Josef Nadler

Josef Nadler

Josef Nadler (* 23. Mai 1884 in Neudörfl bei Reichenberg, Österreich-Ungarn; † 14. Januar 1963 in Wien) war ein österreichischer Germanist und Literaturhistoriker, der insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus als Protagonist einer „neuen nationalsozialistischen Dichtung“ bekannt wurde.

Leben und Werk

Nadler besuchte das Jesuitenkonvikt in Mariaschein und das Gymnasium in Böhmisch-Leipa. Dort machte er 1904 Abitur, anschließend studierte er an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag Germanistik mit dem Nebenfach Klassische Philologie bei Carl von Kraus, Adolf Hauffen und August Sauer. Bei letzterem promovierte Nadler 1908 über Eichendorffs Lyrik.

1912 veröffentlichte Nadler den ersten Band seiner populärwissenschaftlichen Literaturgeschichte. Dieser bildete die Grundlage für seine Berufung als außerordentlicher Professor zum Nachfolger von Wilhelm Kosch an die Universität Freiburg im Üechtland in der Schweiz. 1914 wurde Nadler dort ordentlicher Professor und lehrte dort bis 1925, allerdings unterbrochen durch den Kriegsdienst von 1914 bis 1917. 1925 erhielt Nadler einen Ruf an die Albertina in Königsberg (Preußen) als Nachfolger Rudolf Ungers. Dort lud er den estnischen Dichter und Literaturkritiker Gustav Suits zu Vorträgen ein. Durch Nadlers gute Verbindungen nach Litauen, u. a. zu seinem Schüler Joseph Ehret in Kaunas, kam es zur Durchführung der „Deutschen Sprachkurse“ speziell für litauische Studenten.

1931 erhielt Nadler einen Ruf nach Wien als Nachfolger Paul Kluckhohns. Im Zuge des Berufungsverfahrens versuchte man, die beiden Hauptkandidaten zu charakterisieren: „Als Persönlichkeit hat Nadler wohl nicht die gewinnende Liebenswürdigkeit und Harmonie Günther Müllers, aber sehr starkes Temperament und zähe Energie.“[1]

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich benannte Nadler seine bis dahin in 3 Auflagen erschienene Literaturgeschichte um und überarbeitete sie. Sie erschien als 4. Auflage der Literaturgeschichte des deutschen Volkes (Berlin, 1938–1941). Hier fallen seine antisemitischen Tiraden auf. Denn Nadler sah das Judentum als Gefahr:

„Alle europäischen Völker haben, solange sie gesund und eigenständig waren, die Wohngemeinschaft mit den Juden als unwillkommen und gefährlich empfunden. Alle die jung aufstrebenden westeuropäischen Volksstaaten des Mittelalters haben die Juden unter sich bis auf die Wurzel ausgerottet.“[2]

Dem Dichter Heinrich Heine gilt dabei sein besonderer Hass. Er überschüttet Heine mit einer wahren Flut von Beschimpfungen. Walter Grab zitiert ihn u. a.: Als „geistiger Bankerotteur ohne Geschmack, ohne Organ für den Geist der Kunst, der Wahrheit, der inneren Haltung war er der einflußreichste Verwüster des deutschen Prosastils, der Schöpfer der Zeitungsphase“.[3] An anderer Stelle begrüßt Nadler die Ermordung des Schriftstellers Hugo Bettauer (Die Stadt ohne Juden) im März 1925:

„Es war eine sinnvolle Handlung, als Hugo Bettauer 1925 seines schmutzigen Handwerks wegen von einem jungen Mann erschossen wurde.“[4]

Dieser Band wurde 1947 in der SBZ in die Liste der auszusondernden Literatur aufgenommen.[5] Nach 1945 wurde die ausgewogenere 3. Auflage als Nachdruck vorgelegt.

Nadler gehörte wie Adolf Bartels, Heinz Kindermann, Franz Koch, Hellmuth Langenbucher, Walther Linden (1895–1943), Arno Mulot und Hans Naumann zu den führenden Literaturwissenschaftlern des „Dritten Reiches“, die immer wieder zu einer „neuen ‚nationalsozialistischen Dichtung‘“ aufriefen.[6][7] Wegen seiner Aktivitäten zur Zeit des Nationalsozialismus wurde Nadler 1945 außer Dienst gestellt, und 1947 erfolgte seine Pensionierung. Es folgte ein Streit um seine Rehabilitierung, und Nadler wurde dadurch zu einer Leitfigur des sich neu formierenden deutschnationalen Lagers in Österreich.

Nach 1945 trat er vor allem als Literaturhistoriker in Erscheinung. Er publizierte eine Literaturgeschichte Österreichs (1948), Monographien über Franz Grillparzer (1948), Johann Georg Hamann (1949), Josef Weinheber (1952) sowie Editionen der Werke Hamanns (Sämtl. Werke, 6 Bde., 1949–57) und Weinhebers (Sämtl. Werke, 5 Bde., 1953–56). Nadler verstarb am 14. Januar 1963 in Wien. Er wurde am Grinzinger Friedhof bestattet.[8] Das Grab ist bereits aufgelassen. Eine von Nadler verfasste Biographie über den Schriftsteller Henry Benrath blieb unveröffentlicht.

Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften

Nadler beschäftigte sich zeitlebens mit seinem Hauptwerk der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Regensburg 1912–1928). Ein früher Briefwechsel mit August Sauer deutet darauf hin, dass Nadler ursprünglich Literatur noch vorwiegend unter geographischen und landschaftlichen Aspekten untersuchen wollte, daher wie Landschaft und Literatur zueinander bedingen und wechselwirken.[9] Später, was sich ab dem zweiten Band bemerkbar macht und vor allem im vierten Band deutlich wird, ging er zu essenzialistischen und deterministischen Denkansätzen über und interpretiert die deutsche Literaturgeschichte unter vornehmlich völkischen Gesichtspunkten. Danach hätten die Germanen durch körperliche Vermischung mit den Römern die besten Eigenschaften der römischen Kultur aufgenommen und seien so fähig geworden, diese Eigenschaften in die Entwicklung ihrer „Rasse“ aufzunehmen. Nadler wies verschiedenen Volksstämmen unterschiedliche geistige Strömungen in der deutschen Literatur zu.

Mitgliedschaft in der NSDAP

Franz Graf-Stuhlhofer betont das oftmals rechthaberische und opportunistische Verhalten Nadlers.[10] 1935 klagte Nadler den Wiener Landesschulinspektor Oskar Benda wegen Ehrenbeleidigung an, da dieser ihn in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt und seine (katholische) Rechtgläubigkeit bezweifelt hatte. Damals, zur Zeit des katholisch orientierten Ständestaates, meinte Nadler sich gegen eine solche Einschätzung wehren zu müssen. (Nach Kriegsende griff Nadler diese seine Klage als Argument auf, um seine Distanz zum Nationalsozialismus zu belegen.)

Nadler beantragte am 13. Juni 1938 die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 6.196.904).[11][12] Anfang 1944 erläuterte er seine aktive Mitarbeit in der Partei: „Ich habe vom Sommer 1939 bis zum Juni 1943 in der Ortsgruppe Dienst gemacht und zwar zunächst als Blockhelfer, dann als Blockwalter …“.

Als ein ehemaliger Schüler Nadlers dessen nationalsozialistische Gesinnung in Frage stellte, verwies Nadler ihn auf seine aktive Mitarbeit in der NSDAP sowie darauf, dass er die Rassenkunde keineswegs geringschätze, sondern sie in seiner Vorlesung sogar „als Zentralwissenschaft gefordert“ hatte.

Ende 1942 sah sich Nadler „gezwungen“, in einer ihn „diskriminierenden Angelegenheit das Gaugericht Wien anzurufen“. In der Nachkriegszeit stellte er dies als eine „Verfolgung durch das Gaugericht Wien“ dar. Die Angelegenheit landete beim Obersten Parteigericht in München, und Martin Bormann befasste sich damit. Er erwähnte Nadlers Beschwerden gegen die zwei Reichsminister Goebbels und Rust. Unter Hinweis auf Nadlers Klage von 1935 arbeitete Bormann auf folgende Lösung hin: Die Aufnahme Nadlers mit niedriger Mitgliedsnummer – so als hätte er sich für den Nationalsozialismus eingesetzt, als das in Österreich noch verboten war – war nicht korrekt, daher sei „die Aufnahme rückgängig zu machen und Professor Nadler ehrenvoll aus der Partei zu entlassen“. Aber einige engagierte Nationalsozialisten in Wien wollten das nicht umsetzen, vor allem Baldur von Schirach (Reichsstatthalter in Wien), der die Sache aufschob. Es ist nicht ganz klar, ob es hier zu einer offiziellen Entscheidung kam – Nadler erfuhr davon erst Jahre später. Martin Bormann erwähnte in seinem Brief vom 25. Februar 1944 auch, dass er Hitler Auskunft über Nadler geben musste, da jener gerade dessen Literaturgeschichte lese.[13]

