Josef Wintrich

(c) Bundesarchiv, B 145 Bild-F050216-0037 / CC-BY-SA 3.0
Josef Wintrich 1951

Josef Marquard Wintrich (* 15. Februar 1891 in München; † 19. Oktober 1958 in Ebersberg) war vom 23. März 1954 bis zu seinem Tod Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Biografie

Ausbildung und Beruf (1910 bis 1933)

Josef Wintrich wurde 1891 in München als Sohn eines Postassistenten geboren. Nach dem Besuch des Luitpold-Gymnasiums studierte er von 1910 bis 1915 Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Außerdem hörte er Vorlesungen zu Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft. 1915 bestand er das Referendarexamen. Wintrich, der wegen des Verlustes einer Hand nicht am Ersten Weltkrieg teilnehmen konnte, wurde 1918 Assessor und arbeitete in den folgenden Jahren in einer Anwaltskanzlei. 1921 wurde Wintrich mit der Arbeit Untersuchungen zum Problem des Amts- und Dienstverhältnisses unter besonderer Berücksichtigung des Dienstbefehls promoviert. Josef Wintrich war Mitglied der katholischen Studentenverbindung KDStV Aenania München und Gründungsmitglied der KDStV Trifels München, beide im CV. Im Juli 1921 begann Josef Wintrich seine Laufbahn im Staatsdienst als Assessor am Landgericht München und kam von dort 1923 als 3. Staatsanwalt an das Landgericht München II. Ab Mitte der 1920er Jahre lehrte er nebenberuflich an der Bayerischen Verwaltungsakademie Verwaltungs- und Staatsrecht und später als Dozent an der Universität München. 1926 wurde Wintrich Amtsrichter und 1930 1. Staatsanwalt am Landgericht München II.

Beruf in der NS-Zeit und Karriere ab 1945

Im November 1933 wurde Wintrich als Oberamtsrichter an das Amtsgericht Ebersberg versetzt, nachdem er sich als Staatsanwalt zu sehr für die sprunghaft angestiegenen Todeszahlen im Konzentrationslager Dachau interessiert hatte.[1] 1936 entzog das NS-Regime ihm die Lehrbefugnis. Die US-Besatzungsbehörde in Bayern (USGCC, ab dem 29. September 1945 OMGUS) ernannte den unbelasteten Wintrich am 8. Mai 1945 zum Landrat im Landkreis München. Wintrich trat der CSU bei. 1947 wurde Wintrich Oberlandesgerichtsrat am Oberlandesgericht München; 1949 übernahm er den Vorsitz eines Senates. Als Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof arbeitete er ab 1947 an der Satzung dieses höchsten bayerischen Gerichts mit und wurde 1953 dessen Vizepräsident. Im selben Jahr wurde er zum Präsidenten des Oberlandesgerichts München ernannt.

Am Bundesverfassungsgericht (1953 bis 1958)

Im November 1953 wurde Wintrich Richter am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. Wintrich übernahm wesentliche Elemente seines verfassungsrechtlichen Menschenbildes aus der katholischen Soziallehre. Nach dem Tod des BVerfG-Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff wurde er selbst am 23. März 1954 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. 1955 und 1956 wurde er wiedergewählt und hätte damit bis 1963 amtieren können.

Im Juli 1956 erhielt er eine Honorarprofessur für Verfassungsgerichtsbarkeit an der Universität München. Ende Januar 1958 wurde Wintrich Leiter der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie München, an deren Wiederaufbau er Ende der 1940er Jahre mitgewirkt hatte. Am 19. Oktober 1958 starb er überraschend an einem Herzinfarkt. Er wurde auf dem Friedhof in Ebersberg beigesetzt. Zum Nachfolger wurde am 13. November 1958 der baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller berufen.

Am 18. Juli 1981 wurde die seit 1965 bestehende Realschule in der oberbayrischen Kreisstadt Ebersberg in Dr.-Wintrich-Schule umbenannt.[2] In Ebersberg ist die Dr.-Wintrich-Straße im Stadtzentrum und in München-Moosach der Wintrichring nach ihm benannt.

Historische Bedeutung

Aus konservativer Sicht wurde oft betont, Wintrich sei 1933 von den Nazis in seine Heimatstadt „abgeschoben“ worden, weil er sich für die zahlreichen Todesfälle im KZ Dachau interessiert habe. Im Entzug seiner universitären Lehrbefugnis wurde ein Beweis einer NS-fernen Gesinnung gesehen. Linke Kritiker warfen Wintrich hingegen in den 1950er Jahren vor, er sei ein vom NS-Regime geschätzter und dekorierter Jurist gewesen.

