Jüdischer Friedhof (Göttingen)

Älterer Teil des Jüdischen Friedhofs in Göttingen (2014)

Der Jüdische Friedhof Göttingen in Göttingen (Niedersachsen) befindet sich unter der Adresse Kasseler Landstraße 1a direkt am alten westlichen Stadtrand von Göttingen.[1] Die Lage ist historisch bedeutsam südwestlich der alten Göttinger Gerichtslinde in unmittelbarer Nachbarschaft zum früheren Richtplatz. Die heute angrenzenden Straßenzüge sind „Posthof“, „Kasseler Landstraße“ und „An der Gerichtslinde“. Das Areal des Friedhofs umfasst eine Fläche von gut 6000 m² mit inzwischen über 500 Gräbern.[2] Eine Mauereinfriedung des 19. Jahrhunderts schirmt den Friedhof vom Verkehr der heutigen Ausfallstraße Kasseler Landstraße (Bundesstraße B 3) ab. Der älteste der 437 erhaltenen historischen Mazewot (jüdischen Grabsteine) stammt aus dem Jahr 1701; der Friedhof dürfte kurz vorher Ende des 17. Jahrhunderts entstanden sein.[2] Südlich und westlich schließt sich das etwa 200 Jahre später erschlossene Areal des erweiterten und viel größeren Göttinger Stadtfriedhofs an. Der Jüdische Friedhof „ist das einzige öffentlich sichtbare Zeugnis der jüdischen Stadtgeschichte Göttingens, das die Vernichtungsaktionen der NS-Zeit überstanden hat – ein Zeugnis, das die lange Geschichte jüdischen Lebens in Göttingen ebenso wie die Assimilations-Bestrebungen jüdischer Bürger widerspiegelt.“ (Berndt Schaller)[2]

Geschichte und Beschreibung

Die Entstehung des Jüdischen Friedhofs wird in der Zeit gegen Ende des 17. Jahrhunderts angenommen.[3] Dieses älteste Kernstück des Jüdischen Friedhofs befindet sich heute an der westlichen Grenze zum benachbarten kommunalen Stadtfriedhof. Eine erste Erweiterung des Friedhofs nach Osten erfolgte 1876/77 im zeitlichen Zusammenhang mit der Einrichtung des Stadtfriedhofs;[2] aus dieser Zeit stammt die neue Nordzufahrt mit datierten Torpfeilern an der Kasseler Landstraße. Eine weitere Erweiterung mit einem dritten Abschnitt wurde 1925/26 vorgenommen und reichte nun im Osten bis an den Straßenzug „An der Gerichtslinde“.[2][4]

Die ältesten Mazewot sind Liegeplatten aus Sandstein. Die große Mehrzahl der Grabmale bilden stehende Grabsteine aus verschiedenen Natursteinarten, letztere zumeist auch mit steinernen Einfassungen der Einzel- oder Familiengrabstellen. Eine Ausnahme bildet nur das repräsentativ gestaltete und aus Wesersandstein errichtete Mausoleum für Lina († 1907) und Siegfried Deutschmann († 1880),[5] das 1915 nach Entwürfen des Göttinger Architekten Wilhelm Rathkamp entstand.[6]

In der Zeit des Nationalsozialismus kam es mehrfach zu Schändungen, doch konnte der Friedhof weiter belegt werden.[2] Letzte Bestattungen fanden 1941 und 1942 statt. Der Friedhof hatte so als einzige Einrichtung der alten jüdischen Gemeinde die Zeiten überstanden, „allerdings in einem stark beschädigten, verheerten und verwilderten Zustand“.[2] Nach 1945 kam es nur zu gelegentlichen Bestattungen; die ersten zwei erfolgten 1946.[2] IN den 1950er Jahren wurde der verwahrloste Friedhof wiederhergerichtet.[7] In der Nachkriegszeit tauchten bekannte Namen auf den Grabsteinen auf, so von Richard Gräfenberg († 1951), einem der vier Göttinger Juden, die in Göttingen selbst überlebt hatten und der nach 1945 erster Vorsitzende der Gemeinde war,[8][7] oder von Göttingens Oberbürgermeister Artur Levi († 2007). Heute dient der Friedhof den seit 1990 neu entstandenen jüdischen Gemeinden als Begräbnisstätte. Vor allem Gräber Verstorbener von aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten jüdischen Familien füllen inzwischen den dritten Friedhofsabschnitt und prägen dessen Bild.[2]

