Hundert Tage (Roman)
Hundert Tage ist ein 2008 im Wallstein Verlag erschienener Roman von Lukas Bärfuss.
Einleitung
Der Roman "Hundert Tage" von Lukas Bärfuss, erschienen 2008, erzählt die Geschichte des Schweizer Entwicklungshelfers David Hohl, der vor und während dem Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda in den Jahren 1990–94 in das Geschehen verwickelt wird. Der Roman ist in eine Rahmen- und eine Binnenhandlung gegliedert: Die Rahmenhandlung spielt im Schweizer Jura, wo David seine Erlebnisse in Form einer Analepse einem namenlosen Ich-Erzähler erzählt. Die Binnenhandlung schildert die Geschehnisse in Ruanda während dieser vier Jahre und der namenlose Ich-Erzähler lenkt die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die Frage, ob David Hohl nicht innerlich gebrochen sein müsste. Die Erzählweise ist anachronisch: Der Protagonist beginnt seine Erzählung mit der Bemerkung, dass er sich hautnah in die Schreckensmomente, als er sich zu Beginn der hundert Tage versteckt, zurückversetzt fühlt. Während er den Bürgerkrieg und den Genozid überlebt, so deutet er in einer Prolepse an, dass Agathe sterben wird. Die zentralen Motive sind die Beschreibung von Gewalt und die moralische Verantwortung. Die Verbindung zwischen Rahmen- und Binnenhandlung wird auch durch eine wiederkehrende Formulierung hergestellt: Bereits am Anfang der Geschichte wird das Bild von „Eingeweiden an einer roten Sosse“ (Seite 14) eingeführt, das am Ende erneut aufgegriffen wird und so eine erzählerische Klammer bildet. Dieses Zitat widerspiegelt zugleich die Gewalt wie auch die moralische Verantwortung.
Geographisch führt der Roman an zentrale Orte Ruandas, die Davids Weg und die Eskalation des Konflikts widerspiegeln. Am Kiwu-See (S. 51) verbringt er Zeit mit Agathe, während er am Ihema-See (S. 51) über seine Arbeit und die politischen Spannungen reflektiert. Im Virunga-Nationalpark (S. 34) besucht er die Berggorillas, was seinen westlichen Blick auf Ruanda zeigt. In Bugarama (S. 53) arbeitet er für die Schweizer Entwicklungsorganisation. Der Fluss Kagera (S. 51) dient als natürliche Grenze und hat eine politische Bedeutung.
Bärfuss verwendet in seinem Roman spezifische Begriffe aus der Sprache der Ruanderinnen und Ruander, darunter Umuzungu (Weisser, S. 14 & 29), Initi (jemand, der in Europa studiert hat, S. 122), Inyenzi (Kakerlaken, S. 105) und Akazu (Clan, S. 55). Diese Begriffe verdeutlichen die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der ruandischen Gesellschaft.
Handlung
Der Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl reist 1990 in die Hauptstadt von Ruanda, wo er sich im Büro mit Entwicklungsprojekten der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit beschäftigt und dadurch ein diktatorisches Regime stützt.
Damals galt Ruanda noch als Vorzeigeland des afrikanischen Kontinents. In der Hauptstadt Kigali bricht Chaos aus, als der Papst im Stadion eine Rede hält, wobei Hohl von der Menge beinahe erdrückt wird. Im Krankenhaus trifft er Agathe erneut, der er bereits am Brüsseler Flughafen begegnet ist. Eine heftige Liebesbeziehung zwischen den beiden beginnt. Tutsi-Rebellen marschieren kurz darauf in die Stadt ein, und der Völkermord steht kurz bevor. Als 1994 nach dem Abschuss des Flugzeugs mit dem Präsidenten die Massenmorde der Hutu an den Tutsi beginnen, verlassen die Entwicklungshelfer das Land. Hohl entscheidet sich spontan zu bleiben und versteckt sich in seinem Haus. Seine Geliebte Agathe, die Tochter eines Ministerialbeamten, verschwindet. Sein Gärtner hortet im Haus Beutegut seiner Opfer. Er versorgt Hohl in den 100 Tagen, weshalb David ihn zuerst toleriert, später jedoch verprügelt. Hohl ist halb verdurstet, als sich Hutu-Milizen in seinem Garten niederlassen und ihm Wasser und Nahrung geben. Als die Rebellen vor Kigali stehen, flieht Hohl mit den Hutu in den Kongo. David wird als Helfer im Flüchtlingslager sofort willkommen geheissen. Als er erfährt, dass Agathe in Goma ist, erwirbt Hohl durch Korruption Geld, um zu ihr reisen zu können. Kurz nachdem Hohl in Goma eingetroffen ist, erlebt er mit, wie Agathe an Cholera stirbt, und er kehrt in die Schweiz zurück.
David und Agathe: Das Motiv der Liebe und White Saviorism
David und seine Geliebte Agathe sind zwei zentrale Charaktere des Romans «Hundert Tage» von Lukas Bärfuss. Bereits zu Beginn der Geschichte finden die beiden zueinander. Ihre Anziehung beruht jedoch nicht auf Sympathie, sondern vielmehr auf der Faszination für die «Andersartigkeit» des Gegenübers. Agathe interessiert sich nicht für David als Person, sondern lediglich für seine Herkunft. Sie betrachtet ihn als einen «Jungen aus der anderen Welt» (S. 99).
Obwohl Agathe und David regelmässig Zeit miteinander verbringen, entwickelt sich zwischen ihnen nie eine echte romantische Liebe. David hingegen versucht, ihre gemeinsamen Erlebnisse zu romantisieren, um sich die Art von Liebe vorzutäuschen, die er sich wünscht. So nimmt er sie mit an den Kiwusee, obwohl sie gar nicht schwimmen kann, und beschreibt ihre intimen Momente in leidenschaftlichen Sexszenen mit tierischen Begriffen wie «Schwanz» und «vögeln». Auf die Leserschaft sollen diese Erzählungen abstossend wirken und es wird deutlich, dass es sich nicht um Liebe handelt, sondern es nur darum geht, ihre Triebe wie Tiere zu befriedigen.
Davids Bild von Agathe wandelt sich im Laufe des Romans stark. Bei ihrer ersten Begegnung am Flughafen ist er enttäuscht: «[…], dass Agathe doch bloss eine verwöhnte Göre war, eine Tochter aus gutem Hause» (S. 75). Später, im Lazarett, begegnet er ihr erneut, als sie sich um kranke Menschen kümmert. Nun scheint sich sein Bild von ihr zu verändern: « […] ich glaubte, in der Frau, die sich im Lazarett um die Kranken gekümmert hatte, ihr wahres Wesen erkannt zu haben, und diese demütige, aufopferungsvolle Person hatte mich berührt» (S. 75). Er beginnt, sie als Engel zu idealisieren: Er beschreibt sie nun mit stereotypen Begriffen wie "demütig" oder "aufopferungsvoll" und nicht mehr als wohlhabende Frau aus einer privilegierten Familie. Diese neue Vorstellung von Agathe passt besser zu seinem Bild von der nicht-europäischen Welt.
Agathe selbst durchläuft im Roman eine extreme Veränderung: Sie radikalisiert sich zunehmend und wird kälter im Umgang mit anderen Menschen. Als sie ihre Putzfrau respektlos behandelt und demütigt, erkennt David ihre menschenverachtenden Züge: « […] ich wusste nicht, wie ich meiner Haushälterin jemals wieder gegenübertreten sollte, und ich wusste nicht, wie es kommen konnte, dass ich diese kleine, bornierte, verschlagene, sadistische Rassistin begehrte» (S. 136). Trotz dieser Haltung fühlt er sich weiterhin zu ihr hingezogen, sogar noch stärker als zuvor.
