Günter Verheugen

© Oliver Mark, CC BY-SA 4.0
Günter Verheugen fotografiert von Oliver Mark, Berlin 2007

Günter Verheugen (* 28. April 1944 in Bad Kreuznach) ist ein ehemaliger deutscher Politiker (SPD, bis 1982 FDP). Er war in der Kommission Barroso I Vizepräsident der Europäischen Kommission und als EU-Kommissar zuständig für Unternehmen und Industrie. In der Kommission unter Romano Prodi war er für die EU-Erweiterung zuständig.

Leben

(c) Bundesarchiv, B 145 Bild-F060665-0011 / Hoffmann, Harald / CC-BY-SA 3.0
Verheugen (links) mit Hans Dietrich Genscher beim FDP-Bundesparteitag 1981

Günter Verheugen besuchte das Städtische Gymnasium Brühl, das er mit dem Abitur abschloss. Nach einem Volontariat bei der Neuen Ruhr Zeitung in Essen und der Neuen Rhein Zeitung in Köln (1963 bis 1965) studierte er von 1965 bis 1969 Geschichte, Soziologie und Politische Wissenschaft an den Universitäten Köln und Bonn.

Politische Karriere in der FDP

Ab 1967 war Verheugen Landesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten in Nordrhein-Westfalen. Unmittelbar nach seinem Studium wurde er 1969 Referatsleiter für Öffentlichkeitsarbeit im Bundesministerium des Innern unter Hans-Dietrich Genscher. Mit ihm wechselte er 1974 in das Auswärtige Amt. Bis 1976 war er dort Leiter des Arbeitsstabs Analysen und Information. Im Jahre 1977 wurde er Bundesgeschäftsführer der FDP. Der Mainzer Bundesparteitag wählte ihn 1978 zum Generalsekretär.

Politische Karriere in der SPD

Nach seinem Austritt wegen des Koalitionswechsels der FDP von der SPD zur CDU/CSU trat er noch im selben Jahr (1982) mit anderen prominenten linksliberalen FDP-Mitgliedern wie Ingrid Matthäus-Maier und Andreas von Schoeler der SPD bei.

Für die SPD saß er von 1983 bis 1999 im Deutschen Bundestag. Erst im Dezember 1982 war Günter Verheugen in den Unterbezirk Kulmbach der SPD aufgenommen worden, für die er bereits im März des folgenden Jahres im Wahlkreis 226 kandidierte. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt selbst hatte sich dafür eingesetzt, dass der bisherige Kulmbacher Bundestagsabgeordnete Philip Rosenthal auf eine weitere Kandidatur zugunsten Verheugens verzichtete.[1] Günter Verheugen errang zwischen 1983 und 1998 nie das Direktmandat in Kulmbach, sondern zog jedes Mal über die Landesliste in den Bundestag ein.[2] Von 1983 bis 1998 war er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, 1992 war er Vorsitzender des Sonderausschusses Europäische Union. Brandt machte Verheugen zudem 1987 zum Chefredakteur der Parteizeitung Vorwärts.[3]

Neben weiteren Ämtern innerhalb und außerhalb der SPD war er von 1994 bis 1997 der für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag.

Unter Rudolf Scharping war er von August 1993 bis September 1995 Bundesgeschäftsführer der SPD; ihm folgte Franz Müntefering.[4] Seit 1997 ist er Vorsitzender des Komitees für Frieden, Sicherheit und Abrüstung der Sozialistischen Internationale.[5]

Nach der Bundestagswahl 1998, die zur ersten rot-grünen Koalition (Kabinett Schröder I) führte, wurde er Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer und blieb es bis Mitte September 1999, als er EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik wurde.

Mitglied der Europäischen Kommission

Verheugen wurde im September 1999 Mitglied der Europäischen Kommission, in der er zunächst für eine Amtszeit die Zuständigkeit für die Erweiterung der Europäischen Union innehatte. In seine Amtszeit fielen die Beitrittsverhandlungen mit den Staaten der EU-Osterweiterungsrunde 2004. Dabei setzte er sich auch für den EU-Beitritt der Türkei ein.

Verheugen war vom 22. November 2004 bis zum 9. Februar 2010 Kommissar für Unternehmen und Industrie der Kommission Barroso I und europäischer Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates. Er war in diesem Zeitraum auch stellvertretender Kommissionspräsident.

Verheugen verfügte als Kommissar nicht über ein Weisungsrecht in Bereichen der Industrie und Unternehmenspolitik gegenüber den anderen Kommissaren, wie dies der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ursprünglich vorgeschlagen hatte, um deutschen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der EU-Kommission nehmen zu können.