Auszeichnungen und Ehrungen

Schriften

Literatur

  • Elias H. Füllenbach: Josef Nadler. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2017, S. 533–540.
  • Wolfgang Müller-Funk: Josef Nadler: Kulturwissenschaft in nationalsozialistischen Zeiten? In: Die "österreichische" nationalsozialistische Ästhetik, hrsg. v. Ilija Dürhammer. Böhlau, Wien u. a. 2003 ISBN 3-205-77151-6.
  • Wolfgang Hecht: Nötige Bemerkungen zu einem unnötige Buche: Josef Nadler "Kleines Nachspiel". In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam (Gesellschafts- und sprachwissenschaftlichen Reihe) 3 (1957), 1, S. 103–106.
  • Markus Knecht: Josef Nadlers "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften". Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. München 1988 (Univ. Dipl.-Arb.).
  • Sebastian Meissl, Friedrich Nemec: Nadler, Josef. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, ISBN 3-428-00199-0, S. 690–692 (Digitalisat).
  • Gisela Brude-Firnau: Thomas Mann und Josef Nadler. Drei Dezennien Literaturgeschichte. In: Seminar, 31 (1995), University of Toronto Press, S. 203–216.
  • Irene Ranzmaier: Deutsche Nationalliteratur(en) als Kultur-, Sozial- und Naturgeschichte. Josef Nadlers stammkundliche Literaturgeschichtsschreibung 1909–1931. Wien 2005 (Univ. Diss. 2005).
  • Universitätsprofessor Dr. Josef Nadler zum 75. Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden und Schülern. Österreich. Bundesverlag, Wien 1959.
  • Hans Huchzermeyer: Zur Geschichte der evangelischen Kirchenmusik in Königsberg/Preußen (1800–1945). Die kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten, Minden 2013, ISBN 978-3-00-041717-7, S. 129–135.
  • Hans-Christof Kraus: Josef Nadler (1884–1963) und Königsberg. In: Preußenland 38 (2000), S. 12–26.
  • Peter Wiesinger, Daniel Steinbach: 150 Jahre Germanistik in Wien. Außeruniversitäre Frühgermanistik und Universitätsgermanistik. Edition Praesens, Wien 2001, ISBN 3-7069-0104-8.
  • Irene Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft. Böhlau, Wien 2005, S. 102–123 (über Nadler als Lehrstuhlinhaber) und 163–167 (über Nadlers Entnazifizierung).
  • Jan Zimmermann: Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S. 1935–1945. Darstellung und Dokumentation. Hrsg. von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. Hamburg 2000, S. 152–164.
  • Gedenkschrift für Josef Nadler aus Anlaß seines 100. Geburtstages. 1884–1984. Selbstverlag der J.-G.-Herder-Bibliothek Siegerland, Siegen 1984. (Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland e.V. 14)
  • Walter Rumpf: Bibliographie Josef Nadler. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Publikationen und Veröffentlichungen in den Jahren 1909–1934. Breslau 1935.
  • Franz Graf-Stuhlhofer: Opportunisten, Sympathisanten und Beamte. Unterstützung des NS-Systems in der Wiener Akademie der Wissenschaften, dargestellt am Wirken Nadlers, Srbiks und Meisters. In: Wiener Klinische Wochenschrift 110 (1998), Heft 4–5 (Zum 60. Jahrestag der Vertreibung der jüdischen Kollegen aus der Wiener medizinischen Fakultät), S. 152–157.
  • Elias H. Füllenbach: Nadler, Josef. In: Christoph König (Hrsg.), unter Mitarbeit von Birgit Wägenbaur u. a.: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Band 2: H–Q. De Gruyter, Berlin/New York 2003, ISBN 3-11-015485-4, S. 1298–1301.
  • Moriz Enzinger: Josef Nadler – Nachruf. In: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 113. Jahrgang (1963), S. 385–415 (Sonderdruck).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Universitäts-Archiv Wien, Personal-Akt Josef Nadler, Bl.42f. Zitiert nach Graf-Stuhlhofer: Opportunisten, S. 152.
  2. Bd. 4 über das Reich (1914-1940) beginnt mit den Leitgedanken (S. 1–6), dort S. 2.
  3. Walter Grab: Heinrich Heine als politischer Dichter. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-7632-4016-0, S. 21.
  4. nach Anne Betten, Konstanze Fliedl: Judentum und Antisemitismus: Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich. Erich Schmidt Verlag GmbH & Co KG 2003. ISBN 978-3-503-06151-8. S. 175 in Josef Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung uns Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 4: Reich (1914–1940). Berlin 1941, S. 469.
  5. Liste der auszusondernden Literatur 1947. Der Name ist dort als „Nadier, Josef“ verdruckt.
  6. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der Gleichschaltung bis zum Ruin. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010, S. 390.
  7. Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher: Literatur in Österreich 1938–1945: Handbuch eines literarischen Systems. Band 3: Oberösterreich. Böhlau Verlag, Wien 2014, S. 270.
  8. Josef Nadler in der Verstorbenensuche bei friedhoefewien.at
  9. Masato Izumi: Zur Entstehung der "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" von Josef Nadler, in: Josef Fürnkäs (Hrsg.): Zwischenzeiten. Zwischenwelten. Festschrift für Kozo Hirao. Frankfurt a. M. 2001.
  10. In: Opportunisten.
  11. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/30011237
  12. Graf-Stuhlhofer: Opportunisten, S. 153. Sein Beitritt wird mit August 1938 angegeben bei Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-10-039326-5, S. 427.
  13. Die Belege aus den Nadler betreffenden Personalakten im Archiv der Republik, im Universitätsarchiv Wien sowie im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Bei Graf-Stuhlhofer: Opportunisten.

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