Erst am Ende des Romans, als Agathe im Sterben liegt, sieht David sie endlich als Menschen. Es ist das erste Mal, dass ihre kalte und abgehärtete Fassade bröckelt und ihre Schwäche durchscheint.
Die Beziehung von Agathe und David ist von Anfang an durch Machtverhältnisse geprägt. Davids Verhalten gegenüber Agathe wird dabei vom White Saviorism bestimmt. David verspürt oft das Bedürfnis, Agathe Dinge zu erklären oder sie belehren. Teilweise hofft er sogar, dass sie etwas nicht weiss. « […] sondern weil ich hoffte, dass sie nicht verstehen würde, was solipsistisch bedeutet und ich ihr es erklären könnte» (S. 82). Agathe besteht jedoch auf ihrer Unabhängigkeit und lässt sich nicht von David dominieren: «Ihr habt vielleicht unser Land kolonialisiert, aber ich werde nicht zulassen, dass du meinen Körper kolonialisierst» (S. 133). Man könnte sogar sagen, dass Agathe die Oberhand in der Beziehung hat. Sie ist ihm gegenüber verschlossen und gibt wenig von sich preis, während David für sie wie ein « […] offenes Buch, das sie lesen oder wegwerfen konnte» (S. 113) ist. Dieses Machtgefälle zeigt sich bereits bei ihrer ersten Begegnung am Flughafen. David fühlt sich sofort von ihr angezogen, doch sie erwidert seine Gefühle nicht. «Ihre Verachtung betraf nicht die Welt, sie betraf allein mich. Und um dies zu verdeutlichen, drückte sie die Zunge an die obere Zahnreihe, erzeugte am Gaumen einen Unterdruck und liess im selben Augenblick die Luft einströmen, worauf dieses Schnalzen ertönte, der internationale Laut der Missbilligung» (S. 17,18). Auch bestimmt Agathe, wann und wie viel Zeit sie mit David verbringen möchte, ohne Rücksicht auf seine Wünsche zu nehmen. Sie bleibt distanziert und verlässt ihn oft unmittelbar nach ihren Intimitäten. «Und nach einer Viertelstunde sass ich mit offener Hose auf meinem Sofa, allein, weil sie sich unmittelbar danach in aller Ruhe angezogen und das Haus verlassen hatte» (S. 136). Diese Machtverhältnisse ziehen sich durch das ganze Buch und bleiben sogar mit dem Tod von Agathe bestehen: In ihren letzten Atemzügen, auf Davids Schoss liegend, verspürt er eine Genugtuung und sogar Euphorie. « […] und ich wusste, dass an einem Sterbebett kein Triumphgefühl aufkommen sollte, und trotzdem befiel mich eine grosse Befriedigung, als ich in ihren Augen einen letzten Rest Erstaunen zu erkennen glaubte, eine Verwunderung, dass ich es war, der in ihren letzten Momenten bei ihr war» (S. 206–207). Zum ersten Mal ist es also David, der die Situation kontrolliert und über Agathe steht, weil sie erstaunt ist, über seine Anwesenheit in ihren letzten Momenten. Dass er es geschafft hat, bei Agathe Verwunderung auszulösen, weckt in ihm ein befriedigendes Gefühl. Gleich im Anschluss merkt er jedoch, dass dies gar nicht der wirkliche Grund für ihre Verwunderung ist: «Nicht ich war der Grund für ihre letzte Verblüffung, es war der Tod selbst, der sie überraschte, denn in jenem Moment starb Agathe» (S. 207). In diesem Augenblick hört er auch wieder das Schnalzen von Agathes Zunge, was er bereits bei ihrer ersten Begegnung am Flughafen gehört hatte: « […] und was ich immer noch im Ohr habe, was nicht aus meinem Kopf weichen will, ist dieses Geräusch, wenn die Zunge sich plötzlich vom Gaumen löst, dieses Schnalzen, das am Anfang und am Ende meiner Erinnerung an Agathe steht» (S. 207). Auch dieses Geräusch bringt David wieder zurück in die Realität und zeigt ihm auf, dass Agathe noch immer die Macht über ihn hat, auch nach ihrem Tod. Denn das Schnalzen der Zunge war sowohl ihr letztes Geräusch wie auch das erste, dass David von ihr mitbekommen hat. Beim ersten Mal am Flughafen hat sie ihn damit nämlich verspottet: «Das erste Mal damals auf dem Flughafen gab sie mir damit zu verstehen, wie lächerlich sie mich fand» (S. 207). Deshalb fühlt er sich auch am Ende von ihr gedemütigt: « […] und obwohl dieses Geräusch nicht willentlich erzeugt wurde, verhöhnt es mich seither» (S. 207).
Weltsicht des David Hohl
Die Weltsicht von David Hohl in «Hundert Tage» ist von Widersprüchen geprägt. Einerseits betrachtet er sich selbst als aufgeklärten, zivilisierten Beobachter, andererseits zeigt sein Denken eine tief verwurzelte Gleichgültigkeit und eine unkritische Haltung gegenüber der Gewalt um ihn herum. Seine Reaktionen auf Eskalationen politischer Konflikte macht deutlich, dass er die Grausamkeiten relativiert, herunterspielt oder gar rechtfertigt, anstatt sie mit Mitgefühl oder Entsetzen zu verurteilen.[1]
Auch seine Reaktion auf unmittelbare Gewalt ist bezeichnend. «Machten die Männer mit den Mädchen, was Männer immer mit Mädchen gemacht haben» (Seite 150). Es wird beschrieben, wie er auf sexuelle Gewalt gegenüber Kindern reagiert – statt Entsetzen oder Empathie zu zeigen, bleibt er emotional distanziert. Diese Reaktion steht im Kontrast zu einer erwartbaren menschlichen Regung und verdeutlicht seine abgestumpfte Weltsicht.
Besonders auffällig ist seine Relativierung der Gewalt, als er sich fragt: «Hat man Karl den Grossen einen Barbaren genannt?» (Seite 152). Diese Aussage zeigt, dass er die aktuellen Gräueltaten in einen historischen Kontext stellt, um sie als weniger aussergewöhnlich oder weniger verwerflich erscheinen zu lassen. Anstatt die Brutalität der Morde zu verurteilen, stellt er eine Parallele zu historischen Persönlichkeiten her, die für ihre Gewalt nicht verurteilt wurden. Diese Argumentation dient ihm dazu, das Ausmass der Gewalt zu relativieren und eine gewisse Distanz dazu zu wahren. Statt die Ermordung der Kinder als schockierend und unmenschlich zu begreifen, sucht er nach Erklärungen und Vergleichen, die das Geschehen weniger schlimm erscheinen lassen.
Ein Schlüsselmoment in David Hohls Leben wird deutlich, als er schreibt: «Das erste Mal in meinem Leben wünschte ich den Tod eines Menschen.» (S. 192). Dieser Moment markiert eine drastische Veränderung in seiner Denkweise und zeigt, wie seine moralischen Grenzen zunehmend verschwimmen. Der Wunsch nach dem Tod eines anderen steht im Gegensatz zu seiner anfänglichen Haltung und verdeutlicht die tiefgreifende Wirkung der Gewalt und der Zustände in Ruanda auf ihn. Es geht nicht nur darum, dass er erstmals den Tod eines Menschen wünscht, sondern auch, dass er sich in der Rolle des Richters sieht und über das Leben eines anderen urteilt. Er bleibt nicht länger der passive Zuschauer, sondern übernimmt aktiv eine Stellung als Entscheider.
