Graduale

Als Graduale (eigentlich Responsorium Graduale) bezeichnet man in der römisch-katholischen Liturgie einen Zwischengesang in der heiligen Messe, aber auch ein liturgisches Buch (liber gradualis, Graduale Romanum).

Das Graduale in der Liturgie

Als Graduale werden Psalmabschnitte oder biblische Verse zwischen der alttestamentlichen Lesung und der Epistel in der Messe bezeichnet; wenn die alttestamentliche Lesung entfällt, ist der Platz des Graduales zwischen vorhergehender Epistel und nachfolgendem Alleluia. Sie werden solistisch vorgetragen und durch ein sog. Responsum von der Schola (oder auch Gemeinde) gerahmt. Die Bezeichnung rührt her vom Ort der Ausführung des Gesanges (lateinisch gradus ‚Stufe‘, responsorium graduale, ‚Antwortgesang, von den Stufen aus zu singen‘).[1] In der Praxis hat sich daraus das Singen vom Ambo her entwickelt.

Das Graduale hat seine Wurzeln im frühmittelalterlichen Gottesdienst. Bereits im 6. Jahrhundert war das Graduale Bestandteil der römischen Messe. Es war anfänglich ein Psalm, der zwischen den Bibellesungen gesungen wurde, doch im Zuge einer reicheren melodischen Ausgestaltung vor allem des folgenden Allelujarufs verkürzte sich das Graduale auf einen Psalmvers (psalmellus),[2] vereinzelt auch auf andere als Psalmtexte, so das Graduale Christus factus est (Phil 2,8–9 ). In fränkischer Zeit wurde es üblich, es auf den Stufen des Ambos zu singen, da der Ambo dem Vortrag des Evangeliums vorbehalten war;[3]

Mit der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil trat im Missale Romanum von 1970 an die Stelle des Graduales der Antwortpsalm; das Graduale kann jedoch auch weiterhin lateinisch aus dem Graduale Romanum oder dem Graduale Novum gesungen werden.[4]

Das Graduale im Gregorianischen Choral

Das Graduale ist ein Teil des gregorianischen Mess-Propriums. Es gehört zur Gattung des Responsoriums und besteht ursprünglich aus folgenden Teilen:

  • dem vom Kantor vorgesungenen Responsum,
  • dem von der Schola wiederholten Responsum,
  • einem Solo-Vers (typischerweise ein Psalm-Vers)
  • und der Wiederholung des Responsums durch die Schola.

Im Verlauf des Mittelalters etablierte sich dann allerdings eine davon etwas abweichende Form:

  • Der Kantor intonierte die ersten ein bis zwei Worte des Responsums, bevor die Schola mit einstimmte;
  • danach sang der Kantor den Solo-Vers nicht mehr komplett, denn der letzte Teil des Verses wurde von der Schola übernommen;
  • die Wiederholung des Responsums entfiel in den meisten Fällen.

Die Melodik der Gradualien sind insgesamt melismenreicher und damit auch anspruchsvoller in ihrer Komposition als etwa Introitus und Communio. Der Solovers hat dabei typischerweise einen höheren Tonumfang als das Responsum. Nicht alle Gradualien haben eigene Melodien. Gerade unter den Gradualien im 2. Modus gibt es weitreichende Übereinstimmungen.[5]

In der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten wird das Graduale typischerweise durch ein zusätzliches Alleluia ersetzt.

Mehrstimmige Vertonungen

Aus dem 12. und 13. Jahrhundert gibt es zahlreiche mehrstimmige Vertonungen der solistischen Teile von Gradualien; das sind in dieser Zeit die ersten ein bis zwei Worte des Responsums und der größte Teil des Verses. Diese Vertonungen gehören zur Gattung des Organums, unter ihnen befinden sich auch die berühmten vierstimmigen Organa „Viderunt omnes“ und „Sederunt principes“ von Perotin. Die ursprüngliche gregorianische Melodie bleibt dabei in der Unterstimme, wenn auch in lang ausgehaltenen Noten, zu der die ein bis drei bewegteren Oberstimmen hinzutreten.

