Irakischer Aufstand 1920

Aufstandsgebiete in rosa

Der irakische Aufstand von 1920, genannt auch Schiitische Revolution von 1920,[1] richtete sich gegen die britische Besetzung des Irak. Er begann im Sommer 1920 mit Massendemonstrationen in Bagdad. Die Revolte weitete sich auf die schiitischen Gebiete am mittleren und unteren Lauf des Euphrats aus. Ein herausragender schiitischer Anführer des Aufstands war Scheich Mehdi al-Chalissi.

Während der Revolte kooperierten religiöse Einrichtungen der Sunniten und Schiiten mit Stammesgemeinschaften, der urbanen Bevölkerung und vielen irakischen Offizieren in Syrien.[2] Ihre Ziele waren die Unabhängigkeit von britischer Herrschaft und die Bildung einer arabischen Regierung. Obwohl der Aufstand anfängliche Erfolge erzielte, konnten ihn die Briten bis Ende Oktober 1920 niederschlagen. Einige Aufstandsbewegungen gingen dennoch bis 1922 weiter.

Gleichzeitig rebellierten im Nordirak auch die Kurden gegen die Briten, da sie ebenfalls nach Unabhängigkeit strebten. Einer der Anführer der kurdischen Revolte war Scheich Mehmûd Berzincî.

Bis ins 21. Jahrhundert hatte der Aufstand von 1920 eine Integration der schiitischen Mehrheit in den irakischen Staat verhindert.[3]

Hintergrund

Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Idee von Völkerbund-Mandaten für die Gebiete der besiegten Mittelmächte auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 konkrete Formen an. Die Idee basierte auf dem Prinzip, dass diese Territorien letztlich unabhängig werden sollten. Bis dahin sollten sie unter die Aufsicht einer der siegreichen Entente-Mächte gestellt werden.[4] Die Bewohner osmanischer Provinzen lehnten das Mandatekonzept ab, da es aus ihrer Sicht nichts anderes als eine Kolonialherrschaft unter anderem Namen bedeutete.

Auf der Konferenz von Sanremo im April 1920 wurde Großbritannien das Mandat über heutigen Irak (damals in der westlichen Welt als Mesopotamien bezeichnet) sowie über Palästina übertragen. Im Irak entließen die Briten die meisten einstigen osmanischen Beamten. Die neue Verwaltung bestand mehrheitlich aus britischen Beamten. Viele Iraker befürchteten eine Integration in das Britische Weltreich. Zu diesem Zeitpunkt stellte einer der einflussreichsten schiitischen Mudschtahids, der Ajatollah Muhammad Taqi asch-Schirazi, eine Fatwa aus, in der er erklärte, dass die britische Verwaltung unrechtmäßig sei.[5] Es gab wachsenden Unmut über die neuen britischen Vorschriften wie Landeigentumsgesetze, welche die Stammesführer verärgerten, und besonders über die neue Steuer, die für eine Bestattung in Nedschef bezahlt werden sollte. In diesem Ort befanden sich Gräber von Schiiten aus aller Welt (vgl. Wadi as-Salam).[6] Bei Treffen zwischen schiitischen Ulema und Stammesführer wurden Strategien für friedliche Proteste besprochen, doch für den Fall, dass diese erfolglos blieben, wurde auch Gewalt in Betracht gezogen.

Verlauf der Revolte

Der Unmut über die britische Herrschaft wurde bereits im Mai 1920 mit Massendemonstrationen in Bagdad zum Ausdruck gebracht. Friedliche Proteste bestanden aus Versammlungen vor sunnitischen und schiitischen Moscheen. Die beiden großen Religionsgruppen der irakischen Gesellschaft protestierten einträchtig miteinander.[7] Auf einer der größten Versammlungen wurden 15 Repräsentanten bestimmt, die den Wunsch nach irakischer Unabhängigkeit vor die britischen Behörden bringen sollten. Der interimistische Zivilverwalter Arnold Wilson verwarf ihre Forderungen als unpraktikabel.[8]

Am 30. Juni 1920 brach ein bewaffneter Aufstand aus, wobei es zu ersten Angriffen schiitischer Beduinenstämme auf britische Truppen kam.[9] Der Ajatollah asch-Schirazi stellte eine weitere Fatwa aus, in der es hieß, dass es die Pflicht der Iraker sei, ihre Rechte einzufordern. Indem sie dies taten, sollten sie Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Doch falls die Engländer ihnen ihre Rechte vorenthalten würden, dürften sie zu Verteidigungsmaßnahmen greifen.[10] Diese Fatwa schien einen bewaffneten Aufstand zu unterstützen. Die britischen Behörden hofften, dies verhindern zu können und nahmen einen Scheich aus dem Zawalim-Stamm fest.[11] Später stürmte eine bewaffnete Gruppe von loyalen Stammeskriegern das Gefängnis, um ihn zu befreien. Die Revolte weitete sich aus, als sich die britischen Garnisonen am Mittellauf des Euphrats als schwach erwiesen, während die Stämme deutlich stärker waren. Bis Ende Juli brachten die Stammesmilizen die mittlere Euphratregion weitgehend unter ihre Kontrolle. Der Erfolg der Stämme weitete die Revolte auf die Gebiete am Unterlauf des Euphrat und rund um Bagdad herum aus.

Der damalige britische Kriegs- und Luftfahrtminister Winston Churchill genehmigte sofortige Verstärkungen aus dem Iran, darunter zwei Staffeln der Royal Air Force. Der Luftwaffeneinsatz verschob den Vorteil auf die britische Seite und spielte eine große Rolle bei der Beendigung des Aufstands.[12] Es gab auch Stämme, die gegen die Revolte vorgingen, weil sie von den britischen Behörden anerkannt wurden und davon profitierten. Schließlich gingen den Rebellen die Vorräte und das Geld aus. Sie konnten sich den Aufstand nicht mehr lange leisten, während die britischen Truppen leistungsfähiger wurden. Der Aufstand endete im Oktober 1920, als die Rebellen Nadschaf und Kerbela an die britischen Behörden abtraten.