Das KPD-Verbot

Als herausragendste Entscheidung seiner Amtszeit gilt das – bis heute staats- und verfassungsrechtlich umstrittene – KPD-Verbot vom 17. August 1956 (Aktenzeichen 1 BvB 2/51). 1955 hatte Wintrich zur Vorbereitung des Urteils an der Universität Salzburg bei dem Jesuiten und Philosophiedozenten Gustav Wetter (1911–1991) ein Kolleg über Die Weltmacht des dialektischen Materialismus gehört, „um sein Wissen von den geistigen Grundlagen der KPD zu vertiefen“.[3] In den 1950er Jahren wurde Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgeworfen, durch das von ihm 1951 und 1952 betriebene Verbot der nationalsozialistischen SRP ein Argument für das eigentlich beabsichtigte KPD-Verbot vorzuschieben. Adenauer wurde außerdem vorgehalten, massiven Druck auf das Bundesverfassungsgericht auszuüben. Die Ernennung des rechtskonservativen Juristen Wintrich als Nachfolger des liberalen Höpker-Aschoff, der einem KPD-Verbot kritisch gegenübergestanden hatte, wurde von der zeitgenössischen linksliberalen Presse als politischer Trick der zweiten Regierung Adenauer aufgefasst. Bei diesem „druckvollen Trick“ ließ sich Adenauer jedoch Zeit. „Als im November 1954 das Verbotsverfahren gegen die KPD im dritten Jahr vor sich hindümpelte“, besuchte BVG-Präsident Wintrich Konrad Adenauer. Dabei erfuhr er, dass die Bundesregierung an ihrem Antrag festhielt.[4]

§ 175

Wintrich war 1957 der Vorsitzende des Ersten Senats des BVerfG. Dieser wies am 10. Mai 1957 die Verfassungsbeschwerden gegen die §§ 175 und 175a in der 1935 von den Nationalsozialisten verschärften Fassung zurück und erklärte u. a.,[5]

„1. Die Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§§ 175 f. StGB) verstoßen nicht gegen den speziellen Gleichheitssatz der Abs. 2 und 3 des Art. 3 GG, weil der biologische Geschlechtsunterschied den Sachverhalt hier so entscheidend prägt, daß etwa vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten.
2. Die §§ 175 f. StGB verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, daß jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt.“

Veröffentlichungen

  • Schutz der Grundrechte durch Verfassungsbeschwerde und Popularklage. Vortrag gehalten am 16. Januar 1950 vor der Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten Sitz München. Habbel, Regensburg 1950 (= Die Diskussion, Heft 9).
  • Zur Problematik der Grundrechte. Westdeutscher Verlag, Köln 1957 (= Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe 1: Geisteswissenschaften, Bd. 71).

Literatur

  • Alfons Goppel: Zum Gedenken an Josef Wintrich. In: Juristenzeitung. Band 14, 1959, 5/6, S. 186–188. ISSN 0022-6882.
  • Ansprachen zur Amtseinführung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Dr. Josef Wintrich am 9. Juni 1954. C.F. Müller, Karlsruhe 1954.
  • Hugo Lang: Nachruf auf Prof. Dr. Josef Marquart Wintrich. In: Der Zwiebelturm. Band 14 5, 1959, S. 102–103.
  • Rudolf Katz: Das Recht und die politische Gewalt: Gedenkrede bei der Trauerfeier für den verstorbenen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Dr. Josef Wintrich und den verstorbenen Bundesverfassungsrichter Franz Wessel am 24.10.1958. In: Die Gegenwart. Band 13 22, 1958, S. 693–694.
  • Theodor Heuss: Abschied von Dr. Wintrich: Gedenkrede des Bundespräsidenten bei der Gedenkfeier für den verstorbenen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Dr. Josef Wintrich am 6. Nov. 1958 im Bundeshaus in Bonn. In: Deutsche Richterzeitung, Band 36, 12, 1958, S. 329.
  • Josef Habbel: Josef Wintrich und der Geist des "Zwiebelturm". In: Der Zwiebelturm. Band 14, 5, 1959, S. 107.
  • Theodor Maunz: Ringen um ein wertgebundenes Recht: der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Dr. Josef Marquard Wintrich. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 33(1984), S. 167–174.
  • Abschied vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Josef Marquard Wintrich gest. 10.10.1958 und vom Richter des Bundesverfassungsgerichts Franz Wessel gest. 10.9.1958. Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe 1958. (Maschinenschr. vervielf.)
  • Nachrufe für Josef Wintrich. In: Korrespondenzblatt des AH-Verbandes und der Aktivitas der KDStV Aenania. München 19, 1959, S. 29–40.
  • Peter Claus Hartmann: Josef Wintrich – ein bayerischer Spitzenjurist und Bundesverfassungsgerichtspräsident (1954–1958) und seine Schwierigkeiten im Dritten Reich. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Band 83 (2020), Heft 1, S. 121–141.
  • Willi Geiger: Unser Porträt – Dr. Josef Wintrich. In: Erziehung und Beruf. Band 9, 11, 1960, S. 419–420. ISSN 0174-8947.
  • Menschen und Politik: Nachruf auf Präsident Dr. Josef Wintrich. In: Politische Studien. Band 9 103, 1958, S. 764–765.
  • Teta Fraja: Josef Marquart Wintrich als Zeichner seiner Heimat. In: Der Zwiebelturm. Band 14, 5, 1959, S. 103–106.

Weblinks

Commons: Josef Wintrich – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Volkmar von Zühlsdorff: Der höchste Richter. In: Die Zeit. 25. März 1954, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 26. April 2016]).
  2. Bedeutende Bürger der Stadt. In: Kultur & Geschichte. Stadt Ebersberg. Auf Ebersberg.de, abgerufen am 5. September 2020.
  3. Internationales Biographisches Archiv 51/1958 vom 8. Dezember 1958 (Munzinger-Archiv)
  4. Claus Leggewie, Horst Meier: Außer Spesen nichts gewesen, taz vom 12. Februar 2002, S. 12.
  5. Urteil des Ersten Senats vom 10. Mai 1957 – 1 BvR 550/52, opinioiuris.de, abgerufen am 15. November 2020.

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