Diese Weltsicht zeigt, dass Hohl nicht nur als neutraler Beobachter agiert, sondern aktiv an der Konstruktion einer Realität beteiligt ist, in der Gewalt und Morden als unausweichlich und verständlich, teilweise sogar als zielführend dargestellt werden. Die Art und Weise, wie er die Ereignisse einordnet und bewertet, unterstreicht seine moralische Ambivalenz und seine Unfähigkeit oder seinen Unwillen, sich von der Gewalt klar zu distanzieren.
Unzuverlässiger Erzähler
David Hohl ist ein drastisches Beispiel eines unzuverlässigen Erzählers, da seine subjektive Wahrnehmung und Selbstdarstellung im Widerspruch zu den tatsächlichen Ereignissen stehen. Durch seine Sprache und Argumentation beeinflusst er die Leserschaft, indem er Grausamkeiten relativiert und sich selbst in einem positiveren Licht darstellt. Dabei entsteht ein innerer Konflikt: Einerseits sieht er sich als moralischen Menschen, andererseits zeigen seine Taten und Gedanken eine egozentrische, abwertende Weltsicht.
Er präsentiert Gewalt nicht als unbestreitbare Grausamkeit, sondern stellt sie in einen Kontext, der sie scheinbar legitimiert. Damit verführt er die Leserschaft zu einer gedanklichen Verharmlosung, da er die historische Dimension nutzt, um eine direkte moralische Verurteilung der Ereignisse zu umgehen.
Auch zeigt sich seine verzerrte Erzählweise. Dort schreibt er: „Die Zeit lief gegen uns, jeder Tag brachte uns der Katastrophe näher, aber mir ging es von Tag zu Tag besser.“ (Seite 31). Während das Land dem Abgrund entgegenschreitet, empfindet er seine eigene Lage als zunehmend angenehmer. Hier zeigt sich seine egozentrische Haltung, die durch seine Erzählweise verstärkt wird, indem er von sich selbst spricht und das Leid der anderen kaum reflektiert, lenkt er den Fokus der Leserschaft auf seine subjektiven Empfindungen anstatt auf die eigentliche Tragödie.
Ein besonders prägnantes Beispiel für seinen unzuverlässigen Umgang mit der Realität findet sich im Werk, als er unmittelbar vor dem Ausbruch des Völkermordes die Gorillas besucht. David ist sich der drohenden Katastrophe vollkommen bewusst, dennoch entscheidet er sich dazu die Gorillas zu besuchen, anstatt sich mit den politischen und humanitären Krisen auseinanderzusetzen. Dies widerspricht seinem wiederholten Selbstbild als jemand, der Ruanda liebt und helfen will. Diese Szene zeigt, dass seine Erzählung nicht auf einer objektiven oder moralischen Wahrheit beruht, sondern von seinen persönlichen Interessen und seiner Verdrängung geprägt ist.
Die abwertende Sprache
Bereits zu Beginn des Romans fällt auf, dass David Hohl oft eine unreflektierte, teilweise abwertende Sprache verwendet. Er nimmt keine Rücksicht auf politische Korrektheit oder Sensibilität im Umgang mit der Bevölkerung Ruandas. Dies wird in dieser Passage ersichtlich: «die fetten Ärsche» (Seite 153). Diese Formulierung macht deutlich, wie abwertend und niveaulos Hohl über die Menschen in Ruanda spricht. Anstatt sich respektvoll mit ihnen auseinanderzusetzen, reduziert er sie auf ein Körperteil und verwendet dabei eine vulgäre Sprache. Seine Wortwahl spiegelt weniger eine direkte oder unverblümte Art wider als vielmehr eine respektlose und distanzierte Haltung gegenüber der Bevölkerung.
Ein weiteres Beispiel für seine unreflektierte Weltsicht findet man in der Äusserung: «Zwei Kinder empfingen uns, blonde Engelchen am Rande der Wildnis» (Seite 35). Hier wird deutlich, dass Hohl eine klare Unterscheidung zwischen den weissen Kindern der Entwicklungshelfer und der ruandischen Bevölkerung macht. Die weissen Kinder werden idealisiert dargestellt (Engelchen), während die einheimische Bevölkerung implizit als Teil der „Wildnis“ betrachtet wird: «Gnome oder Berggeister, und es war nicht sicher, ob sie mir wohlgesinnt waren oder mich zerreisen wollten, was ihnen ein Leichtes gewesen wäre. Die Bälger rochen nach einem Leben zwischen Kuhdung und saurer Milch,» (Seite 29). Dies legt eine kolonialistisch geprägte Perspektive offen, die das „Fremde“ als minderwertig oder exotisch einstuft.
Diese abwertende Sichtweise wird an einer anderen Stelle durch Hohls eigene Reflexion in Frage gestellt. Seine vorangehende Beschreibung wird dabei durch die Aussage verstärkt: «weil ich selbst so röche, nach Acker, nach Milch und nach Vieh» (S. 29). Indem Hohl sich selbst mit demselben Geruch beschreibt, den er zuvor den Einheimischen zugewiesen hat, sieht er sich in Gefahr, ihnen ähnlich zu werden. Dies verdeutlicht seine abwertende Haltung, da er die ruandische Bevölkerung nicht nur mit Tieren assoziiert, sondern ihnen jegliche Individualität abspricht. Trotz dieser kurzen Selbstreflexion bleibt sein Blick herablassend und von kolonialen Denkmustern geprägt.
Hinzu kommt, dass seine Wortwahl und Vergleiche eine implizite Wertung enthalten, die auf eine geringe Intelligenz und mangelnde Bildung der Menschen in Kigali hindeutet. Durch Begriffe wie «Bälger» (Seite 29) und die Gegenüberstellung mit «Engelchen» (Seite 35) schafft er ein Bild von Unzivilisiertheit und Rückständigkeit. Die Ruandesen erscheinen in seiner Darstellung nicht als eigenständige Individuen, sondern als unkontrollierbare, fast mythische Wesen («Gnome oder Berggeister»), die potenziell bedrohlich sind. Dass er selbst den gleichen Geruch haben soll, scheint ihm erst in diesem Moment bewusst zu werden, was zeigt, dass er seine eigene Position in diesem kulturellen Umfeld nur bedingt reflektiert. Seine Sprache bleibt dabei distanziert und von kolonialen Denkmustern geprägt, da er die Menschen nicht aus ihrer eigenen Perspektive betrachtet, sondern stets durch die Brille eines westlichen Beobachters, der über ihre Lebensweise urteilt.
Besonders markant ist der Gebrauch des N-Wortes in Hohls Sprache. Seine Verwendung geht über unreflektierte Wortwahl hinaus und zeugt von einer tief verwurzelten, wenn auch möglicherweise unbewussten, rassistischen Denkweise. Das zeigt sich hier: «Ihre Interesse an der Entwicklung war eine einzige Tarnung, eine erfolgreiche Methode, um in Ruhe gelassen zu werden, damit sie in aller Heimlichkeit ihre überkommenen Sitten pflegen können, ihren Aberglauben, ihr Misstrauen, ihre Clanwirtschaft, ihre ganze verdammte Negermentalität.» (Seite 160). Diese Aussage ist rassistisch, da sie der ruandischen Bevölkerung pauschal betrügerische Absichten, Rückständigkeit und Unfähigkeit zur Entwicklung unterstellt, indem sie ihre kulturellen Praktiken abwertet und mit dem N-Wort eine abfällige, kolonial geprägte Stereotypisierung reproduziert. Diese sprachliche Abwertung ist kein Einzelfall, sondern zieht sich durch den gesamten Roman und unterstreicht seine innere Widersprüchlichkeit: Während er sich selbst als weltoffen und besser als frühere Generationen betrachtet – «Ich würde den rassistischen Idioten klarmachen, dass andere Zeiten angebrochen waren. Auch nach dreissig Jahren hatten diese grau uniformierten Scheusale den Verlust ihrer Kolonien nicht überwunden.» (Seite 16), reproduziert er durch seinen Sprachgebrauch genau jene Muster, von denen er sich distanzieren möchte. Er zeigt sich damit als ambivalente Figur, die einerseits koloniale Denkmuster verurteilt, sie andererseits aber selbst unreflektiert aufrechterhält.
