Lucy

Lucys Skelett (Nachbildung)
Lebendrekonstruktion im Neanderthal-Museum. Weitere Rekonstruktionen siehe Laura Geggel (2021).[1]

Lucy (auch: Dinkinesh, amharisch für: Du Wunderbare) ist der Name des fossilen Teilskeletts eines sehr wahrscheinlich weiblichen Individuums des Vormenschen Australopithecus afarensis, das 1974 im nordostafrikanischen Afar-Dreieck in Äthiopien gefunden wurde. Das Fossil ist nach dem Lied Lucy in the Sky with Diamonds von den Beatles benannt und wird – wie die sogenannte Erste Familie – auf ein Alter von 3,2 Millionen Jahren datiert.[2]

Lucy wurde bei der Erstbeschreibung von Australopithecus afarensis im Jahr 1978, der das Fossil LH 4 aus Laetoli zugrunde lag,[3] als zusätzlicher Beleg (Paratypus) angegeben. Die Sammlungsnummer von Lucys Skelett ist AL 288-1 („AL“ steht für „Afar Locality“, den Fundort), sein Verwahrort ist das Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba. Eine Kopie befindet sich u. a. im Museum von Semera (Äthiopien) und im Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main.

Fundbeschreibung

Das Fossil zählt neben Ardi, DIK 1-1, dem Kind von Taung und Little Foot zu den besterhaltenen Skeletten der frühen Hominini-Arten. Dies ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass der Leichnam von Lucy am Ufer eines Sees und Flusses von Sand und Schlamm bedeckt wurde und so von Raubtieren nicht zerstört wurde – an ihren Knochen finden sich keine Spuren von Zähnen. Im erhaltenen Unterkiefer ist der 3. Molar (der so genannte Weisheitszahn) bereits durchgebrochen, weist aber nur geringe Abnutzungserscheinungen auf.[4] Lucy wird in der Fachliteratur daher – aufgrund der Form ihres Beckens und des Abnutzungsgrads ihrer Zähne – meist als eine bei Eintritt des Todes rund 25 Jahre alte Erwachsene beschrieben; einige Forscher deuten den Fund allerdings als männlich.[5] Aus der relativ geringen Größe des Beckenrings, durch den das Kind bei der Geburt hindurch gelangen muss, wurde geschlossen, dass die Gehirngröße der Neugeborenen ungefähr der Gehirngröße eines neugeborenen Schimpansen entsprochen haben muss.[6]

47 ihrer 207 Knochen wurden – so glaubte man bis 2015 – gefunden,[7] darunter ein Oberschenkelknochen mit erhaltenem Kopf und Hals, zwei Schienbein-Fragmente, Teile des Beckens und der Wirbelsäule, mehrere Rippen sowie Teile des Schädels und beider Oberarmknochen; die Knochen der Hände und der Füße fehlen nahezu vollständig. Im Jahr 2015 wurde dann aber ein auffällig kleiner Wirbel als vermutlich von einem Pavian stammend erkannt, während den übrigen 88 Fragmenten des Skeletts bestätigt wurde, von einem Australopithecus afarensis zu stammen.[8]

Vor allem der Bau des Beckens[9] und des Oberschenkels zeigen eindeutige Anpassungen an den aufrechten Gang:[10] Beim aufrechten Gang dient der Kopf des Oberschenkelknochens als Drehpunkt, über den das gesamte Gewicht des Oberkörpers auf die beiden Beine abgeleitet wird, während beim vierbeinigen Laufen ein erheblicher Teil des Gewichts auf den vorderen Gliedmaßen lastet. Dies führt bei Zweibeinern zu einer Verdickung der potentiell (bei Überlastung) bruchanfälligen Zonen im Oberschenkelhals. Anhand der Maße von Lucys Körperbau und von fossilen Fußspuren, die bei Laetoli entdeckt und Australopithecus afarensis zugeschrieben wurden, ergab eine 2005 veröffentlichte Computersimulation, dass sich Australopithecus afarensis mit einer Geschwindigkeit von 0,6 bis 1,3 m/s (ca. 2 bis 4,5 km/h) vollständig aufrecht fortbewegen konnte.[11] Allerdings war Lucy mit einer Körpergröße von etwa 107 Zentimetern im Vergleich zu anderen Funden ihrer Art relativ klein.[12]