Der älteste Teil des Jüdischen Friedhofs und die erste Erweiterung sind im Besitz des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und werden von ihm gepflegt. Der neuere Teil des dritten Abschnitts ist im Besitz der jüdischen Gemeinde Göttingen.[2] Bis vor einigen Jahren fanden regelmäßige Führungen über den Friedhof statt,[9] bis der Friedhof wegen umstürzender Grabsteine aus Sicherheitsgründen für Besucher gesperrt werden musste. 2021 soll eine durch Bundesmittel geförderte Instandsetzung von 150 Grabsteinen beginnen.[10][11]

Siehe auch

  • Alte Synagoge (Göttingen)

Literatur

  • Peter Wilhelm: Die Synagogengemeinden Göttingen, Rosdorf und Geismar (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen, Band 11), Hrsg. Stadt Göttingen, Göttingen 1978, S. 23–33.
  • Ilse Boppert-Cellarius: Der Ewige Ort. Ein Rundgang über Göttingens jüdischen Friedhof. In: Göttinger Jahresblätter, Jg. 11, 1988, S. 151–154. (Beschreibt einen Rundgang mit Berndt Schaller.)
  • Sibylle Obenaus: Göttingen. In: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Hrsg. Herbert Obenaus, in Zusammenarbeit mit David Bankier und Daniel Fraenkel. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-753-5, Bd. 1, S. 626–663, hier S. 627, 633, 648, 657, 659 f.
  • Berndt Schaller: Synagogen in Göttingen. Aufbrüche und Abbrüche jüdischen Lebens. Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2006, ISBN 3-938616-54-7, S. 24–26. Digitalisat (24,3 MB)

Weblinks

Commons: Jüdischer Friedhof (Göttingen) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Heute ist dies die Grenze der Ortsteile Göttingen und Grone.
  2. a b c d e f g h i j Bernd [sic] Schaller: Der Jüdische Friedhof Göttingen. In: jg-goettingen.de. Jüdische Gemeinde Göttingen e. V., abgerufen am 5. August 2021.
  3. Berndt Schaller: Synagogen in Göttingen. Aufbrüche und Abbrüche jüdischen Lebens. Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2006, ISBN 3-938616-54-7, S. 24–26.
  4. Peter Wilhelm: Die Synagogengemeinden Göttingen, Rosdorf und Geismar (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen, Band 11), Hrsg. Stadt Göttingen, Göttingen 1978, S. 23–33, mit Kartenmaterial.
  5. Grabsteine Jüdischer Friedhof am Stadtfriedhof Göttingen. In: grabsteine.genealogy.net. GenWiki, Verein für Computergenealogie e. V., abgerufen am 6. August 2021.
  6. Jan Volker Wilhelm: Das Baugeschäft und die Stadt. Stadtplanung, Grundstücksgeschäfte und Bautätigkeit in Göttingen 1861–1924. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-85425-9, S. 367 f. mit Abb. 6.55. - Digitalisat auf books.google.de, abgerufen am 6. August 2021.
  7. a b Matthias Manthey: Jüdische Bürger in Göttingen ab 1889, in: 100 Jahre Göttingen und sein Museum. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum und im Alten Rathaus, 1. Oktober 1989 – 7. Januar 1990. Redaktion Jens-Uwe Brinkmann, Hans-Georg Schmeling, Druckhaus Göttingen, Göttingen 1989, S. 213–224, hier S. 223 f.
  8. Die jüdische DP-Gemeinde in Göttingen 1945–1949. In: after-the-shoah.org. Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e. V., 17. September 2020, abgerufen am 5. August 2021.
  9. Jörn Barke: Über 300 Jahre alt. Der jüdische Friedhof Göttingen. In: goettinger-tageblatt.de. Göttinger Tageblatt (Online-Ausgabe), 17. April 2011, abgerufen am 5. August 2021.
  10. Markus Scharf: Geld für Restaurierung. 243 000 Euro für Jüdischen Friedhof Göttingen. In: goettinger-tageblatt.de. Göttinger Tageblatt (Online-Ausgabe), 9. November 2018, abgerufen am 5. August 2021.
  11. Bernd Schlegel: Denkmalgeschützter Bereich. 243.000 Euro stehen bereit: Jüdischer Friedhof in Göttingen wird jetzt saniert. In: hna.de. Hessisch/Niedersächsische Allgemeine (Online-Ausgabe), 11. November 2018, abgerufen am 5. August 2021.

Koordinaten: 51° 32′ 1,4″ N, 9° 54′ 42,5″ O

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Gräber in der jüdischen Abteilung auf dem Göttinger Stadtfriedhof