Hohls Sprache dient somit nicht nur der Charakterisierung seiner Figur, sondern auch als Spiegel für die westliche Wahrnehmung Afrikas.
White Saviorism der DEZA Delegierten
Was ist White Saviorism?[2] White Saviorism bezieht sich auf die Überzeugung, dass Weisse die Verantwortung oder die Pflicht haben, People of Color zu retten, ihnen zu helfen, sie zu belehren oder sie zu beschützen, insbesondere solche aus wirtschaftlich unterentwickelten Ländern. Dieses Konzept entspringt einer Position der beanspruchten Überlegenheit, in der weisse Menschen davon ausgehen, dass nicht-weisse Menschen nicht über die Ressourcen, die Willenskraft oder die Intelligenz verfügen, sich selbst zu helfen.
Paul, Marianne und David als White Saviors? Die DEZA-Delegierten in Bärfuss’ Roman haben oft ein verzerrtes Weltbild: Sie betrachten sich selbst als „Retter in der Not“ und glauben, den Einheimischen zu helfen, obwohl ihre Entwicklungsmassnahmen meist der Regierung und nicht der Bevölkerung zugutekommen. Viele der bürokratischen Massnahmen und Neuerungen, welche die DEZA delegierten nach Ruanda gebracht haben, wurden später zur Grundlage für den Genozid, beispielsweise die Gründung der Radiostation. Nichtsdestotrotz sollen die Delegierten bei Ausbruch des Genozids die Lage beruhigen, was ihre ambivalente Position unterstreicht.
Auch Davids Verlangen, dass Ruanda auf seine Hilfe angewiesen und von ihm abhängig sei, offenbart eine egoistische Denkweise und ein Gefühl der Überlegenheit. Für ihn ist sehr wichtig, dass Ruanda, und dementsprechend seine Arbeit, an internationaler Bedeutung gewinnt. So lässt sich auch Davids Überspitzte Darstellung der Ereignisse in Ruanda gegenüber dem Schweizer Journalisten erklären.
Ein deutliches Beispiel für das Überlegenheitsgefühl der DEZA-Mitarbeiter zeigt sich in ihren hilflosen Protestversuchen. Diese verdeutlichen, dass die DEZA davon ausgeht, besser als die Einheimischen zu wissen, was für sie richtig ist. Sie werden aber mehrmals selber ausgenutzt, wie zum Beispiel beim Bastkörbchenduell in Gisagara, als sie die Strasse für das Dorf bauen, obwohl nur der Bürgermeister einen Wagen für dessen Benutzung besitzt. Hier kommt zum Vorschein, dass die Einheimischen die Entwicklungshelfer an der Nase herumführen: «Paul ärgerte sich, … aber schliesslich resignierte er, sah ein, dass der Mann sich nicht würde umstimmen lassen, und so schrieb ich schliesslich den Antrag zum Bau» der Überlandstrasse nach Gisagara (S. 106).
Ähnliche Irrtümer werden auch anderswo beschrieben. David berichtet, dass die Langen unerwartet an Sympathie innerhalb der Direktion gewonnen haben und nun verstärkt unterstützt werden, nachdem die DEZA erkannt hat, dass die Langen und nicht wie angenommen die Kurzen die Opfer sind.
Dieses besserwisserische Verhalten der DEZA und ihrer Delegierten verdeutlicht ihr Selbstverständnis, eine Verantwortung oder gar Pflicht zu haben, den Menschen in Ruanda zu helfen – selbst wenn ihre Unterstützung letztlich wenig bewirkt. Statt tatsächlich hilfsbedürftige Menschen zu fördern, hatten sie beispielsweise „die ganze Zeit Rassisten unterstützt“ (S. 102) und somit an den eigentlichen Problemen vorbeigearbeitet.
Widersprüchliche Haltung Ein Widerspruch sind die hilflosen Protestversuche. Obwohl die Delegierten scharfe Kritik an der Regierung üben, bekunden sie gleichzeitig ihre Loyalität ihr gegenüber. Dadurch wirken die Proteste sinnlos – vielmehr scheinen sie lediglich als Alibi zu dienen, um die eigenen propagierten Werte nach aussen hin zu vertreten: «Aber so scharf die Protestbriefe formuliert waren, in den persönlichen Gesprächen liessen wir die Beamten wissen, wen wir für diese Situation verantwortlich machten und auf welcher Seite wir standen.»(S. 94).
Auch die Rolle der Entwicklungshelfer ist ambivalent, besonders am Beispiel von Paul. Im gesamten Buch erscheint er als fleissiger und engagierter Mitarbeiter, für den die Arbeit an erster Stelle steht und das Wohl der Menschen oberste Priorität hat. Doch es zeigt sich auch eine andere Seite von ihm: Er hat sich mit HIV infiziert, was seine Untreue gegenüber seiner Frau offenbart. Diese „Sünde“ stellt nicht nur seinen Charakter, sondern auch seine vermeintlich edlen Ziele in Frage.
Figuren und Beziehungen
- Figuren
- David Hohl: Tierfreund, Entwicklungshelfer, hilfsbereit, Perfektionist
- Paul: Stellvertretender Koordinator, Perfektionist
- Agathe: Tochter eines Ministerialbeamten
- Missland: Ex-Entwicklungshelfer, der in Ruanda geblieben ist und sein Leben mit Trinken, Rauchen und Frauen verbringt
- Marianne: Leiterin der Direktion, einsam, familienlos, streng, korrekt, bürokratisch
- Théoneste: Gärtner im Haus Amsar, in dem David lebt, wird später zum Mörder
- Erneste: Haushälterin im Haus Amsar, in dem David lebt
- Ines: Pauls Frau
- Beziehungen der Figuren
- David zu Paul: Paul ist sein Vorgesetzter. Sie merken später, dass sie beste Freunde sind, kennen sich aber kaum.
- David zu Agathe: Er liebt sie, sie hält ihn trotz einer intimen Liebesbeziehung auf Distanz.
- David zu Missland: Er hasst Missland, bewundert ihn aber auch, da er als einziger sich in das Land eingelebt hat, und verbringt viel Zeit mit ihm.
Formale Aspekte
Hundert Tage ist ein Roman von rund 200 Seiten und ohne Kapitelgliederung. Es wird immer aus der Ich-Perspektive erzählt, meistens aus jener Davids. Hintergrundinformationen werden immer in den Erzählton eingebunden.
Schwerpunkt
Das zentrale Thema im Buch sind die Entwicklungshelfer. Für die westlichen Entwicklungshelfer war Ruanda das ideale Land, mit gutem Klima, funktionierendem Staatswesen, mit disziplinierten und lernfähigen Bewohnern. So gab es auf jedem Hügel ein Projekt. Wald wird aufgeforstet, wo er schon unwiederbringlich zerstört ist, ein Schweizer Ingenieur kommt beim Rettungsversuch eines Baumes ums Leben. In Kigali spielen die Entwicklungshelfer und Diplomaten Schnitzeljagd, organisiert von Missland, einem gescheiterten Entwicklungshelfer, der als Gegenfigur zu Hohl angelegt ist.
