Hemerobie

Der ökologische und naturschutzfachliche Begriff Hemerobie ist ein Maß für den gesamten Einfluss des Menschen auf natürliche Ökosysteme.[1] Die aus den griechischen Wörtern ἥμερος (hḗmeros „gezähmt, kultiviert“) und βίος (bíos „Leben“) gebildete und erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts von Biologen in Skandinavien benutzte Bezeichnung[2] kann etwa mit Kultivierungsgrad übersetzt werden. Im Sprachgebrauch des fachlichen Naturschutzes wird die Hemerobie auf den Grad der Natürlichkeit von Vegetation reduziert und gleichbedeutend mit den Begriffen Naturnähe oder Naturferne verwendet.[3] Liegen unumkehrbare (oder irreversible) Standortveränderungen vor, ist es jedoch sinnvoll, zwischen dem Konzept der Hemerobie und dem der Naturnähe zu differenzieren.[4]

Naturnähe/Naturferne

Alle Grenzen sind fließend: Wo endet Natur und wo beginnt Kultur?

Naturnähe/Naturferne oder Natürlichkeit ist eines der zentralen Fachkriterien für eine ökologisch fundierte naturschutz­fachliche Bewertung von Pflanzengesellschaften. Dieser Bewertung liegt zugrunde, dass die Gegenüberstellung von Natürlichkeit und Unnatürlichkeit bzw. Künstlichkeit keine absolute, sondern eine relative ist: Es gibt im Prinzip beliebig viele Grade von Natürlichkeit und Künstlichkeit, die sich zudem auf unterschiedliche Dimensionen beziehen können.[5] Dies führt dazu, dass es keine allgemein anerkannte Definition von Naturnähe/Naturferne gibt und es umstritten ist, welche Indikatoren für die Ermittlung des Grades der Naturnähe/Naturferne herangezogen werden sollten. Deshalb existiert eine Vielfalt unterschiedlicher Kriterien und Einteilungen. Bezogen auf die (zumeist bestimmende) Pflanzenwelt wird die Naturnähe als Differenz zwischen der tatsächlichen und der (heutigen) potenziell natürlichen Vegetation eines Ökosystems abgeleitet. So entsteht beispielsweise eine Skala von „sehr naturnah“ bis „kulturbestimmt“. Die Festlegung erfolgt z. B. über die prozentualen Anteile der natürlich vorkommenden Arten. Ein Gebiet, in dem 100 % der nach der potenziellen natürlichen Vegetation zu erwartenden Arten vorkommen, wäre demnach „sehr naturnah“. Ein Maisfeld hingegen, bei dem man noch maximal 10 % der Arten findet, die dort von Natur aus leben würden, wäre „kulturbestimmt“. Um zu solchen Ergebnissen zu gelangen, wird vor allem die Biotopkartierung eingesetzt. Mit der Naturschutzstrategie des Prozessschutzes will man erreichen, dass sich (relativ) naturnahe Biotope allein durch die natürliche Sukzession ihrem potenziellen Naturzustand weiter annähern.[1]

Hemerobie-System nach Jalas und Sukopp

Für die Hemerobie als Störung der Vegetation hat sich in Mitteleuropa das System nach Jaakko Jalas (1953, 1955) durchgesetzt, das 1972 von Herbert Sukopp weiterentwickelt wurde. Lebensräume und Vegetationstypen werden in folgende Skala (Hemerobiestufen, Hemerobiegrade) eingeteilt:[6]