Auch aus späterer Zeit gibt es noch mehrstimmige Vertonungen der Graduale-Texte, wenn sie in ihrer Bedeutung auch hinter der Vertonung des Mess-Ordinariums zurücktreten. Solche Vertonungen können sich der Form der Motette, aber auch konzertanter Formen bedienen, es gibt mit der Gradual- oder Epistel-Sonate aber auch reine Instrumentalstücke an Stelle des Graduales. Eine bekannte historische Gradual-Komposition ist das Locus iste von Anton Bruckner, eine Vertonung des Graduale zur Kirchweih.

Liturgisches Buch

Als Graduale wird auch das Choralbuch verwendet, in dem die Messgesänge des Proprium MissaeIntroitus, Graduale, Hallelujaruf, Tractus, Sequenz, Offertorium und Communio – aufgezeichnet sind. Daneben enthält das Graduale das Ordinarium und andere Gesänge wie die Allerheiligenlitanei, Hymnen und Prozessionsgesänge.

Gesänge zum Ordinarium sind auch in einem eigenen Buch zusammengefasst, dem Kyriale.

Aus dem Frühmittelalter sind erstmals um 920 einige Graduale-Handschriften mit Neumen überliefert; sie gehören zu den wichtigsten Zeugnissen zur Erforschung des Gregorianischen Chorals. Diese frühen Handschriften hatten noch ein eher kleines Format; spätmittelalterliche Graduale-Handschriften sind dagegen häufig sehr große Bücher, da sie dazu gedacht sind, dass aus ihnen eine größere Gruppe von Sängern singen soll. Der Begriff Graduale entstand im fränkischen Raum und wurde im 12. Jahrhundert allgemein üblich. Das Graduale bestand als eigenständiges Buch oder wurde als Faszikel mit Sequentiar, Sakramentar und Lektionar im Spätmittelalter zum Missale vereinigt,[6] doch schrieb man weiterhin separate Gradualien auch nach der Erfindung des Buchdruckes noch lange per Hand.

Auf Anregung von Papst Pius X. erschien 1908 das Graduale Romanum, das nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils in verschiedenen Schritten zum Graduale Novum (2011) weiterentwickelt wurde. Eine Variante mit einfacheren Gesängen stellt das Graduale Simplex (1967) dar, das Graduale Triplex (1979) bietet die Choralmelodien neben der Quadratnotation in zwei verschiedenen Neumenschriften.

Des Weiteren gibt es verschiedene weniger weit verbreitete landessprachliche Äquivalente mit Melodien in gregorianischer bzw. einstimmiger kirchentonartlicher Tradition, wie beispielsweise das Deutsche Meßantiphonale von Heinrich Rohr, das Klein Graduale in niederländischer oder das Simple English Propers in englischer Sprache.

Siehe auch

Literatur

  • Virgil Fiala, Wolfgang Irtenkauf: Versuch einer liturgischen Nomenklatur. In: Clemens Köttelwesch (Hrsg.): Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft 1, ISSN 0514-6364). Klostermann, Frankfurt am Main 1963, S. 105–137, besonders S. 111.
  • Erich Joseph Thiel: Ein kleines Lexikon zur Handschriftenkunde. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe. Bd. 23, 1967, ISSN 0940-0044, S. 2379–2395, Nr. 83, besonders S. 2387.

Einzelnachweise

  1. Andreas Traub: Graduale. II. Gesang z. Proprium. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 4. Herder, Freiburg im Breisgau 1995, Sp. 973.
  2. Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 1, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 543ff.
  3. Josef Andreas Jungmann SJ: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Band 1, Herder Verlag, Wien, Freiburg, Basel, 5. Auflage 1962, S. 102.
  4. Allgemeiner Einführung in das römische Messbuch (Nr. 61) [1]
  5. Dies sind insbesondere (alle Seitenzahlen beziehen sich auf das Graduale Triplex): Tollite portas S. 25, A summo caelo S. 27, In sole posuit S. 30, Domine Deus virtutum S. 32, Excita, Domine S. 33, Hodie scietis S. 38, Tecum principium S. 42, Angelis suis S. 72, Ab occultis S. 101, Ne avertas S. 155, Haec dies quam fecit Dominus S. 196, Domine, refugium factus es S. 347, In omnem terram S. 427, Nimis honorati sunt S. 428, Exultabunt sancti S. 455, Justus ut palma florebit S. 510, Dispersit, dedit pauperibus S. 520, und Requiem aeternam S. 670.
  6. Franz Karl Praßl: Graduale. I. Buch. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 4. Herder, Freiburg im Breisgau 1995, Sp. 973.