Ein anderes zentrales Thema ist der Vorwurf, dass die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Ruanda von Anfang an dem Mordsystem diente, ohne sich dessen bewusst zu sein. Entwicklungshilfe ist auf Stabilität ausgerichtet und nützt deshalb immer dem, der an der Macht ist. Man hatte keinen Sinn für die Konsequenzen dessen, was man tat, und dachte nicht darüber nach, wem man nützte, weil man sich als unpolitisch verstand. Man half Telefonleitungen legen, durch die später Mordbefehle weitergegeben wurden, man bot eine hervorragende Ausbildung im Radiojournalismus an, so dass die Hetze in gut gemachten Programmen stattfand. Und ein Schweizer, der bis 1993 direkt auf der Schweizer Gehaltsliste stand, war Berater des Diktators.
Bezug zur Realität
Personenübersicht
Folgende Tabelle zeigt eine Übersicht der Figuren, welche sowohl in Bärfuss' Werk als auch in der Realität mit selbem oder ähnlichem Namen vorkommen.
Historisch/in der Realität | Biographische Angaben | Im Roman | Ausgestaltung der Figur |
Agathe Habyarimana | Agathe Habyarimana ist die ehemalige First Lady Ruandas. Ihr Familienklan, das Akazu, gilt als verborgene Macht hinter dem Genozid, die massgeblich Einfluss auf Präsident Habyarimana hatte. Sie ist deshalb auch als „Lady Genocide“ bekannt. | Agathe († 1994) | Agathe fungiert als David Hohls Liebhaberin und nicht als Frau des Präsidenten.[3] Während des Krieges radikalisiert sie sich und wird schliesslich zu einer Hutu-Extremistin und später selbst zur Mörderin. Agathes Verbindung zum Akazu wird im Roman lediglich angedeutet, nicht aber wörtlich erwähnt.[4] Wobei die Figur nicht die Frau von Präsident Hab verkörpert. |
Juvénal Habyarimana († 1994) | Juvénal Habyarimana war ehemaliger Präsident Ruandas und führte das Land von 1973 bis 1994. Nach seinem Tod durch den Abschuss seiner Präsidentenmaschine am 6. April 1994 brach der Genozid in Ruanda aus. Seine Rolle und sein Einfluss auf den Völkermord und die Radikalisierung vieler Hutus sind wissenschaftlich umstritten. | Hab († 1994) | Hab ist der Präsident, welcher 1994 in seiner Präsidentenmaschine von einem Sprengkörper getroffen wird und danach durch den Absturz zu Tode kommt.[5] Während seiner Regierungszeit werden viele Tutsi unterdrückt, vertrieben und ermordet. |
Théoneste Bagosora († 2021) | Théoneste Bagosora war ein ruandischer Armeeangehöriger, welcher der Bevölkerungsgruppe der Hutu angehörte. Er war der führende militärische Planer des Völkermords in Ruanda, für den er auch 2011 verurteilt wurde. Deswegen wird er auch oft als „Drahtzieher“ des Genozids bezeichnet. | Théoneste († 1994) | Théoneste ist der Gärtner von David Hohl im Hause Amsar. Während des Genozids wird er als Hutu ebenfalls zum Mörder, wobei er sein Diebesgut aus Plünderungen bei Hohl im Haus verstaut.[6] Schliesslich wird er von der Miliz von Vince, einem jungen Hutu-Kämpfer, ermordet, da er seine Identitätskarte verliert und somit zu einem Tutsi wird.[7] Es ist David Hohl selbst, der ihn indirekt zum Tode verurteilt, indem er seine Identitätskarte zwar am Boden liegen sieht, ihm diese allerdings nicht aushändigt.[8] |
Ferdinand Nahimana | Ferdinand Nahimana ist ein ruandischer Historiker, der als Mitgründer des Radio Télévision des Mille Collines (RTLM) eine wichtige Rolle im Propagandaapparat während des Genozids in Ruanda spielte. | Ferdinand | Ferdinand arbeitet zunächst als Leiter des Staatsradios. Später wird dieser entlassen und gründet sein eigenes Radio.[9] |
Charles Jeanneret | Der Schweizer Charles Jeanneret wurde 1982 auf Wunsch des Präsidenten Habyarimana als persönlicher Berater eingestellt. Bezahlt wurde sein Gehalt vom Schweizer Bund, wobei er keine Auskunft über sein Engagement geben musste.[10] | Jeannot | Jeannot gilt als der engste Berater des Präsidenten Hab. Jeannot wird von der Direktion bezahlt, muss aber, anders als alle anderen Angestellten der Direktion, keine Berichte abliefern. David Hohl trifft auch persönlich auf ihn.[11] |
Radio
In der Realität war das Radio in Ruanda einer der wichtigsten Propaganda-Kanäle während des Genozids und auch schon vorher. Im Roman "Hundert Tage" wird die Instrumentalisierung des Radios durch Ferdinand thematisiert. Ferdinand arbeitet in Bärfuss' Werk zunächst als Informationsminister der Regierung Ruandas. Da sich seine Radiosendungen immer stärker radikalisieren und es zu einer Hinrichtung mehrerer Personen aufgrund des Staatsradios kommt, wird Ferdinand schliesslich freigestellt. „Ferdinand hatte etwas übertrieben, und Hab schickte ihn schweren Herzens zurück auf seinen Professorenposten in Butare.“[12] Daraufhin gründet er seine eigene Radiostation, in der er unter dem Deckmantel leichter Unterhaltung und Musik Namenslisten und Mordaufrufe ausstrahlt (in der Realität: Radio-Télévision Libre des Mille Collines; kurz RTLM).
In der Realität veröffentlichte Ferdinand Nahimana mit seinem Radio «Radio Télévision Libre des Mille Collines» vor dem Genozid und auch während dieser Zeit Propaganda gegen die Tutsi. Vor dem Völkermord arbeitete er bei dem ruandischen Regime als Minister für Kultur und wissenschaftliche Forschung. Die Gestaltung des Radioprogramms in der Realität deckt sich ebenfalls mit der Fiktion: Eine scheinbar harmlose Berichterstattung mit abwechslungsreicher Musik, während zwischendurch Namenslisten für die Morde vorgelesen wurden oder die „Kakerlaken“ („Rebellen“ und alle anderen Tutsi) als Bedrohung porträtiert wurden. Im Roman beschreibt Protagonist David Hohl die Übertragung wie folgt: „Die Sendungen waren unterhaltsam, sie spielten Musik, brachten kleine Sketche, in denen sich zwei scharfsinnige Bauern über die Dummheit der Inkotanyi ausliessen.“[13]
Situation in den Flüchtlingslagern
Während des Genozids gab es insgesamt etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge, welche Ruanda in die angrenzenden Länder Demokratische Republik Kongo, Burundi, Tansania und Uganda verliessen. Um die Flüchtlinge zu versorgen, wurden mehrere Flüchtlingslager eröffnet. In Bärfuss‘ Werk wird das Lager Goma namentlich erwähnt, die dortige Situation wird als unerträglich beschrieben und die Angst vor der Cholera ist sehr gross.[14] Schliesslich bricht diese dann aus,[15] was mit der Realität übereinstimmt. Letztlich stirbt Agathe in der Notunterkunft an dieser Krankheit.[16]
Korruption bei den Hilfsgütern
In den Flüchtlingslagern rund um Goma befanden sich sehr viele geflüchtete Hutu-Kämpfer, welche sich in den Lagern neu organisierten und Hilfsgüter und Gelder umgehend in einen Gegenschlag gegen die RPF und die Rückeroberung der Grenzprovinzen Ruandas investierten.[17] Im Roman wird von „mehr als zwielichtigen“ Leuten gesprochen, die Entscheidungen über die Verteilung der Hilfsgüter treffen können.[18] Diese setzen in den Lagern auch Waffen ein, obwohl deren Verwendung dort untersagt ist.
