Komplementarität

Komplementarität ist ein Begriff der Erkenntnistheorie für zwei (scheinbar) widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind. Diesen Begriff hatte der Physiker Niels Bohr als Komplementaritätsprinzip in die Quantenphysik eingeführt und anschließend auf viele Gebiete übertragen. Deshalb wurde der Begriff vieldeutig und bezeichnet häufig nur noch ein grundsätzliches „Sowohl-als-auch“.

Zwei komplementäre Eigenschaften gehören zusammen, sofern sie dieselbe Referenz haben, also dasselbe „Objekt“ betreffen, jedoch kausal nicht voneinander abhängig sind. Die zwei verwendeten Methoden unterscheiden sich grundsätzlich im Verfahren und können in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander eingesetzt werden.

Vorläufer und verwandte Ideen

Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss erkannte in der Bildung von komplementären Gegensätzen (sog. Dichotomien) wie „Mann↔Frau“, „alt↔jung“, „klein↔groß“, „kalt↔heiß“ usw. das Grundmuster jeglicher Kategorisierung im menschlichen Denken.[1]

Vorläufer des Konzeptes der Komplementarität mit der Absicht, einen fundamentalen Widerspruch aufzuheben oder eine Paradoxie zu kennzeichnen, sind zu finden:

Auch das Wort „komplementär“ ist lange vor Bohrs neuer Begriffsprägung zu finden:

Quantenphysik

In der Quantenphysik wird Komplementarität heute meist am Beispiel des Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes erläutert, das in der einen Versuchsanordnung als Welle, in der anderen als Teilchen zu beschreiben ist (Siehe Doppelspaltexperiment). Außerdem wird auf den Sachverhalt der Quantenmechanik hingewiesen, dass bestimmte komplementäre Messgrößen, z. B. der Ort und der Impuls eines Elektrons, nicht gleichzeitig einen exakt definierten Wert besitzen können (Heisenbergsche Unschärferelation).

Bohr hat den Begriff nicht eindeutig verwendet. Zentral ist der komplementäre Charakter der quantenmechanischen Naturbeschreibung, die eine neue Sicht auf die Beziehung zwischen Raum-Zeit-Darstellung und der Forderung der Kausalität verlangt. Wesentlich ist die erkenntnistheoretische Einsicht, dass quantenmechanische Feststellungen und – verallgemeinert – viele wissenschaftliche Befunde, beispielsweise in der Biologie und Psychologie, von der gewählten Versuchsanordnung sowie anderen Untersuchungsbedingungen abhängen und einander ausschließende Züge der Beschreibung darstellen können. Insofern ist Heisenbergs Unschärferelation für Bohr nur ein elementares Beispiel (Siehe Komplementaritätsprinzip).

Inwieweit Bohr bei seiner Wahl des Ausdrucks Komplementarität durch die Ideengeschichte und Vorläufer in Philosophie und Theologie angeregt war, ist umstritten.[2]

Neuere Konzepte von Komplementarität

Beispiele finden sich:

  • in der Biologie das Verhältnis sich ergänzender räumlicher molekularer Strukturen, deren Zusammenwirken nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip Voraussetzung für die Erfüllung einer bestimmten Funktion ist;
  • in der Neuropsychologie, Psychophysiologie, Psychosomatik und Komplementärmedizin der Zusammenhang und das Aufeinander-bezogen-Sein des persönlichen Erlebens (der immateriellen Bewusstseinsprozesse) und der neuronalen Prozesse, der „rein psychischen“ und „rein körperlichen“ Faktoren, zur Erklärung von Gesundheitsstörungen und Krankheiten;
  • in der Ethnopsychiatrie nach Georges Devereux beschreibt Komplementarität die gegenseitige Ergänzung und Korrektur verschiedener Methoden, die denselben Gegenstand haben, so z. B. die Theorie eines ethnozentrischen Imperialismus gegenüber der Annahme von universellen psychischen Prinzipien oder das Standortbewusstsein eines Ethnopsychiaters gegenüber der Verabsolutierung von Teilaspekten einer Kultur;
  • in der Kommunikationstheorie nach Watzlawick das Zusammenspiel zweier Verhaltensmuster in zirkulären Kommunikations­abläufen, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen (wie etwa Lehrer und Schüler oder Verfolger und Verfolgter);
  • in der Wirtschaft das Zusammenwirken zweier Währungen in lokalen Wirtschaftskreisläufen (Komplementärwährung);
  • in der Pädagogik nach Jongebloed ein Prinzip, um das Phänomen Bildung anhand des Verhältnisses von Erkenntnis und Erfahrung zu erklären;
  • im Völkerstrafrecht bezeichnet der Komplementaritätsgrundsatz das Verhältnis zwischen dem Internationalen Strafgerichtshof und nationalen Gerichten.