Für Forschungszwecke wurde 2008 in den Vereinigten Staaten ein hochauflösender Computertomographie-Scan der Knochen angefertigt und zu einer dreidimensionalen Computersimulation verarbeitet, mit deren Hilfe der innere Aufbau des Skeletts analysiert werden kann.[13] Im Jahr 2016 erbrachte eine Untersuchung des Skeletts, dass die wesentlich größere Stärke der Armknochen im Vergleich mit den Beinknochen darauf hindeutet, dass Lucy ihre Arme regelmäßig stärker belastet hat als die Beinknochen. Dies wurde damit erklärt, dass Lucy häufiger auf Bäumen geklettert als auf dem Erdboden gelaufen sei.[14] Im gleichen Jahr berichteten Mitglieder der gleichen Forschergruppe ferner über Hinweise auf Grünholzfrakturen, woraus abgeleitet wurde, Lucy sei unmittelbar vor ihrem Tod (perimortal) aus rund 13 bis 14 Metern Höhe auf sehr harten Untergrund abgestürzt.[15] Diese Interpretation ist allerdings umstritten, da u. a. von Tim White und Donald Johanson eingewandt wurde, die an den Knochen beobachteten Merkmale seien ebenso gut mit später (postmortal) im Verlauf der Fossilisation eingetretenen Brüchen zu erklären.[16] Den Entdeckern zufolge erscheinen postmortale Brüche dagegen in zahlreichen Fällen unwahrscheinlich, in denen scharfe, saubere Bruchkanten und kleine, abgesplitterte Knochenfragmente gefunden wurden, die noch an Ort und Stelle lagen. Solch ein Muster sei von Fossilien nicht bekannt, hier würde man eine Verschiebung der Fragmente erwarten.[17]

Fundgeschichte

Nachbildung von Lucys Skelett im Frankfurter Senckenberg Naturmuseum mit rekonstruierter bipeder Fortbewegung.

Lucy wurde am 24. November 1974[18] in Hadar, Äthiopien von Donald Johanson entdeckt, der an diesem Tag in Begleitung des Post-Doktoranden Tom Gray am Fundort 162 unterwegs war. Am Hang einer Senke, die ein zum Awash entwässerndes Wadi freigespült hatte, wurde zunächst „das Fragment eines hominiden Arms“ und kurz darauf „die Rückseite eines kleinen Schädels“ sowie in unmittelbarer Nähe das Bruchstück eines Oberschenkelknochens aufgefunden.[19] Laut Yves Coppens[20] wurde den an diesem Tag gefundenen Knochenstücken zunächst keine besondere Aufmerksamkeit zuteil, da es zuvor bereits Dutzende ähnliche Funde in der Region gegeben hatte. Erst eine erneute, genauere Untersuchung der Fundstelle ergab, dass weitere Knochenfragmente offenbar vom selben Individuum stammten, also eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht worden war. Als man am Abend dieses Tages die zusätzlichen Funde im Forschercamp katalogisierte, wurde wiederholt die Beatles-Tonkassette Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band vom Kassettenrecorder abgespielt, auf der unter anderem der Song Lucy in the Sky with Diamonds enthalten war. Zunächst spaßhaft gemeint, wurde die Bezeichnung Lucy rasch auch außerhalb des Camps zur üblichen Abkürzung für den Fund.

Von 1975 bis 1980 wurden Lucys Knochen von Johanson im Cleveland Museum of Natural History in Cleveland, USA, eingehend analysiert. Es wurden einige Abgüsse von ihnen erstellt, und anschließend wurden sie der äthiopischen Altertumsbehörde übergeben. Seitdem wurden die Originalknochen in Addis Abeba im äthiopischen Nationalmuseum verwahrt.[21]

Ab August 2007 wurden die Originalknochen in den Vereinigten Staaten ausgestellt. Der neuerliche Transport ins Ausland, dessen Ertrag der Finanzierung äthiopischer Museen dienen sollte, wurde von vielen Paläoanthropologen kritisiert, da sie das Risiko einer Beschädigung oder gar des Verlusts der Knochen als unkalkulierbar einschätzten. Da die Besucherzahlen in den Vereinigten Staaten weit hinter den Erwartungen zurückblieben, wurde Lucy ab März 2009 im Houston Museum of Natural Science eingelagert.[22] Am 1. Mai 2013 kehrte Lucy nach Äthiopien zurück und wird seitdem wieder im Nationalmuseum von Äthiopien verwahrt;[23][24] das Original befindet sich in einem Tresor, in der Ausstellung wird ein Abguss vom Original gezeigt.[25]