Rolle des Akazu
Den Mitgliedern des Akazu wird historisch eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung der Hutu-Power-Bewegung in den frühen 1990er Jahren zugeschrieben. Besonders die Frau des Präsidenten, Agathe Habyarimana, war eng mit dem Clan verbunden. Der Name Agathe findet auch im Roman auf der Täterseite der Hutu seinen Platz. In der Fiktion wird das Akazu kurz erwähnt,[19] allerdings spielt es keine sehr zentrale Rolle im Buch. Kurz vor Beginn der hundert Tage schreibt Bärfuss, dass das Akazu sich die Gelder für die Entwicklungshilfe „unter den Nagel gerissen“[20] hat.
Rolle der katholischen Kirche
Die katholische Kirche hatte bis 1994 grossen Einfluss in Ruanda, was auf das Erbe der belgischen Kolonialzeit zurückzuführen ist. Sie unterstützte die politische Macht der Hutu und förderte ein Klima des Hasses gegen die Tutsi. Priester und kirchliche Vertreter sassen in den politischen Gremien des Hutu-Regimes und unterstützten die Verfolgung der Tutsi, was die Kirche in die Gräueltaten des Völkermords verwickelte.[21] Im Roman wird ein Besuch des Papstes erwähnt, jedoch wird die Schuld der katholischen Kirche vernachlässigt, was wohl auch auf den unzuverlässigen Erzähler David Hohl zurückzuführen ist, welcher noch so oft nur auf die für ihn persönlich relevanten Themen genauer eingeht. Als im Buch allerdings ein Minister zum Papst spricht, wird die zwielichtige Rolle der Kirche in Ruanda kurz angetönt, allerdings wird später nicht mehr darauf eingegangen. „Wie soll ich sie trösten, wenn ich doch ins Himmelreich kommen und dazu die katholische Moral leben will, die mir nur wie die Zementierung der weissen Vorherrschaft erscheint?“.[22]
Deutung
Lukas Bärfuss will mit dem Buch darauf aufmerksam machen, dass sich Schweizer in der Ordnung und Bescheidenheit der Ruander selbst wiedererkennen und nicht merken, was sich zusammenbraut. Denn es ist gerade diese Ordnung, die den Genozid ermöglicht. Völkermord kann nur in einem geregelten Staatswesen geschehen, in dem jeder seinen Platz kennt. Analysten sind sich einig, dass der Völkermord in Ruanda eine perfekt inszenierte Aktion war, die eine funktionierende Machthierarchie voraussetzt, kein Ausbruch spontaner Gewalt.
Zur Verantwortung der Schweiz – These von Lukas Bärfuss
Gegenüber der NZZ verdeutlichte Lukas Bärfuss im Jahre 2010 die Absicht seines Romans: Er wolle damit nicht Schuld verteilen, schuldig am Genozid seien jene, die ihn organisiert und davon profitiert haben. Die DEZA habe aber einen grossen Einfluss auf die Eliten in Ruanda gehabt (vor allem, weil viel Geld floss). Jedoch sei die damit einhergehende Verantwortung nicht abschliessend wahrgenommen worden.[23] Selbst im Jahre 2008 als Bärfuss den Roman veröffentlichte, war die Thematik des Genozids nicht aufgearbeitet. Symbolhaft dafür ist die Aussage von Erik Gujer im bereits erwähnten NZZ-Beitrag, dass die Schweiz in Ruanda «ein kleiner Player» war – doch entspricht dies wirklich den Tatsachen?
Ein historischer Fakt, welcher direkt ins Buch einfliesst, ist die Anzahl Entwicklungshelferorganisationen, darunter die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Doch die Schweiz hat «von allen Nationen das meiste Geld in dieses Land gesteckt» (S. 208) und dementsprechend eine grosse Verantwortung auf sich genommen. Meist haben die Organisationen das Ziel gehabt – darunter auch die DEZA – das Land aufzubauen, ihm die «Good Governance» zu vermitteln und demokratische Prozesse zu unterstützen. Unter dem Begriff «Good Governance»[24] wird die Art und Weise verstanden, in welcher in einem Staat Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Im Roman sind Ruanda metaphorisch der Schüler und die DEZA die Lehrer.
Ruanda wurde 1963, nur ein Jahr nach seiner Unabhängigkeit, zum ersten Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe. An sich stellt dies sicherlich kein Problem dar, doch wenn man bedenkt, dass «wir [die DEZA] die ganze Zeit Rassisten unterstützt hatten» (S. 102), wirft dies ein anderes Licht auf die Schweizer Absichten. Inwiefern hat die Schweiz also indirekt den Genozid zu verantworten? Wird das Entwicklungsgeld überhaupt für die beabsichtigten Zwecke gebraucht? Hat die DEZA überhaupt gesehen, was sich anbahnt?[25]
Vor und während des Bürgerkrieges hat die Schweiz immer die Hutu, die Regierung unterstützt – immer nur die gleiche Seite wird finanziell und mit Knowhow (vgl. Radio) versorgt. «In den vierzig Jahren, seit unsere Leute [DEZA] hier ihr Unwesen trieben, galten immer die Kurzen [Hutu] als benachteiligt. […] Und nun erkannten wir, dass wir in all den Jahren die Schweinehunde unterstützt hatten, und verzweifelt suchten wir nach den neuen Opfern» (S. 152). Mit anderen Worten lässt Bärfuss seinen Protagonisten zynisch kommentieren, dass die Schweiz während all den Jahren nur der Regierung geholfen hat, und als sie merkten, dass ein Genozid anbahnte, trotzdem auf der Seite des Präsidenten Hab und damit auf der Seite der Regierung geblieben ist.
Damit kommt gemäss dem Roman der Schweiz also eine federführende Rolle zu: Aus der Bundeshauptstadt ist das meiste Geld überwiesen worden – doch wohin? Erreichten die finanziellen Spritzen wirklich den Adressaten? Grossmehrheitlich ist es wohl wahrheitsgetreu zu sagen, dass «sich das Akazu an den Geldern bedient hatte und auch von diesen fünf Millionen, wie von allen anderen, die wir in dieses Land investiert hatten, nichts mehr übrig war» (S. 158–159). Die Verantwortung wird nicht wahrgenommen, der Geldfluss nicht vollends überblickt. Wie sonst kann, wie es Bärfuss schildert, die Hab-Regierung «tausend geschliffene Macheten aus chinesischer Produktion» (S. 128) bestellen – die finanziellen Mittel werden also für anderes verwendet und nicht für die vorgegebenen Zwecke: «Unsere Gelder flossen in die Taschen der Reichen, und auch die nächste und die übernächste Generation wird in den Sümpfen verfaulen» (S. 163). Die Armen, jene, welche diese Franken wirklich gebraucht und verdient hätten, sehen, wie es der Roman umschreibt, keinen Rappen Hilfe – ein Umstand, welcher metaphorisch für die Entwicklungshilfe der Schweiz in Ruanda steht.
