Genderinkongruenz

Der Begriff Genderinkongruenz beschreibt in den Bereichen der Psychologie und der Medizin einen Zustand, bei dem sich Personen nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren.

Geschichte

Eine Einrichtung, die sich schon sehr früh wissenschaftlich mit Normvarianten der Sexualität befasst hat, war das 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin um den Forscher Magnus Hirschfeld. Es wurde 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen bzw. zerstört.[1] In den 1950er Jahren konnten Transsexuelle in den USA bereits eine Hormontherapie erhalten. Der Forscher Harry Benjamin erkannte damals, dass Transsexuelle nicht psychisch krank sind, sondern dass ihre Identität von ihrem körperlichen Geschlecht abweicht. 1952 wurde ebenfalls in den USA die erste operative Geschlechtsangleichung durchgeführt. 1966 richtete das Johns Hopkins Medical Center eine Gender Identity Clinic ein.[2]

Der Europarat hat in seiner Resolution 2048 vom 22. April 2015 für die rechtliche und soziale Gleichstellung von Transpersonen die 47 Mitgliedsstaaten unter anderem dazu aufgefordert, alle Einstufungen als geistige Störungen in nationalen Klassifikationen zu streichen.[3][4] Das Europäische Parlament hatte bereits 2011 die Europäische Kommission und die Weltgesundheitsorganisation aufgefordert, Störungen der Geschlechtsidentität von der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen zu streichen und in den Verhandlungen über die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11 per 2018) eine nicht pathologisierende Neueinstufung sicherzustellen.[5]

Klassifikation

Klassifikation nach ICD-11
17Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit → Genderinkongruenz
HA60Genderinkongruenz in der Jugend oder im Erwachsenenalter
HA61Genderinkongruenz im Kindesalter
ICD-11 2022-02letzte (WHO, englisch)

Mit der Neuauflage des ICD hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Entpathologisierung der fehlenden Geschlechtsidentifikation vollzogen. Während im ICD-10 noch von einer „Störung der Geschlechtsidentität“ die Rede ist, hat das in der Folgeversion lediglich den Rang einer Normvariante. Im ICD-11 ist die vorherige Formulierung „Störungen der Geschlechtsidentität“ ersetzt durch die Bezeichnung „Genderinkongruenz“. Auch ist der Befund nicht mehr als psychische Störung eingeordnet, sondern als „Zustand mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“.[6] Unterschieden wird nach dem Lebensalter:

  1. HA60: geschlechtsspezifische Abweichung während der Pubertät oder im Erwachsenenalter (gender incongruence of adolescence or adulthood)[7]
  2. HA61: geschlechtsspezifische Abweichung während der Kindheit (gender incongruence of childhood)[8]

Psychische Störungen, die als Folge oder Ursache der Genderinkongruenz festgestellt werden, sind nach Kapitel 06, beispielsweise als „6A71.0 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige Episode“ zu kodieren.[6]

Therapiebedarf im Zusammenhang mit der Genderinkongruenz

Regelmäßig liegt ein Therapiebedarf immer nur bei einem eventuell bestehenden Leidensdruck einer Person vor.

Der Weltverband für Transgender Gesundheit (WPATH) wies 2010 erneut darauf hin, dass eine Störung oder Erkrankung nicht den Menschen oder seine Identität beschreibe, sondern etwas, mit dem der Mensch möglicherweise zu kämpfen habe. Transsexuelle, transgender und geschlechts-nichtkonforme Personen gelten demnach nicht als grundsätzlich gestört. Vielmehr sei es das Leiden unter einer eventuell auftretenden Geschlechtsdysphorie, die diagnostiziert und behandelt werden könne.[9]

Mit diesem Begriff (auch als Genderdysphorie) wird eine anhaltende depressive Verstimmung bezeichnet, die ihren Ursprung in der Genderinkongruenz hat. Er steht im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM), dem US-amerikanischen Diagnoseklassifikationssystem psychischer Störungen.[10] Im ICD-11 wird diese Diagnose nicht verwendet. Dort werden depressive Verstimmungen unabhängig von ihrer Ursache kodiert.[6]

Da eine „anhaltende Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter häufig mit sozialer Ausgrenzung und psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen sowie selbstverletzendem und suizidalem Verhalten“ einhergehe, sei, so Annika Specht und ihre Co-Autoren, „eine adäquate Betreuung der Betroffenen ausgesprochen wichtig“.[11]

Die seit 2007 an der Charité eingerichtete interdisziplinäre GIS-Spezialsprechstunde (Jugendpsychiatrie, Sexualmedizin, pädiatrische Endokrinologie) diagnostizierte bei allen bis Mitte 2008 vorstellig gewordenen Patienten (im Alter von fünf bis 17 Jahren; zwölf männlichen, neun weiblichen Geschlechts) psychopathologische Auffälligkeiten, die in vielen Fällen zur Vergabe einer weiteren psychiatrischen Diagnose führten. In der Regel fanden sich deutliche psychopathologische Auffälligkeiten auch bei den Eltern. Hintergrundproblematik beziehungsweise „Umwandlungsmotiv“ bei den Jugendlichen war überwiegend eine abgelehnte (ich-dystone) homosexuelle Orientierung. Letztere hätte man durch pubertätsblockierende Maßnahmen in ihrer Entfaltung aufgehalten.[12]

