Kol Nidre

Das Kol Nidre, Wormser Machsor, 1272.
Kol Nidre, 1950er Jahre

Kol Nidre (aram.: כָּל נִדְרֵי „alle Gelübde“) ist eine formelhafte Erklärung, die vor dem Abendgebet des Versöhnungstages (hebr. Jom Kippur) gesprochen wird. Nach dieser Erklärung wird häufig das gesamte Abendgebet an Jom Kippur benannt.

Geschichte

Der Ursprung des Kol Nidre ist unbekannt. Es existieren dazu zahlreiche Theorien, die sich aber alle als nicht schlüssig erwiesen haben. Beispielsweise formulierte Joseph Samuel Bloch im Jahre 1917 eine zwar dramatische, jedoch nicht belegte Theorie, dass Kol Nidre als Reaktion auf erzwungene Übertritte von Juden zum Christentum entstand, die insbesondere im Spanien des 7. Jahrhunderts unter den Westgoten, in Byzanz zwischen 700 und 850 und von 1391 bis 1492 unter der spanischen Inquisition stattgefunden haben sollen.

Schon in früher Zeit wurden im Judentum zahlreiche Gelübde ausgesprochen, wobei parallel dazu das Bedürfnis entstand, diese zu widerrufen. Eine solche Absolution konnte entweder von einem Gelehrten oder aber von einer Versammlung dreier Laien geschehen. Diese zunächst wohl persönliche Schuldvergebung fand mit der Zeit Einzug in die Liturgie des Versöhnungstages. Vor allem Rabbiner aus den babylonischen Akademien in Sura und Pumbedita sprachen sich jedoch gegen die Formel des Kol Nidre aus, weil es der kontrollierten Praxis des Hatarat Nedarim zuwiderlief, welches die Rücknahme von Gelübden nur unter bestimmten Bedingungen und Kontrolle eines halachischen Gerichts erlaubte.[1] Auch die Karäer wandten sich stets strikt gegen das Kol Nidre. Teilweise war sogar das Studium des talmudischen Traktates Nedarim eingeschränkt. Ursprünglich war das Kol Nidre auf die Vergebung begangener Schuld gegenüber Gott angelegt. Erst im 12. Jahrhundert wurde sie auf Veranlassung von Rabbenu Tam so umgewandelt, dass sie zukünftige Gelübde betraf. Im 13. Jahrhundert fügte der deutsche Rabbiner Meir von Rothenburg eine Formel hinzu, die bis heute vor dem eigentlichen Kol Nidre von drei Gemeindemitgliedern rezitiert wird:

„Vor dem himmlischen Gericht und vor dem irdischen Gericht, mit Einverständnis Gottes und mit Einverständnis dieser Gemeinde bestätigen wir, dass es erlaubt ist, (zusammen) mit Übeltätern zu beten.“

Im reformierten Judentum war das Kol Nidre lange Zeit, dem Beispiel des Hamburger Tempels seit 1818 und David Einhorns folgend, aus den Gebetbüchern zum Versöhnungstag verbannt. Ein Hauptgrund, warum es heute trotzdem in den meisten jüdischen Gemeinden wieder rezitiert wird, liegt in seiner emotionalen Bedeutung.

Die Melodie von Kol Nidre ist eines der berühmtesten Beispiele für jüdische Musik und fand in der Verarbeitung durch Max Bruch (für Cello und Orchester) Eingang in die Kunstmusik. Bekannt wurde die Einspielung 1968 mit der Cellistin Jacqueline du Pré und dem Israel Philharmonic Orchestra unter Daniel Barenboim. In seinem gleichnamigen Werk op. 39 für Sprecher, Chor und Orchester verarbeitete Arnold Schönberg einige der traditionellen Motive.