Zuletzt lässt Bärfuss seinen Protagonisten David Hohl klar Stellung beziehen – symbolisch auf der letzten Seite des Romans: «Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Sosse unterzugehen» (S. 208). Der Autor übermittelt mithilfe seines Protagonisten und dem ganzen Roman einen klaren Hauptgedanken: Die Schweiz ist nicht die Akteurin, welche das Blutbad anrichtet, welche die Menschen tötet. Nein, die Eidgenossenschaft ist zwar vor Ort und engagiert sich stets für die führenden Eliten, aber sie tötet die Menschen nicht. Sie weiss, an wen sie sich wenden kann, damit sie nicht verantwortlich gemacht wird. Sie weiss, inwiefern wo und wann reagiert werden muss, damit die Verantwortung auf andere diffundiert, und wird der kritische Punkt in einem Moment überschritten, so weiss sie sich einen Fluchtweg zu suchen und das sinkende Schiff zu verlassen, wie es Paul und Marianne tun, als sie mit Beginn des Genozids das Land verlassen.
Sprache und Genozid
Normalisierung der Gewalt Die Normalisierung der Gewalt ist ein Thema, das immer wieder im Buch auftaucht. Dabei ist auch eine Veränderung von Davids Einstellung zur Gewalt zu beobachten. Am Anfang des Romans zeigt der Protagonist eine Akzeptanz gegenüber der Brutalität, die in Ruanda herrscht. Im Verlaufe der Handlung wird erkennbar, dass seine eigene Gewaltbereitschaft grösser wird, und er tötet schliesslich sogar seinen geliebten Bussard eigenhändig. Seine Brutalität richtet sich jedoch nicht nur gegen Tiere, sondern auch gegen Menschen, wie zum Beispiel gegen Théoneste: „Ich habe Théoneste geschlagen, immer wieder, und er hat es hingenommen…“ (S. 180). Die eigentliche Abstumpfung versteckt sich darin, dass er diesen den Mördern kaltblütig, wissentlich ausliefert. Und sich als gerecht empfindet.
Die Veränderung von Davids Gewaltbereitschaft und die Normalisierung des Blutvergiessens im Allgemeinen sind auf die Sprache zurückzuführen. Der Protagonist berichtet davon, dass unter der Woche „die Sprache der Vernunft“ vorherrscht, nämlich Französisch. Die restliche Zeit reden die Menschen anders, so auch im Radio. Diese Formulierungen sind geprägt von Hass, Hetze und Angst: „Ich verstand den Zweck dieser anderen, neuen, unbekannten Sprache, und ihr Zweck hiess Schrecken, ein Schrecken, der sich von Tag zu Tag tiefer in die Gesichter der Menschen eingrub“ (S. 130). David ist sich zu schade dieses Idiom zu erlernen, nichtsdestotrotz wird er durch die Sprache und die Stimmung im Land beeinflusst. Nicht nur er, sondern auch Agathe und die gesamte übrige Bevölkerung radikalisieren sich.
Die Gewalt ist insofern völlig normalisiert, als das Töten bereits als Gewerbe angesehen wird und mit einer Selbstverständlichkeit darüber gesprochen wird, als handle es sich um einen normalen Beruf: „Wie pflichtbewusst sie dabei waren, wie ordentlich sie ihr Handwerk erledigten, wie eine gewöhnliche Arbeit, und so wie sie früher punkt fünf ihre Arbeit am Entwässerungsgraben niederlegten, so hielten sie es auch jetzt, bei ihrem Mordhandwerk“ (S. 177).
Konnotation der Wörter Wörter in der Landessprache Ruandas wie „Inyenzi“ (S. 105) und „Inkotanyi“ (S. 125) werden zur Bezeichnung der „Rebellen“ bzw. der Tutsi verwendet. Der Begriff „Inyenzi“ wird dabei für alle Tutsi im Land verwendet, wobei „Inkotanyi“ ausschliesslich für paramilitärische Gruppen aus Uganda gebraucht wird. Bereits das Wort „Rebellen“ ist negativ behaftet, da es Menschen bezeichnet, die sich der Obrigkeit widersetzen. In diesem Fall wäre der Aufstand gegen die Obrigkeit jedoch legitimiert, weil sie die unterdrückte und vertriebene Gruppe sind. Mit dem Begriff „Rebellen“ wird ihnen jedoch jegliche Legitimation abgesprochen, da das Wort impliziert, dass dieser Aufstand unrechtmässig ist. Auch die Wörter „Inyenzi“ und „Inkotanyi“ erleben eine Bedeutungsverschiebung, da sich ihre Konnotation über die Zeit verändert. Ab dem Moment als der Begriff Kakerlake zur Bezeichnung eines Menschen verwendet, wird er menschenverachtend. Das Wort „Inkotanyi“ ist zuerst positiv und wertschätzend konnotiert, erst die Assoziation mit den „Rebellen“ macht das Wort in ihrer Aussage negativ.
Zusammenführung der Aspekte „In deren Kommentaren diese Burschen die schlimmsten Teufel waren, Brandschatzer, Vergewaltiger, und ich wusste, das waren sie tatsächlich. Ich wusste, was sie noch vor wenigen Stunden getan hatten, was sie in den letzten 80 Tagen getan hatten, und trotzdem sah ich sie als Freunde, als Brüder gar, als Menschen, wie ich einer war, als Artgenossen“ (S. 186). Dieses Zitat zeigt uns die Zusammenführung der verschiedenen behandelten Aspekte. Nicht nur werden die Rebellen mit verschiedensten Wörtern bezeichnet, auch wird deren Gewalt akzeptiert, und David bezeichnet sie sogar als „Brüder“ bzw. „Artgenossen“. Er macht sie damit ebenbürtig und sympathisiert mit den „schlimmsten Teufeln“.
Tiermetaphorik
Ein zentrales stilistisches Mittel in Lukas Bärfuss’ Roman 100 Tage ist die Tiermetaphorik, die auf unterschiedliche Weise eingesetzt wird, um Machtverhältnisse, moralischen Verfall und die Entmenschlichung im Kontext des Völkermords in Ruanda 1994 darzustellen. Die Vergleiche mit Tieren dienen sowohl zur Charakterisierung einzelner Figuren als auch zur ideologischen Rechtfertigung von Gewalt. Besonders prägnant ist die Verwendung von Raub- und Aasfressern sowie Insekten, um gesellschaftliche Hierarchien und Abwertungsmechanismen zu verdeutlichen.
Fische: Bereits in seiner Kindheit zeigt die Hauptfigur David Hohl eine ambivalente Haltung gegenüber Tieren. Er quält Fische zu Tode, obwohl er sich selbst als „Tierfreund“ betrachtet. Dieses Verhalten spiegelt Davids spätere moralische Widersprüchlichkeit wider, da er sich als unbeteiligter Beobachter des Genozids sieht, obwohl er in die Ereignisse verstrickt ist.
Kakerlaken: Die Metapher der Kakerlake ist eine zentrale Symbolik des Romans und verweist auf die reale Sprache der Täter während des Völkermords. Die Tutsi wurden von der Hutu-Propaganda als „Inyenzi“ (s. 105) bezeichnet. Übersetzt heisst dieses Wort: Kakerlake. Ein Begriff, der ihre Entmenschlichung legitimierte und die Ermordung als notwendige „Reinigung“ erscheinen liess. Die Assoziation mit Ungeziefer suggeriert Massenhaftigkeit, Widerstandsfähigkeit und Ekel, was den Prozess der moralischen Abstumpfung gegenüber den Opfern erleichterte.