Kritik

Das Komplementaritätsprinzip wurde, dem Vorbild Bohrs folgend, in verschiedene Wissenschaftsbereiche übernommen. Kritisch kann eingewendet werden, dass die Verallgemeinerung des ursprünglichen Begriffs auf andere Gegensätze im Sinne eines vagen Sowohl-als-auch kaum mehr als eine Metapher liefert. Der Ausdruck Komplementarität sei im Grunde überflüssig oder decke Widersprüche nur zu. Nicht jedes Paar von Gegensätzen, jedes Dilemma oder jede Dualität könne als komplementäre Beziehung bezeichnet werden.[3]

Solche Übertragungen weichen von wichtigen Definitionsmerkmalen des Komplementaritätsprinzips in der Quantenmechanik ab. In der Regel sind keine physikalisch formulierten Beobachtungssätze aus experimentellen Versuchsanordnungen gegeben. Die verwendeten Methoden sind nur selten genau definiert, und die Fragen, ob sie sich wechselseitig ausschließen oder nicht gleichzeitig anzuwenden sind, bleiben offen. Unterscheiden sich die verwendeten (beiden) Methoden grundsätzlich und gehören sie vielleicht in kategorial grundverschiedene Bezugssysteme? Der bestehende Unterschied oder Widerspruch ist selten in einer sich strikt ausschließenden Form formuliert, also nicht paradox. Es geht nicht mehr um unvereinbare, experimentell nebeneinander bestehende Beobachtungssätze, sondern um Interpretationssätze (Siehe Komplementaritätsprinzip) oder sogar nur um einfache Kombinationen von Methoden bzw. Ansichten oder um Wechselwirkungen.

Andere Autoren behaupten eine heuristische, beziehungsstiftende Funktion und methodologische Fruchtbarkeit des Konzepts, wobei häufig nicht eine Lösung eines Problems behauptet, sondern es als ein Vermittlungsversuch verstanden wird. Deshalb wäre es der Verständigung dienlich, in den meisten Fällen höchstens von Komplementärverhältnissen zu sprechen und von wechselseitiger Ergänzung, oder die weniger belasteten Begriffe Perspektive, Doppel-Perspektive und Perspektivität vorzuziehen, die nicht durch Definitionen aus der Quantenmechanik kompliziert sind.

Literatur

  • Jochen Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel. Pabst Science Publishers, Lengerich 2013, ISBN 978-3-89967-891-8 [1]
  • David Favrholdt (Hrsg.): Complementarity Beyond Physics (1928–1962). Volume 10. Elsevier, Amsterdam 1999.
  • Ernst-Peter Fischer: Sowohl als auch. Denkerfahrungen der Naturwissenschaften. Hamburg: Rasch und Röhrig, Hamburg 1987, ISBN 978-3-89136-118-4.
  • Ernst-Peter Fischer, Heinz S. Herzka, Karl-Helmut Reich (Hrsg.): Widersprüchliche Wirklichkeit. Neues Denken in Wissenschaft und Alltag. Komplementarität und Dialogik. Piper, München 1992, ISBN 3-492-11554-3.
  • Karl-Helmut Reich: Developing the horizons of the mind: Relational and contextual reasoning and the resolution of cognitive conflict. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2002, ISBN 978-0-521-81795-0.
Wiktionary: Komplementarität – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Dieter Haller (Text), Bernd Rodekohr (Illustrationen): Dtv-Atlas Ethnologie. 2. Auflage. dtv, München 2010, S. 53, 91, 247.
  2. Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel, 2013, S. 334 ff.
  3. Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritätsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel, 2013, S. 318–321 S. 357–361.