Zur Diskussion um das Demokratiedefizit der EU sagte Verheugen 2005:

„Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend.“

Allerdings schränkte er diese Sichtweise ein:

„Das große Missverständnis über Europa zeigt sich dann, wenn von der Europäischen Union verlangt wird, sie solle handeln wie ein Staat. Die EU ist aber kein Staat.“

Affäre und Abberufung

Verheugens eigene Amtsführung geriet indes unter den Verdacht der Ämterpatronage, als in der deutschen Presse Urlaubsbilder vom Sommer 2006 veröffentlicht wurden, die ihn „händchenhaltend“ und nackt am Strand von Litauen mit seiner langjährigen[6] Mitarbeiterin Petra Erler abbildeten, die er erst im April 2006 zu seiner Büroleiterin befördert hatte.[7] Im September 2007 wurde bekannt, dass Verheugen bereits seit 2005 ein Verhältnis mit Erler gehabt haben soll.[8] Am Tage darauf schlug Kommissionspräsident Barroso im Einvernehmen mit der deutschen Bundesregierung vor, die bisher von Verheugen wahrgenommene Zuständigkeit für den Bürokratieabbau an den CSU-Politiker Edmund Stoiber zu vergeben.[9] Erler blieb bis 2010 Verheugens Kabinettschefin.

Günter Verheugen (2019)

Weiteres Wirken

Nach seinem Rückzug aus der Europapolitik wurde Verheugen Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)[10] und Berater bei der von Dmytro Firtasch finanzierten Agentur zur Modernisierung der Ukraine (AMU).[11][12]

Im Zuge der Flüchtlingskrise in Europa 2015 verteidigte Verheugen die Kontrollen der ungarischen Regierung an der Schengen-Außengrenze zu Serbien.[13]

Er ist Mitglied des Kuratoriums des Instituts für europäische Partnerschaften und internationale Zusammenarbeit (IPZ) in Hürth.

Des Weiteren ist Verheugen im Kuratorium des Deutsch-Aserbaidschanischen Forums, einer regierungsnahen aserbaidschanischen Lobby-Organisation.[14]

Nach dem Votum zum Brexit des Vereinigten Königreichs aus der EU im Juni 2016 zeigte sich Verheugen schockiert und kritisierte die EU mit den Worten: „Es geht in der EU seit einiger Zeit alles schief, was schiefgehen kann. Wir erleben eine Serie von Rückschlägen in der europäischen Integration. Wir erleben eine Erosion des Gemeinschaftsgedankens.“[15]

Im Februar 2023 war Verheugen Erstunterzeichner der von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Petition Manifest für Frieden an Olaf Scholz, die sich im Kontext des Russischen Überfalls auf die Ukraine für Diplomatie und Verhandlungen und humanitäre Hilfe ausspricht, und gegen weiter „eskalierende Waffenlieferungen“ an die Ukraine, da ein lang andauernder Krieg unzählige weitere Menschen töte und traumatisiere, sowie aus Sorge vor einer Ausweitung zu einem Dritten Weltkrieg.[16] Im folgenden Monat wurde er Mitunterzeichner des von Peter Brandt und anderen initiierten Aufrufs Frieden schaffen!.[17]

Im August 2023 mahnte Verheugen an, Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland anzustreben. Um die großen, überlebensbedrohlichen Krisen der Menschheit zu bewältigen, müssten alle Kräfte konzentriert werden. Da könne man keinen „Staat ausschließen, weil einem die Zustände dort nicht gefallen“. Auch wenn Russland zweifelsfrei der Aggressor ist, habe der Krieg eine Vorgeschichte, die jedoch in unseren Medien weitgehend ausgeblendet werde. Er glaube, „dass die Option einer engen Kooperation mit der EU für Russland immer noch attraktiv“ sei. Schließlich sei auch Deutschland „nach 1945 wieder die Hand gereicht“ worden. In allen europäischen Ländern wachse die öffentliche Skepsis gegenüber der jetzigen Ukraine-Politik und auch die Mehrheit der Deutschen wünsche, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werde und man in Friedensverhandlungen eintrete.[18][19][20]

