben von den Bedingungen der männlich dominierten Gesellschaft geprägt ist.[14]
Als der Roman 1975 veröffentlicht wurde, stieß er bei einem Großteil der Leser auf Ablehnung. Tikkanen schrieb über Themen, die in der finnischen Gesellschaft tabuisiert waren, über Vergewaltigung und darüber, Angehöriger einer Person zu sein, die unter Alkoholismus leidet. Die Kritiker lehnten sie ab, und ihr Werk wurde als Kioskliteratur bezeichnet.[15] In einem Interview in der finnisch-schwedischen Fernsehsendung Efter nio beschreibt Tikkanen, wie sie, als das Buch neu veröffentlicht wurde, sofort verspottet und sogar geschlagen wurde.[16] Die Rezeption in Schweden fiel etwas milder aus als in Finnland.[17] „Mit Wie vergewaltige ich einen Mann wurde Märta Tikkanen zu einer Galionsfigur der neuen Frauenbewegung, nicht nur in ihrem Heimatland Finnland, sondern in ganz Skandinavien.“[18] Obwohl Wie vergewaltige ich einen Mann für Aufsehen sorgte, war es eines ihrer späteren Werke, Århundradets kärlekssaga (1978), das ihr den großen Durchbruch bescherte.[19]
Ehrungen
- 1979 Danke-für-das-Buch-Medaille für Århundradets kärlekssaga
- 1979 Nordiske kvinders litteraturpris
- 1999 Karl-Emil-Tollander-Preis
- 2001 Fredrika-Runeberg-Stipendium
- 2002 Finnland-Preis der Schwedischen Akademie
- 2014 Signe Ekblad-Eldhs pris
Bibliographie
- 1970: nu imorron
- 1972: Ingenmansland
- 1974: Vem bryr sig om Doris Mihailov
- 1975: Män kan inte våldtas
- 1980: Von Verena Reichel übersetzt ins Deutsche: Wie vergewaltige ich einen Mann?, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-499-14581-2
- 1978: Århundradets kärlekssaga – deutsch: Die Liebesgeschichte des Jahrhunderts (Verena Reichel)
- 1979: Våldsam kärlek
- 1981: Mörkret som ger glädjen djup – deutsch: Der Schatten, unter dem Du lebst (Verena Reichel)
- 1982: Sofias egen bok – deutsch: Aifos heißt Sofia. Leben mit einem besonderen Kind (Astrid Arz)
- 1986: Rödluvan – deutsch: Ein Traum von Männern, nein, von Wölfen (Verena Reichel), ISBN 978-3-499-15946-6 (früher: 3499159465)
- 1989: Storfångaren – deutsch: Der große Fänger (Verena Reichel)
- 1992: Arnaía kastad i havet – deutsch: Arnaia – Ins Meer geworfen (Verena Reichel)
- 1992: Bryta mot lagen
- 1996: Personliga angelägenheter – deutsch: Persönliche Fragen (Verena Reichel)
- 1998: Sofia vuxen med sitt MBD
- 2004: Två
- 2010: Emma och Uno. Visst var det kärlek
Weblinks
- Biographie auf Rowohlt Theater Verlag
- Märta Tikkanen porträtiert vom finnischen Photographen Juha Törmälä
- Die Verfilmung von Wie vergewaltige ich einen Mann? in der Internet Movie Database
Einzelnachweise
- ↑ Märta Tikkanen. In: Rowohlt Theater Verlag. Abgerufen am 14. August 2019.
- ↑ Märta Tikkanen. In: Rowohlt Theater Verlag. Abgerufen am 14. August 2019.
- ↑ Mazzarella, Merete, 1985, Från Fredrika Runeberg till Märta Tikkanen. Ekenäs: Söderströms S. 171–187. ISBN 951-52-1007-0.
- ↑ Mazzarella, Merete, 1985, Från Fredrika Runeberg till Märta Tikkanen. Ekenäs: Söderströms. s.171. ISBN 951-52-1007-0.
- ↑ Tikkanen, Märta, 1978, Århundradets kärlekssaga. Smedjebacken, Sverige: Forum. S. 193. ISBN 91-37-11170-1.
- ↑ a b c Witt-Brattström, 2014: Stå i bredd: 70-talets kvinnor, män och litteratur, Norstedts, Stockholm.
- ↑ Witt-Brattström, Ebba, 2014: Stå i bredd: 70-talets kvinnor, män och litteratur (erste Ausgabe). Stockholm: Norstedts. S. 216–242. ISBN 978-91-1-305852-8.
- ↑ Biblibiblioteken: Märta Tikkanen - män kan inte våldtas. 28. November 2011, abgerufen am 12. Oktober 2025.
- ↑ Tikkanen, Märta (2005). Män kan inte våldtas. Söderstroms. ISBN 951-522-312-1.
- ↑ Tikkanen, Märta (2005). Män kan inte våldtas. S. 186–187.
- ↑ Fjelkestam, 2013: ”Män kan inte våldtas? Märta Tikkanen, Stieg Larsson och heteronormativitetens gränser" in Tidskrift för litteraturvetenskap.
- ↑ a b Mazzarella, Merete (1985). Från Fredrika Runeberg till Märta Tikkanen: Frihet och beroende i finlandssvensk kvinnolitteratur. Söderström. ISBN 951-521-007-0.
- ↑ Fjelkestam, 2013: "Män kan inte våldtas? Märta Tikkanen, Stieg Larsson och heteronormativitetens gränser", in Tidskrift för litteraturvetenskap
- ↑ Larsson, 1997: "Att fånga texten mitt i livet, Om Märta Tikkanen" in Nordisk Kvinnolitteraturhistoria Band 4, S. 165–166
- ↑ Anna-Lena Laurén: ”Att skriva hjälper mig att se”. In: Svenska Dagbladet. 15. November 2004, ISSN 1101-2412 (svd.se [abgerufen am 12. Oktober 2025]).
- ↑ Märta Tikkanen: "Folk spottade på mig". 14. November 2014, abgerufen am 12. Oktober 2025 (sv-FI).
- ↑ Anna-Lena Laurén: ”Att skriva hjälper mig att se”. In: Svenska Dagbladet. 15. November 2004, ISSN 1101-2412 (svd.se [abgerufen am 12. Oktober 2025]).
- ↑ Larsson Lisbeth 1997: "Att fånga texten mitt i livet, Om Märta Tikkanen." Møller Jensen mit anderen. Nordisk kvinnolitteraturhistoria 4, S. 163. Höganäs: Bra böcker AB. ISBN 91-7119-261-1.
- ↑ Larsson, 1997: "Att fånga texten mitt i livet: Om Märta Tikkanen, i Nordisk kvinnolitteraturhistoria Band 4 S. 163
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Tikkanen, Märta |
| ALTERNATIVNAMEN | Cavonius, Märta Eleonora (Geburtsname) |
| KURZBESCHREIBUNG | finnlandschwedische Schriftstellerin und Philosophie-Lehrerin |
| GEBURTSDATUM | 3. April 1935 |
| GEBURTSORT | Helsinki, Finnland |
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Autor/Urheber: Anneli Salo, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Märta Tikkanen, Finnish writer, at the Helsinki Book Fair in 2004