  • ahemerob / natürlich (unbeeinflusst; griech. an „ohne“)
  • oligohemerob / naturnah (gering beeinflusst, wie sehr gering besiedelte Gebiete, Arktis, Wüsten, Hochgebirge; griech. oligo „wenig“)
  • mesohemerob (~ semihemerob)/ halbnatürlich (mäßig beeinflusst, wie dünn besiedelte Kulturlandschaften; meso „mittel“)
  • euhemerob / naturfern (stark beeinflusst, wie Agrarlandschaften, Siedlungen; eu „wohl-“)
  • polyhemerob (sehr stark beeinflusst, teilbebaute Flächen, Deponien; poly „viel“)
  • metahemerob / naturfremd (Biozönose weitgehend zerstört: Anthropotope wie Verkehrsflächen, Kerngebiete der Innenstädte und vegetationsfreie Industrieanlagen; meta „über(mäßig)“)

Globaler Maßstab

In der Siedlungsgeographie existieren seit langem die Begriffe Ökumene für den dauernd besiedelten Raum, Subökumene für den extensiv genutzten und nur punktuell besiedelten Raum sowie Anökumene für nicht bewohnbare Gebiete. Vergleichende Betrachtungen der globalen Ökosysteme operieren häufig mit einer reduzierten Skala der Hemerobie. Dabei geht es vor allem in populärwissenschaftlichen Darstellungen um die (plakative) Grenzziehung zwischen Wildnis und Kulturlandschaft. Seriöse Veröffentlichungen berufen sich dabei auf verschiedene wissenschaftliche Studien. Vor allem ist hier die umfassende Studie Last of the wild – Version 2 zu nennen, die 2005 von der Wildlife Conservation Society und dem „Center for International Earth Science Information Network“ (CIESIN) an der Columbia University (New York) veröffentlicht wurde. Ausgehend von acht Hemerobie-Stufen, die hier als „Menschlicher Fußabdruck“ (HFI – „Human footprint index“) bezeichnet werden, gelangt die Studie zu einer Dreiteilung der irdischen Landoberfläche in „most wild“ (etwa ‚Kernwildnis‘), „last of the wild“ (etwa ‚Wildnischarakter‘) und „least wild“ (etwa ‚Restwildnis‘).

Aufgrund des massiven anthropogenen Einflusses des Menschen auf die Biosphäre wurde vorgeschlagen, das laufende Erdzeitalter Anthropozän zu nennen.

Hemerobiegrade in Deutschland

Anteil naturbetonter Flächen je Gemeinde in Deutschland
Hemerobie Deutschlands 2010

Ahemerobe Biotope existieren in Deutschland infolge der flächendeckenden, historischen Kulturlandschaftsentwicklung nicht oder nur in besonderen, kleinflächigen Ausnahmefällen. Einige Gebiete können als oligohemerob klassifiziert werden wie z. B. die Hochgebirge der Bayerischen Alpen und natürliche Moore. Als meso- bzw. semihemerob können die Wattenmeere sowie alte, heimische Buchenmischwälder mit naturnahen Strukturen und Arteninventar angesehen werden. Fünf – allerdings relativ kleine – Buchenwälder wurden darum 2011 als Teilcluster des Europäischen Buchenwaldes als Weltnaturerbe von der UNESCO anerkannt. Infolge der Daten der Hemerobieindikatoren[7] des Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung gehören etwa 33 % der Landesfläche Deutschlands zu den drei naturbetonten Stufen (ahemerob bis mesohemerob) und 67 % zu den kulturbetonten Stufen (euhemerob bis metahemerob).[8]

Siehe auch

Literatur

  • Ingo Kowarik: Natürlichkeit, Naturnähe und Hemerobie als Bewertungskriterien. In: Otto Fränzle, Felix Müller, Winfried Schröder (Hrsg.): Handbuch der Umweltwissenschaften – Grundlagen und Anwendungen der Ökosystemforschung. Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 3-527-32144-6, VI-3.12, S. 1–18.
  • Wolfgang Frey, Rainer Lösch: Lehrbuch der Geobotanik. Pflanze und Vegetation in Raum und Zeit. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-1193-9, S. 39.