Trivia

Die Rahmenhandlung des Spielfilms Lucy von Regisseur Luc Besson aus dem Jahr 2014, mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle, bezieht sich auf den so bezeichneten Vormenschen-Fund aus Äthiopien.

Siehe auch

Literatur

  • Donald Johanson und Maitland Edey: Lucy: Die Anfänge der Menschheit. 5. Auflage. Piper, München 1992, ISBN 3-492-11555-1
  • Lydia Pyne: The Ascension of an Icon: Lucy in the Sky. Kapitel 5 in: Dies.: Seven Skeletons. The Evolution of the World's Most Famous Human Fossils. Viking, New York 2016, S. 152–185, ISBN 978-0-525-42985-2
  • Donald Johanson und Kate Wong: Lucy's Legacy. The Quest for Human Origins. Broadway Books, 2010, ISBN 978-0-307396402
  • Yves Coppens: Lucys Knie. Die prähistorische Schöne und die Geschichte der Paläontologie. dtv, München 2002, ISBN 3-423-24297-3
  • Donald Johanson et al.: Morphology of the Pliocene partial hominid skeleton (A.L. 288‐1) from the Hadar formation, Ethiopia. In: American Journal of Physical Anthropology. Band 57, Nr. 4, 1982, S. 403–451, doi:10.1002/ajpa.1330570403

Weblinks

Commons: Lucy (Australopithecus) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Belege