Folgen

Zwischen 6000 und 10.000[13] Irakern und rund 500 britische und indische Soldaten starben bei den Kämpfen. Die Royal Air Force flog Einsätze für insgesamt 4008 Stunden, warf 97 Tonnen an Bomben ab und feuerte 183.861 Schüsse ab. Neun Piloten wurden getötet, sieben verwundet und elf Flugzeuge gingen auf feindlichem Gebiet verloren. Die Kosten für die britische Regierung betrugen 40 Millionen Pfund, das Doppelte des jährlichen Budgets für den Irak. Er kostete mehr als die ganze von den Briten finanzierte arabische Revolte gegen das Osmanische Reich zwischen 1917 und 1918. Dies trug dazu bei, dass die britischen Beamten ihre Strategie im Irak tiefgreifend änderten.[14]

Als neuer Kolonialminister entschied Winston Churchill, dass eine neue Verwaltung im Irak sowie in den britischen Kolonien des Mittleren Ostens benötigt wurde. Er berief im März 1921 eine Konferenz in Kairo ein, bei der die Briten die Zukunft des Iraks diskutierten. Sie wollten den Irak nun durch eher indirekte Mittel kontrollieren, etwa indem ehemalige Beamten, die der britischen Regierung freundlich gesinnt waren, eingesetzt wurden. Der Haschemit Faisal, Sohn des Hussein ibn Ali vom Hedschas, sollte König des Irak werden.[15] Er hatte in der arabischen Revolte mit den Briten zusammengearbeitet und verfügte über gute Beziehungen zu wichtigen Beamten.[16] Die Behörden waren auch der Meinung, dass seine Stellung als König Faisal von einer Fortsetzung seiner Aktionen gegen die französische Präsenz in Syrien abhalten würde, der die britisch-französischen Beziehungen belasten könnte (Faisal war zuvor bereits vom Syrischen Nationalkongress zum König Großsyriens proklamiert, dann aber von den Franzosen vertrieben worden).

Im Irak wurde der Aufstand zum Bestandteil der nationalen Idee, obwohl diese Folgerung von Wissenschaftlern bestritten wird. Die beispiellose Zusammenarbeit von Sunniten und Schiiten überdauerte das Ende des Aufstands nicht.[17]

Siehe auch

Literatur

  • Charles Tripp: A History of Iraq. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-87823-4.
  • Peter Heine: Die schiitische Revolution im Irak von 1920. In: Peter Heine: Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam. Herder, Freiburg 2001, ISBN 3-451-05240-7, S. 73–79.
  • Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. In: International Journal of Middle East Studies. Band 3, Nr. 2 (April 1972), S. 123–139, doi:10.1017/S0020743800024843.
  • Spector S. Reeva, Tejirian H. Eleanor: The Creation of Iraq, 1914–1921. Columbia University Press, New York 2004, ISBN 0-231-50920-0.
  • D. K. Fieldhouse: Western imperialism in the Middle East 1914–1958. Oxford University Press, Oxford/Toronto 2006, ISBN 0-19-928737-6.
  • Peter Lieb: Suppressing Insurgencies in Comparison: The Germans in the Ukraine, 1918, and the British in Mesopotamia, 1920. In: Small Wars & Insurgencies. Nr. 23. 2012, S. 627–647, doi:10.1080/09592318.2012.709765.
  • Ian Rutledge: Enemy on the Euphrates: The British Occupation of Iraq and the Great Arab Revolt 1914–1921. Saqi Books, London 2014, ISBN 978-0-86356-170-2.
  • Ghassan R. Atiyyah: Iraq – 1908–1921: A Socio-Political Study. The Arab Institute for Research and Publishing, Beirut 1973, OCLC 586059175.

Einzelnachweise

  1. www.planet-schule.de.
  2. Ghassan R. Atiyyah: Iraq: 1908–1921 A Socio-Political Study. 1973, S. 307.
  3. Peter Heine: Die schiitische Revolution im Irak von 1920. 2001, S. 79.
  4. Charles Tripp: A History of Iraq. S. 40.
  5. Charles Tripp: A History of Iraq. S. 41.
  6. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 133.
  7. Charles Tripp: A History of Iraq. S. 43.
  8. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 135.
  9. Peter Heine: Die schiitische Revolution im Irak von 1920. 2001, S. 77.
  10. ʻAbd-al-Ḥalīm Ar-Raḥīmī: تأريخ الحركة الاسلامية في العراق : الجذور الفكرية والواقع التاريخي (1900–1924) – Taʼrīkh al-ḥarakah al-Islāmīyah fī al-ʻIrāq. Al-judhūr al-fikrīyah wa-al-wāqiʻ al-tārīkhī (1900–1924). Ad-dār al-ʻālamiyyah, Beirut 1985, OCLC 755079503, S. 219 (arabisch, Dissertation über die Geschichte der Islamischen Bewegung im Irak, die geistigen Wurzeln und historische Situation).
  11. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 136.
  12. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 137.
  13. Jonathan Glancey: Our last occupation – Gas, chemicals, bombs. Britain has used them all before in Iraq. In: The Guardian. 19. April 2003 (theguardian.com [abgerufen am 16. Mai 2012]).
  14. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 138.
  15. Amal Vinogradov: The 1920 Revolt in Iraq Reconsidered: The Role of Tribes in National Politics. S. 139.
  16. Charles Tripp: A History of Iraq. S. 47.
  17. Charles Tripp: A History of Iraq. S. 44.

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