Inhalt

Eigentlich ist Kol Nidre ein Widerruf aller persönlichen Gelübde, Eide und Versprechungen gegenüber Gott, die unwissentlich oder unüberlegt abgelegt wurden.[2] Grundsätzlich soll der Gläubige nach Deuteronomium 23,23 von Gelübden absehen. Vers 24 verpflichtet, Ausgesprochenes auch einzuhalten. Ein wissentlich vor Gott gesprochener Eid hat also auch weiterhin Gültigkeit. Trotzdem war das Kol Nidre ein beliebtes Ziel für antisemitische[3] Interpretationen. Die Ansicht, der jüdische Glaube erlaube mit dem Kol Nidre zum Beispiel einen Meineid vor Gericht oder durch dieses Gebet würden alle Verträge zwischen Juden und Nichtjuden für ungültig erklärt, ist falsch.[4]

Die ältere sefardische Version des Kol Nidre sowie die aschkenasische Version, die aus dem Mittelalter stammt, unterscheiden sich geringfügig voneinander. In der aschkenasischen Fassung wird die Zukunftsform verwendet: „Alle Gelübde, die wir von jetzt an bis zum kommenden Versöhnungstag aussprechen …“, in der sefardischen die Vergangenheitsform.

Rituale

Am Versöhnungstag steht der Gläubige während des ersten in der Synagoge gesprochenen Gebets. Dabei wird das kurze Kol Nidre drei Mal wiederholt. Dadurch komme man in eine Übereinkunft mit dem allmächtigen Gott, dass jeder Eid, jedes Gelöbnis, jedes Ehrenwort, das man für sich persönlich oder in Bezug auf Verordnungen der Gemeinde unüberlegt im nächsten Jahr gibt, ungültig sein sollen.

Das Kol Nidre im Wortlaut

“כָּל נִדְרֵי וֶאֱסָרֵי וּשְׁבוּעֵי וַחֲרָמֵי וְקוֹנָמֵי וְקִנּוּסֵי וְכִנּוּיֵי, דְּאִנְדַרְנָא וּדְאִשְׁתַּבַּעְנָא, וּדְאַחֲרִימְנָא וּדְאָסַרְנָא עַל נַפְשָׁתָנָא. מִיּוֹם כִּפּוּרִים זֶה עַד יוֹם כִּפּוּרִים הַבָּא עָלֵינוּ לְטוֹבָה. בְּכֻלְּהוֹן אִיחֲרַטְנָא בְהוֹן, כֻּלְּהוֹן יְהוֹן שָׁרָן, שְׁבִיקִין שְׁבִיתִין בְּטֵלִין וּמְבֻטָּלִין, לָא שְׁרִירִין וְלָא קַיָּמִין. נִדְרָנָא לָא נִדְרֵי וֶאֱסָרָנָא לָא אֱסָרֵי וּשְׁבוּעָתָנָא לָא שְׁבוּעוֹת.”

Kol Nidrej ve esarej, uschevu'ej, va charamej, ve konamej, ve kinusej, ve chinujej, dinedarena ude’ischtaba’na ude’acharimna ude'asarna al nafeschatana. Mi Jom Kippurim zeh ad Jom Kippurim habah alejnu le’tovah. Bechulhon icharatna behon, kulhon jehon scharan. Schewikin. Schewitin. Betejlin umevutalin. La scheririn ve la kajamin. Niderana la nidrej ve esarana la esarej. Uschvu’atana la schevuot.

„Alle Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Umschreibungen und alles was dem gleicht, Strafen und Schwüre, die ich gelobe, schwöre, als Bann ausspreche, mir als Verbot auferlege von diesem Jom Kippur an, bis zum erlösenden nächsten Jom Kippur. Alle bereue ich, alle seien ausgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und vernichtet, ohne Rechtskraft und ohne Bestand. Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Schwüre keine Schwüre.“

Jüdisches Leben/Talmud.de[5]

Literatur

  • Joseph Jacobs, Max Schloessinger, Cyrus Adler, Francis L. Cohen: KOL NIDRE. In: Isidore Singer (Hrsg.): Jewish Encyclopedia. Funk and Wagnalls, New York 1901–1906.
  • Ismar Elbogen: Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung. Frankfurt am Main 3. Aufl. 1931.
  • Moshe Benovitz: Kol Nidre – Studies in the Development of Rabbinic Votive Institutions, Scholars Press, 1998, ISBN 9780788504761
  • Thomas Rahe: „Höre Israel“ – Jüdische Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-525-01378-7 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).[6]
  • Samuel Krauss: Das Problem Kol Nidre. In: Jahrbuch der Jüdisch-literarischen Gesellschaft 19 (1928), S. 85–97.
  • Herman Kieval, Bathja Bayer: Art. Kol Nidrei. In: Encyclopedia Judaica 2. Aufl., Bd. 12, 276–278.