  1. Laura Geggel: Human ancestor 'Lucy' gets a new face in stunning reconstruction, auf LiveScience vom 3. März 2021.
  2. Donald Johanson & Blake Edgar: Lucy und ihre Kinder. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Elsevier Verlag, München 2006, S. 21, ISBN 978-3-8274-1670-4.
  3. Donald Johanson, Tim D. White und Yves Coppens: A New Species of the Genus Australopithecus (Primates: Hominidae) from the Pliocene of Eastern Africa. In: Kirtlandia. Band 28, 1978, S. 1–14.
  4. Donald Johanson, Lucy und ihre Kinder, S. 24 und 30.
  5. Zur Übersicht siehe: Robert G. Taguea und C. Owen Lovejoy: AL 288-1 – Lucy or Lucifer: gender confusion in the Pliocene. In: Journal of Human Evolution. Band 35, Nr. 1, 1998, S. 75–94, doi:10.1006/jhev.1998.0223.
  6. Donald Johanson, Lucy und ihre Kinder, S. 78.
  7. Donald Johanson, Lucy und ihre Kinder, S. 133.
  8. Lucy had a bit of a baboon touch. In: New Scientist. Band 226, Nr. 3017, S. 18, Volltext.
  9. Yoel Rak: Lucy’s pelvic anatomy: its role in bipedal gait. In: Journal of Human Evolution. Band 20, Nr. 4, 1991, S. 283–290, doi:10.1016/0047-2484(91)90011-J.
  10. William L. Jungers: Lucy's limbs: skeletal allometry and locomotion in Australopithecus afarensis. In: Nature. Band 297, 1982, S. 676–678, doi:10.1038/297676a0.
    Ashleigh L. A. Wiseman: Three-dimensional volumetric muscle reconstruction of the Australopithecus afarensis pelvis and limb, with estimations of limb leverage. In: Royal Society Open Science. Band 10, Nr. 6, 2023, doi:10.1098/rsos.230356.
  11. William I. Sellers et al.: Stride lengths, speed and energy costs in walking of Australopithecus afarensis: using evolutionary robotics to predict locomotion of early human ancestors. In: Journal of the Royal Society Interface. Band 2, Nr. 5, 2005, S. 431–441, doi:10.1098/rsif.2005.0060, Volltext.
  12. William L. Jungers: Lucy's length: Stature reconstruction in Australopithecus afarensis (A.L.288–1) with implications for other small-bodied hominids. In: American Journal of Physical Anthropology. Band 76, Nr. 2, 1988, S. 227–231, doi:10.1002/ajpa.1330760211.
  13. UT study cracks coldest case: How the most famous human ancestor died. Auf: eurekalert.org vom 29. August 2016.
  14. Christopher B. Ruff, M. Loring Burgess, Richard A. Ketcham und John Kappelman: Limb Bone Structural Proportions and Locomotor Behavior in A.L. 288-1 („Lucy“). In: PLOS ONE. Band 11, Nr. 11, 2016: e0166095, doi:10.1371/journal.pone.0166095.
  15. John Kappelman, Richard A. Ketcham, Stephen Pearce, Lawrence Todd et al.: Perimortem fractures in Lucy suggest mortality from fall out of tall tree. In: Nature. Band 537, 2016, S. 503–507, doi:10.1038/nature19332
    Did famed human ancestor ‘Lucy’ fall to her death? Auf: sciencemag.org vom 29. August 2016.
  16. Ian Sample: Family tree fall: human ancestor Lucy died in arboreal accident, say scientists. Auf: The Guardian vom 30. August 2016
    Print your own 3D Lucy to work out how the famous hominin died. Auf: nature.com vom 29. August 2016.
  17. Vormensch Lucy fiel vom Baum und starb. In: Die Zeit vom 29. August 2016.
  18. Ewen Callaway: Lucy discoverer on the ancestor people relate to. Interview mit Donald Johanson anlässlich des 40. Jahrestages des Fundes (englisch). Auf: nature.com vom 21. November 2014, Volltext, doi:10.1038/nature.2014.16379.
    Dieses Datum nennt Johanson auch in seinem 2010 erschienenen Buch Lucy's Legacy, während in seinem erstmals 1981 publizierten Bestseller Lucy: The Beginnings of Humankind und in From Lucy to Language (1996, deutsch: Lucy und ihre Kinder) irrtümlich der 30. November 1974 angegeben wird.
  19. Donald Johanson und Maitland Edey: Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Piper, München 1982, ISBN 3-492-02738-5 (hier zitiert nach der Neuausgabe von 1992, S. 16).
  20. Öffentlicher Vortrag von Yves Coppens am 15. November 2006 im Senckenberg Naturmuseum, Frankfurt am Main.
  21. Ann Gibbons: Lucy’s Tour Abroad Sparks Protests. In: Science. Band 314, Nr. 5799, 2006, S. 574, doi:10.1126/science.314.5799.574.
  22. Lucy’s museum tour threatens to become a spell in storage. In: Nature. Band 457, Nr. 7231, 2009, S. 775, doi:10.1038/457775f.
  23. Weltberühmtes Fossil: Äthiopien feiert Rückkehr von „Lucy“.. Auf: spiegel.de vom 1. Mai 2013.
  24. Frank Patalong: Die wunderbare Lucy kehrt heim. Auf: spiegel.de vom 3. Mai 2013.
  25. Lucy im Ethiopian National Museum. (Memento vom 3. Februar 2018 im Internet Archive) Auf: newsonair.com, Dump vom 3. Februar 2018
    National Museum. Auf: lonelyplanet.com, zuletzt abgerufen am 17. März 2022.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Australopithecus afarensis („Lucy") Rekonstruktion mit Mädchen.jpg
Autor/Urheber: Neanderthal-Museum, Mettmann, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Lebend-Rekonstruktion im Neanderthal-Museum (Erkrath, Mettmann) eines Australopithecus afarensis (Fund genannt „Lucy“) mit Mädchen (Ausschnitt vom Originalfoto), Fundort Hadar Äthiopien
Lucy (Frankfurt am Main).jpg
Autor/Urheber: Gerbil, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Australopithecus afarensis ("Lucy"), replica (Nachbildung)

  • Location: Senckenberg-Museum, Frankfurt am Main (Germany)
  • Photographer: Gerbil
  • Date: November 2006
Reconstruction of the fossil skeleton of "Lucy" the Australopithecus afarensis.jpg
Autor/Urheber: 120, Lizenz: CC BY 2.5
« Lucy » skeleton (AL 288-1) Australopithecus afarensis, cast from Museum national d'histoire naturelle, Paris