Auszeichnungen

Veröffentlichungen

  • (als Hrsg.): Das Wichtigste ist der Frieden. Dokumentation des Verteidigungspolitischen Kongresses der Freien Demokratischen Partei am 27./28. April 1979 in Münster. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1980, ISBN 3-7890-0541-X. (Schriften der Friedrich-Naumann-Stiftung)
  • Eine Zukunft für Deutschland. Verlag Gruenwald, München 1980, ISBN 3-8207-1652-1, mit einem Vorwort von Walter Scheel.
  • (als Hrsg. mit Helga Schuchardt): Das liberale Gewissen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1982. ISBN 3-499-15127-8.
  • Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP. Spiegel-Verlag, Hamburg 1984, ISBN 3-499-33054-7.
  • Apartheid. Südafrika und die deutschen Interessen am Kap. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1986, ISBN 3-462-01800-0.
  • (als Hrsg.): 60 plus. Die wachsende Macht der Älteren. Bund-Verlag, Köln 1994, ISBN 3-7663-2529-9.
  • Germany and the EU Council Presidency. Expectations and reality. Zentrum für Europäische Integrationsforschung, Bonn 1999, ISBN 3-933307-35-X.
  • Frankreich und Deutschland in einer erweiterten EU. Ed. Isele, Eggingen 2004, ISBN 3-86142-330-8.
  • Europa in der Krise. Für eine Neugründung der europäischen Idee. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, ISBN 3-462-03470-7.

Weblinks

Commons: Günter Verheugen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Ausgerechnet Kulmbach. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1982, S. 33 (online20. Dezember 1982).
  2. Deutscher Bundestag: Wahlkreis 226 Kulmbach. In: webarchiv.bundestag.de. 6. Februar 2007, abgerufen am 27. November 2016.
  3. Olaf Opitz: Scharpings General. Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen ist ein Sozialdemokrat der anderen Art. In: FOCUS Magazin. Nr. 21, 21. Mai 1994 (online [abgerufen am 27. November 2016]).
  4. Bundesgeschäftsführerin. SPD-Bundesgeschäftsführer seit 1972. In: spd.de. Archiviert vom Original am 26. Juli 2010; abgerufen am 27. November 2016.
  5. Referat PI 4 des Deutschen Bundestages: Verheugen Günter. In: webarchiv.bundestag.de. Abgerufen am 27. November 2016.
  6. Wolfgang Proissl: Die steile Karriere der Kabinettschefin ("Die Thüringerin arbeitet für Verheugen, seit dieser ab 1999 als Erweiterungskommissar…")
  7. Michael Scheerer: SPD stärkt Verheugen den Rücken. In: Handelsblatt. 23. Oktober 2006, abgerufen am 13. Februar 2015.
  8. Verheugen schon seit 2005 mit Petra Erler liiert. In: welt.de. 12. September 2007, abgerufen am 13. Februar 2015.
  9. Martin Winter, Brüssel: Europäische Kommission: Stoibers neuer Job als Antibürokrat (Memento vom 30. April 2008 im Internet Archive), Süddeutsche Zeitung vom 13. September 2007
  10. Eva Damm: Günter Verheugen • Kulturwissenschaftliche Fakultät. (Nicht mehr online verfügbar.) In: www.kuwi.europa-uni.de. Archiviert vom Original am 3. August 2016; abgerufen am 27. November 2016.
  11. AMU-Team beginnt Programm-Arbeit. In: ots.at. (ots.at [abgerufen am 27. November 2016]).
  12. Endlich neuer Job für Spindi. 3. März 2015 (oe24.at [abgerufen am 27. November 2016]).
  13. Dimitrios Georgoulis: Günter Verheugen im „Duell bei n-tv“. „Ungarn macht für uns die Drecksarbeit“. In: n-tv.de. 21. September 2015, abgerufen am 27. November 2016.
  14. Aserbaidschan-Forum muss in Lobby-Affäre prominente Abgänge verkraften – Unstimmigkeiten im Vorstand vom 25. Mai 2021.
  15. Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen nach dem Brexit: „Der Schock sitzt unglaublich tief“. In: Kölner Stadt-Anzeiger. Abgerufen am 26. Juni 2016.
  16. Change.org: Manifest für Frieden
  17. Ukraine-Krieg: „Nicht dem militärischen Denken unterwerfen“. In: NRZ. 7. April 2023, abgerufen am 8. April 2023.
  18. Günter Verheugen: Das Gemetzel muss beendet werden. Interview. In: Weser-Kurier. Silke Hellwig, 28. August 2023, abgerufen am 30. August 2023.
  19. Reinhard Bingener: Verheugen wirft Grünen „fundamentalistische Außenpolitik“ vor. Der langjährige SPD-Politiker und frühere EU-Kommissar Verheugen übt scharfe Kritik an der aktuellen Russlandpolitik – und zieht Parallelen zu 1945. In: FAZ. 29. August 2023, abgerufen am 30. August 2023.
  20. Stefan Luft: Stehen wir vor einer „Zeitenwende“ im Ukrainekrieg? Das offizielle Deutschland setzt wie der gesamte Westen weiter auf einen Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland. Doch die militärische Wirklichkeit macht diese Erwartung immer unwahrscheinlicher. In: Cicero. 27. August 2023, abgerufen am 30. August 2023.
  21. Bundeskanzler Anfragebeantwortung. (PDF; 6,59 MB) Parlament, 23. April 2012, abgerufen am 12. Juni 2017.

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