Weblinks

Wiktionary: natürlich – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Natürlichkeit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b Der „gute ökologische Zustand“ naturnaher terrestrischer Ökosysteme – ein Indikator für Biodiversität? – Tagungsband zum Workshop in Dessau 19./20.9.2007 (PDF; 4,2 MB). Website des Umweltbundesamtes. Abgerufen am 23. Februar 2013.
  2. Uta Eser: Der Naturschutz und das Fremde: Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik. Campus Forschung, 1999, ISBN 3-593-36250-3.
  3. Manfred Haacks: Landschaftsökologisch – vegetationskundliche Vergleichsstudie der Dove und Gose Elbe in Hamburg, Diplomarbeit, Fachbereich Geowissenschaften der Universität Hamburg Institut für Geographie, Hamburg 1998 (PDF; 22,3 MB). Website des Verfassers. Abgerufen am 23. Februar 2013.
  4. Christian Stein und Ulrich Walz: Hemerobie als Indikator für das Flächenmonitoring. Methodenentwicklung am Beispiel von Sachsen, Naturschutz und Landschaftsplanung, 44(2012)/9: S. 261–266 (PDF; 1,1 MB).
  5. Dieter Birnbacher: Natürlichkeit. De Gruyter, Berlin 2009; Dieter Birnbacher: Natürlichkeit. In: Thomas Kirchhoff (Hrsg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online-Lexikon Naturphilosophie. Universitätsbibliothek Heidelberg 2019, doi:10.11588/oepn.12019.11580.65541.
  6. Stefan Klotz und Ingolf Kühn: Indikatoren des anthropogenen Einflusses auf die Vegetation (Memento desOriginals vom 4. März 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www2.ufz.de, Schriftenreihe für Vegetationskunde, Bundesamt für Naturschutz, 2002 (PDF; 227 kB). Website des BfN. Abgerufen am 23. Februar 2013.
  7. Ulrich Walz und Christian Stein: Indicators of hemeroby for the monitoring of landscapes in Germany, Journal for Nature Conservation 22 (2014) 3, S. 279–289 (PDF; 3,3 MB).
  8. Monitor der Siedlungs- und Freiraumentwicklung, Indikator "Anteil naturbetonter Flächen an Gebietsfläche" (Memento desOriginals vom 24. September 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ioer-monitor.de Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), 2010.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Hemerobie Deutschlands 2010.png
Autor/Urheber: Land4schaft; Christian Stein, Ulrich Walz, Lizenz: CC BY 3.0
Bedeutung und Interpretation:

Der Begriff Hemerobie leitet sich von den griechischen Wörtern hémeros (gezähmt, kultiviert) und bíos (leben) ab. Die Hemerobie stellt die Gesamtheit aller Eingriffe des Menschen in den Naturhaushalt dar und kann als ein inverses Maß der Naturnähe verstanden werden, wenn die anthropogenen Eingriffe reversibel sind. Den Flächennutzungen bzw. Bodenbedeckungen werden Werte folgender 7-stufigen Hemerobieklassifikation zugeordnet: - Stufe 1: ahemerob (nicht kulturbeeinflusst), - Stufe 2: oligohemerob (schwach kulturbeeinflusst), - Stufe 3: mesohemerob (mäßig kulturbeeinflusst), - Stufe 4: beta-euhemerob (mäßig-stark kulturbeeinflusst), - Stufe 5: alpha-euhemerob (stark kulturbeeinflusst), - Stufe 6: polyhemerob (sehr stark kulturbeeinflusst) und - Stufe 7: metahemerob (übermäßig stark kulturbeeinflusst / Biozönose zerstört).

Auf Basis dieses Indikators sind Gesamtaussagen über die Qualität der anthropogenen Flächeninanspruchnahme möglich (im Gegensatz zu sektoralen Indikatoren).