Bussard: Der Bussard spielt eine ambivalente Rolle in der Symbolik des Romans. Bussarde wurden als „Ratte der Lüfte“ bezeichnet, was ihn mit einem minderwertigen und opportunistischen Tier gleichsetzte. Während Greifvögel oft als majestätische Wesen gelten, erhält der Bussard hier eine abwertende Konnotation. Davids Rettung des Bussards, eines Tiers, das normalerweise verachtet wird, zeigt zunächst eine andere Seite seines Charakters, die Mitgefühl und möglicherweise ein gewisses Verantwortungsbewusstsein widerspiegelt. Dies könnte darauf hindeuten, dass er sich in dieser Phase noch nicht vollständig an die Brutalität seiner Umgebung angepasst hat und zumindest instinktiv einen Sinn für Gerechtigkeit oder Fürsorge besitzt. Doch als er den Bussard später selbst tötet, spiegelt dies seinen inneren Sinneswandel wider. Eine symbolische Handlung, die seine zunehmende moralische Abstumpfung und seine Anpassung an die Grausamkeiten der Umgebung verdeutlicht.
Hunde: Auch Hunde erscheinen im Roman in einem abwertenden Kontext. David verfüttert den Kadaver von Hunden an den Bussard, den er zuvor gerettet hatte. Diese Handlung kann als weiteres Zeichen seines inneren Wandels interpretiert werden: Während die Rettung des Bussards noch eine Art Mitgefühl oder moralische Regung in ihm widerspiegelt, zeigt die Verfütterung der Hunde an den Greifvogel eine zunehmende Abstumpfung. David wird Teil der Gewaltspirale. Er beginnt, Leben und Tod mit einer ähnlichen Kälte zu betrachten, wie es die Täter des Genozids tun. Er zerhackte Hunde, die man seinetwegen totschlug, um sie einem verkrüppelten Vogel zu verfüttern. Die Szene verdeutlicht, dass in einer von Gewalt und Chaos geprägten Welt selbst einstige moralische Prinzipien erodieren und das Überleben zur obersten Maxime wird.
Berggorilla: Der Berggorilla wird im Roman als „König des Landes“ beschrieben. Die Darstellung verweist auf die Virunga-Vulkane, wo diese seltenen Tiere leben. In einem zentralen Abschnitt wird deutlich, dass einige Menschen bereit wären, „zehn, hundert oder sogar tausend Menschen“ für das Überleben eines einzigen Gorillas zu opfern. Dies unterstreicht die Wertigkeit, die der Natur im Gegensatz zum menschlichen Leben beigemessen wird. Die Tötung eines Berggorillas wäre ein unvorstellbarer Verlust, während das Leben armer Menschen als entbehrlich betrachtet wird.
„Hohe Tiere“: Der Ausdruck „hohe Tiere“ verweist auf eine elitäre gesellschaftliche Stellung. Die politische Führung der Hutu betrachtete sich als übergeordnete Instanz, die über Leben und Tod entschied und stark von ihrer Macht profitieren. Diese Selbstwahrnehmung diente der ideologischen Legitimation der Herrschaft, während die Tutsi gleichzeitig durch Begriffe wie „Kakerlake“ entmenschlicht wurden. Die Kombination aus herablassender und selbstherrlicher Tiermetaphorik reflektiert die rassistische und kolonial geprägte Denkweise, die den Genozid begleitete.
Kritik
Roman Bucheli beschreibt das Buch in der NZZ als Werk, das die Verwicklung der Menschen in Widersprüche behandelt. Es soll nicht als Plädoyer gegen die Entwicklungshilfe gewertet werden, sondern aufzeigen, „wie Menschen damit umgehen, immer nur eines von zwei Übeln wählen zu können, ohne die Folgen ihres Tuns abschätzen zu können.“[26]
Tobias Rüther schreibt in der FAZ, dass das Buch „sich wie Journalismus [liest]“, und er schätzt, wie realitätsnah das Buch verfasst wurde.[27]
In Verena Auffermanns in der Zeit erschienenen Rezension scheint es, als würde Lukas Bärfuss genauso wie seine Erzählinstanz David Hohl nach Gerechtigkeit lechzen. Sie bewundert, wie gekonnt der Autor unangenehme Botschaften beschönigt serviert.[28]
Die Kritik von Rolf Bossart in der Schweizer WOZ sagt eher wenig über den Inhalt des Romans aus, vielmehr kritisiert der Autor die partielle Unwahrhaftigkeit des Stoffes. Die Kritik setzt voraus, dass das Buch bereits gelesen wurde.[29]
David Signers Kritik in der Weltwoche ist gut recherchiert, präzise und verschafft dem Leser einen umfangreichen Überblick über den Inhalt des Buches mit spannenden Hintergrundinformationen. „'Hundert Tage’ ist engagierte, kritische, politische Literatur im besten Sinne des Wortes, ohne je zur Propaganda oder zum Traktat zu erstarren“, schreibt der Autor in seiner Rezension.[30]
Auszeichnungen
Der Roman stand 2008 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im selben Jahr wurde Bärfuss für den Roman mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, 2009 mit dem Sonderpreis des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises.
Literatur
- Lukas Bärfuss: Hundert Tage. 11. Auflage. Random House, München 2010, ISBN 978-3-442-73903-5.
Weblinks
- Hörprobe bei Literaturport
- Rezensionen zu Hundert Tage bei perlentaucher.de
- Hundert Tage beim Goethe-Institut Südafrika
Einzelnachweise
- ↑ "Hundert Tage" Lukas Bärfuss
- ↑ Struktureller Rassismus und White Savior Complex. In: amnesty.de. Abgerufen am 24. Februar 2025.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 55, mitte.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 98, oben.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 167, unten.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 177, mitte.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 194–195.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 191, mitte.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 124.
- ↑ Christoph Wehrli: Ein Musterpartner, der zum Genozid-Staat wurde. In: Neue Zürcher Zeitung. 5. April 2014, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 24. Februar 2025]).
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 109, mitte.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 125.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 125.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 201–202.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 204.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 206.
- ↑ Alexander Gaal: „Interne und externe Determinanten des Genozids ab der Frühen Neuzeit. Ein Versuch einer historischen Analyse anhand zweier Fallbeispiele (Moriskenvertreibung und Ruanda-Genozid)“. S. 114.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 202.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 55, mitte.
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 160, unten.
- ↑ Siehe Völkermord in Ruanda#„Tutsi“ und „Hutu“ in vorkolonialer und kolonialer Zeit
- ↑ Lukas Bärfuss: Hundert Tage. S. 74, oben.
- ↑ Lukas Bärfuss | Schreiben und sich einmischen (NZZ Standpunkte 2015) auf YouTube, 21. Oktober 2015, abgerufen am 25. Februar 2025 (deutsch).
- ↑ Geraldine Wong Sak Hoi: Völkermord in Ruanda: Schweiz zeigte Kluft «zwischen Worten und Taten». In: swissinfo.ch. 29. Mai 2024, abgerufen am 25. Februar 2025.
- ↑ Benedikt Widmer: Vor 20 Jahren: 100 Tage Massenmord in Ruanda. In: srf.ch. 4. April 2014, abgerufen am 25. Februar 2025.
- ↑ Von Roman Bucheli: «Hundert Tage» – Lukas Bärfuss' klug-aufwühlender Roman über ein Leben in Widersprüchen: Das Dilemma der guten Absicht. In: Neue Zürcher Zeitung. 11. April 2008, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 25. Januar 2017]).
- ↑ Tobias Rüther: Lukas Bärfuss: Hundert Tage: Mach dein Kreuz, und fahr zur Hölle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. April 2008, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 25. Januar 2017]).
- ↑ Verena Auffermann: Roman: Krieg und Liebe in Kigali. In: Die Zeit. 13. März 2008, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 25. Januar 2017]).
- ↑ «Hundert Tage»: Gegen die falsche Scham. 7. Februar 2012 (woz.ch [abgerufen am 25. Januar 2017]).
- ↑ David Signer: Wenn Schweizer Afrika retten wollen. Archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 2. Februar 2017; abgerufen am 25. Januar 2017.