Musikalische Werke

Weblinks

Wikisource: Der Text des כל נדרי – Quellen und Volltexte (hebräisch)

Einzelnachweise

  1. Lawrence A. Hoffman: All These Vows – Kol Nidre, Jewish Lights Publishing, 2011, ISBN 978-1-58023-430-6, S. 9
  2. Encyclopaedia Judaica, Band XII (Kat-Lie), Thomson Gale, Detroit, 2. Aufl., 2007, S. 276
  3. Ben Rabbi Nathan: Das Kol Nidre-Gebet und die Antisemitismusbegründung; aus der Rubrik Frag’ den Rabbi: „Der Antisemitismus beruht auf einem Vorurteil. Die Gründe für den Antisemitismus wie auch für ein Vorurteil sind nicht beim Opfer, sondern beim Antisemiten, dem Täter zu suchen. – Wie auch sonst bei einem Vorurteil sucht der Täter eine Begründung für seinen Hass. Da es für ein Vorurteil keine Begründung geben kann, wird sie vom Täter konstruiert. – Jahrhundertelang diente das Kol Nidre-Gebet manchen Christen dazu, die Juden der Untreue, der Unzuverlässigkeit, der Falscheide zu verdächtigen und zu beschuldigen mit der Begründung, die Juden würden sich von ihren Versprechungen und Eiden im Vorhinein und Nachhinein lossagen. – Warum gerade dieses Gebet dafür herhalten musste, kann mit dem schlechten Gewissen derjenigen Christen zusammenhängen, die sich durch die Beichte und Bußleistungen von ihren Sünden befreien, die sie dann doch wieder begehen. Sie bezichtigen die Hassobjekte der Scheinheiligkeit und Untreue, die sie bei sich nicht sehen wollen. Da kommt die Funktion der Projektion zum Vorschein: Die eigenen schlechten Eigenschaften und bösen Handlungen werden auf den Gegner projiziert, und er wird mit diesen belastet.“ Zuletzt abgerufen am 21. September 2010.
  4. Ben Rabbi Nathan: Das Kol Nidre-Gebet und die Antisemitismusbegründung; aus der Rubrik Frag’ den Rabbi: „Während sich die Gelübde, die nachträglich oder im Voraus für nichtig erklärt werden, auf die eigene Person beziehen, ist die Aufhebung einer Verpflichtung gegenüber anderen durch die Bestimmungen des jüdischen Rechts ausgeschlossen.“. Zuletzt abgerufen am 21. September 2010.
  5. Chajm Guski: Das Kol-Nidrej-Gebet. In: talmud.de. 29. November 2013, abgerufen am 3. Oktober 2019.
  6. So betonen die Berichte über das (gesungene) Gebet Kol Nidre in den Lagern vor allem dessen emotionale Qualität für die Häftlinge, wie im Fall von Leon Szalet: „Plötzlich wurde die bedrückende Stille durch eine traurige Melodie unterbrochen. Es war der klagende Klang des alten ‚Kol Nidre‘ Gebets.“ Thomas Rahe: „Höre Israel“ – Jüdische Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 156; „Ein (…) Phänomen ist eine nicht mehr nur durch Zufall erklärbare, auffallende Häufigkeit von Deportationen, Selektionen und vernichtungsaktionen an jüdischen Feiertagen, und zwar sowohl außerhalb als auch innerhalb der Konzentrationslager. (…) Das Warschauer Ghetto wurde am Jom Kippur 1940 geschlossen, (…) die endgültige Liquidierung des Ghettos wurde auf das Pessachfest 1943 terminiert (…) – eine Praxis für die unter polnischen Juden bald die Bezeichnung ‚Goebbels' Kalender‘ entstand. Daß auch einige der jüdischen Widerstandsaktionen an jüdischen Festtagen begannen (…) hat in diesem Zusammenhang zumindest Symbolcharakter.“ S. 47.
  7. Kol Nidre für Sprecher (Rabbi), gemischten Chor und Orchester. In: schoenberg.at. Arnold Schönberg Center, 2. Juli 2018, abgerufen am 13. Mai 2021 (mit Brief von Arnold Schönberg an Paul Dessau, 22. November 1941).
  8. Kol nidre. Abgerufen am 27. Oktober 2023 (amerikanisches Englisch).
  9. Kol Nidre, from Masada Book 1 by John Zorn. Abgerufen am 27. Oktober 2023.

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Kol Nidrei, Nathan Adler and choir, recorded in Toronto at the 1950s.