Datengrundlagen: ATKIS Basis-DLM, BKG Potentielle natürliche Vegetation Deutschlands, BfN (2010); DLM-DE, BKG

Methodik: Die Zuordnung der Hemerobiestufen erfolgte auf der Grundlage von Geodaten wie folgt: Die Angaben zur Flächennutzung wurden aus dem DLM-DE entnommen, da die Kategorien des Freiraumes (v.a. Wald und Grünland) hier besser erfasst sind als im ATKIS Basis-DLM. Das Straßen-, Wege- und Schienennetz sowie die linienhaften Gewässer wurden aus dem Basis-DLM abgeleitet und mit dem DLM-DE verschnitten, da das DLM-DE keine linienhaften Elemente enthält. Baumreihen und Hecken wurden ebenso wie Punktobjekte (z.B. Quellen und landschaftsprägende Einzelbäume) nicht berücksichtigt. Für die Pufferung der im ATKIS Basis-DLM linienförmig vorliegenden Objekte konnten die enthaltenen Breitenangaben genutzt werden. Bei fehlender Breitenangabe erfolgte eine standardisierte Zuweisung von Werten anhand anderer Eigenschaften (z.B. Widmung von Straßen, Anzahl von Fahrstreifen oder Gleisen).

Zur Klassifikation von Wäldern und vegetationslosen Flächen nach ihrer Hemerobie ist zusätzlich eine Verschneidung mit der potentiellen natürlichen Vegetation (pnV) notwendig. Hierfür wurde die bundesweit vorliegende Karte der pnV im Maßstab 1:500.000 genutzt. Für die Analyse wurde eine semantische Generalisierung mit den im Basis-DLM vorhandenen Landnutzungstypen Laub-, Nadel- und Mischwald sowie natürlich waldfreien Standorten durchgeführt. Aufgrund der Maßstabsunterschiede erfolgt der Vergleich der einzelnen Waldflächen immer mit derjenigen pnV-Einheit, in die der größte Teil der Waldfläche fällt.
Hemerobie naturbetonte Flaechen IOER Monitor 2010 Gemeinden U18RG.png
Autor/Urheber: Land4schaft, IÖR Dresden, www.ioer-monitor.de, Lizenz: CC BY 3.0
Flächenanteil von Landnutzungen mit den Hemerobiestufen ahemerob bis mesohemerob an der Gemeindefläche

Der Begriff Hemerobie leitet sich von den griechischen Wörtern hémeros (gezähmt, kultiviert) und bíos (leben) ab. Die Hemerobie stellt die Gesamtheit aller Eingriffe des Menschen in den Naturhaushalt dar und kann als ein inverses Maß der Naturnähe verstanden werden, wenn die anthropogenen Eingriffe reversibel sind. Den Flächennutzungen bzw. Bodenbedeckungen werden Werte folgender 7-stufigen Hemerobieklassifikation zugeordnet: - Stufe 1: ahemerob (nicht kulturbeeinflusst), - Stufe 2: oligohemerob (schwach kulturbeeinflusst), - Stufe 3: mesohemerob (mäßig kulturbeeinflusst), - Stufe 4: beta-euhemerob (mäßig-stark kulturbeeinflusst), - Stufe 5: alpha-euhemerob (stark kulturbeeinflusst), - Stufe 6: polyhemerob (sehr stark kulturbeeinflusst) und - Stufe 7: metahemerob (übermäßig stark kulturbeeinflusst / Biozönose zerstört).

Von besonderem naturschutzfachlichem Interesse für die Freiraumentwicklung sind naturbetonte Flächen der Hemerobiestufen ahemerob bis mesohemerob, da diese keinen oder nur mäßigen periodischen Eingriffen des Menschen unterliegen. Hierzu zählen standortgerechte und standortfremde Wälder, Gehölze und Hecken, Sümpfe und Moore. Der restliche Anteil der Bezugsfläche ist folglich mindestens mäßig stark kulturbeeinflusst.
Natur-Kultur.gif
Autor/Urheber: Ökologix, Lizenz: CC0
Grafische Darstellung des fließenden Überganges zwischen Natur und Kultur