Häufigkeit operativer Maßnahmen zur Transition

Die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens wegen Genderinkongruenz in Verbindung mit Genderdysphorie ist seit dem Jahr 2000 sprunghaft angestiegen. Die europäischen und anglo-amerikanischen Länder verzeichnen in diesem Zeitraum Zunahmen um 1000 %. Betrachtet man lediglich die Minderjährigen, so kam es in einzelnen Zentren zu einer Steigerung von 4500 %. Die Zahl der Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren, bei denen eine operative Entfernung der Brustdrüsen zur Angleichung des Erscheinungsbilds in den USA durchgeführt wurde, stieg im Zeitraum zwischen 2013 und 2020 auf das 13-fache. Die Ursachen für diese Entwicklung sind unklar. Als ein Faktor wurde die zunehmende Berichterstattung in den Medien identifiziert. Dabei bleibt die Frage offen, ob hierdurch lediglich die betroffenen Personen ermutigt werden. Diskutiert wird auch eine soziale Ansteckung, die zu einer rapid onset gender dysphoria (ROGD) führt.[13][14][15] Die Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zeigt ebenfalls einen starken Anstieg der durchgeführten operativen geschlechtsangleichenden Maßnahmen in Deutschland in den letzten Jahren. Geschlechtsangleichende Operationen wurden am häufigsten in der Altersgruppe der 25–35 Jährigen durchgeführt.[16]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Institut für Sexualwissenschaft. Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft, abgerufen am 5. Dezember 2022.
  2. Geschichte des Transsexualismus. Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V., abgerufen am 5. Dezember 2022.
  3. Parlamentarische Versammlung des Europarates: Resolution 2048 (2015): Discrimination against transgender people in Europe. Straßburg, 22. April 2015 (englisch; PDF: 161 kB, 2 Seiten auf semantic-pace.net).
  4. Christina Laußmann: Europarat: Historische Resolution für die Rechte von Trans*-Personen verabschiedet. In: Magazin.hiv. 23. April 2015, abgerufen am 3. März 2022.
  5. Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. Dezember 2012 zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2010–2011) (2011/2069(INI)). Abschnitt Sexuelle Ausrichtung und Geschlechtsidentität, Empfehlung Nr. 98. Abgerufen am 25. Februar 2020.
  6. a b c ICD-11 in Deutsch - Entwurfsfassung. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), 2022, abgerufen am 3. Dezember 2022.
  7. Weltgesundheitsorganisation (WHO): HA60: Gender incongruence of adolescence or adulthood. ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics (Version 04/2019). In: WHO.int. Abgerufen am 22. Februar 2020 (englisch).
  8. Weltgesundheitsorganisation (WHO): HA61: Gender incongruence of childhood. ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics (Version 04/2019). In: WHO.int. Abgerufen am 22. Februar 2020 (englisch).
  9. Eli Coleman, W. Bockting u. a.: Standards of Care for the Health of Transsexual, Transgender, and Gender-Nonconforming People, Version 7. In: International Journal of Transgenderism. Band 13, Nr. 4, August 2012, S. 165–232, hier S. 169 (englisch; doi:10.1080/15532739.2011.700873).
  10. Udo Rauchfleisch: Medizinische Einordnung von Trans*identität. Bundeszentrale für politische Bildung, 8. August 2018, abgerufen am 5. Dezember 2022.
  11. A. Specht, J. Gesing, R. Pfäffle, A. Kiess, A. Körner, W. Kiess: Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter. In: Kinder- und Jugendmedizin. Band 17, Nr. 3, 2017, S. 170–176, doi:10.1055/s-0038-1629413.
  12. Alexander Korte, David Goecker u. a.: Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter. In: Deutsches Ärzteblatt. Band 108, Nr. 48, Oktober 2008, S. 834–841, doi:10.3238/arztebl.2008.0834 (online auf aerzteblatt.de).
  13. Martina Lenzen-Schulte: Transition bei Genderdysphorie. Deutsches Ärzteblatt Heft 48, 2. Dezember 2022, S. A-2134, abgerufen am 5. Dezember 2022.
  14. Meredith Wadman: ‘Rapid onset’ of transgender identity ignites storm. In: Science. Band 361, Nr. 6406, 7. September 2018, ISSN 0036-8075, S. 958–959, doi:10.1126/science.361.6406.958 (science.org [abgerufen am 12. Dezember 2022]).
  15. Joanne Sinai: Rapid onset gender dysphoria as a distinct clinical phenomenon. In: The Journal of Pediatrics. Band 245, 1. Juni 2022, ISSN 0022-3476, S. 250, doi:10.1016/j.jpeds.2022.03.005, PMID 35276122 (jpeds.com [abgerufen am 12. Dezember 2022]).
  16. Einzelfragen zu geschlechtsangleichenden Operationen. (PDF, 278KB) Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 17. Oktober 2022, S. 9–10, abgerufen am 19. Dezember 2022.

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Autor/Urheber: Bikerhiker75, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Das Diagramm zeigt die Häufigkeit durchgeführter Operationen zur Genitalorganumwandlung in Deutschland 2007-2020, ermittelt nach der DRG-Statistik des Statistischen Bundesamts