Fiktionalismus

Der Ausdruck Fiktionalismus bezeichnet in der neueren systematischen Philosophie einen Typ antirealistischer Positionen bezüglich bestimmter Objekte. Diese existieren nicht, sondern sind nur fiktiv.

Begriffsbestimmung

Fiktionalistische Positionen hinsichtlich eines Sachverhalts oder Gegenstands oder Typs von Objekten x kommen oft in folgendem überein:

  1. x existiert nicht tatsächlich
  2. Sätze über x sind so zu analysieren, dass sie die Existenz von x implizieren (sie gehen mit einer Existenzpräsupposition bezüglich x einher)
  3. stricte dicto sind Sätze über x daher falsch
  4. Sprecher akzeptieren Sätze über x
  5. Sprecher sind darin gerechtfertigt, Sätze über x zu akzeptieren, etwa aus pragmatischen Gründen
  6. in der Rede über x geht es daher gar nicht um „objektive Wahrheit“, sondern um „Fiktion

Fiktionalistische Positionen in der Ontologie bzw. Metaontologie

Die Ontologie erklärt, was es in der Realität gibt. Kontroversen bestehen beispielsweise bezüglich der Wahrmacher negativer Existenzaussagen, von Identitätsaussagen, von Aussagen propositionaler Einstellungen, von modaler Rede und fiktionaler Rede (etwa über Einhörner). Für alle diese Problemfälle wurden fiktionalistische Positionen verteidigt.[1]

Teilweise wurde auch ein metaontologischer Fiktionalismus bezüglich normaler Objekte vertreten, so etwa von Peter van Inwagen, Cian Dorr und Gideon Rosen.

Wahrheitstheoretischer Fiktionalismus

James Woodbridge hat einen generellen Fiktionalismus in der Wahrheitstheorie vertreten.

Auch Schopenhauers Willensphilosophie wurde als fiktionalistisch bezeichnet.[2]

Mathematischer Fiktionalismus

Auch eine Variante des Nominalismus bezüglich mathematischer Objekte wird als Fiktionalismus bezeichnet; zu den bekannteren Vertretern zählt Hartry Field.

Fiktionalismus in der Philosophie des Geistes

Auch werden beispielsweise Thesen der Form „Der freie Wille ist eine Illusion, aber es ist pragmatisch sinnvoll, an dieser Illusion festzuhalten.“ als fiktionalistisch bezeichnet.

So vertritt beispielsweise der Neukantianer Hans Vaihinger[3] einen pragmatischen Fiktionalismus, der z. B. die nicht beweisbare Willensfreiheit annimmt, weil sie für das Zusammenleben notwendig ist.[4]

Fiktionalismus der Moral (Metaethik)

Der Lebensphilosoph Friedrich Nietzsche vertritt einen Fiktionalismus insbesondere bezüglich der Moral.[5] Insgesamt stellt er die Philosophie unter den Primat des Lebens. Vorrangig müsse Wissen dem Leben und der Lebensbejahung dienen. Dazu seien auch Illusionen willkommen. Um sich über die Schrecken des Daseins hinweg zu trösten, brauche der Mensch den schönen Schein der Kunst. Ebenso sei zum Handeln ein „Umschleiertsein durch die Illusion“ notwendig.

Moderne Varianten eines metaethischen Fiktionalismus werden von Richard Joyce, Mark Kalderon, Daniel Nolan, Greg Restall und Caroline West vertreten.

Fiktionalismus in der Religionsphilosophie

Voltaires Bonmot „wenn Gott nicht existierte, wäre es notwendig, ihn zu erfinden“, kann als Fiktionalismus bezüglich des Theismus bezeichnet werden.[6]

Der amerikanische Pragmatist und Religionsphilosoph William James vertritt einen religiösen Fiktionalismus.[7] Eine Religionsphilosophie des „Als-ob“ findet sich bei Heinrich Scholz.

Fiktionalismus in der Wissenschaftstheorie

Pierre Duhem hat gezeigt, dass in der Vormoderne der Fiktionalismus bei der Beschreibung astronomischer Phänomene weit verbreitet und in der Astronomie der Scholastik die vorherrschende Denkweise war.[8] Edward Grant hat dies für die Zeit vor Nicolaus Copernicus bestätigt.[9]

Bas van Fraassen vertritt einen allgemeinen Fiktionalismus bezüglich wissenschaftlicher Theorien.

Literatur

  • Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Fiktion/Fiktionalismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1–4, Berlin 1994–1999 (IV, S. 427–463)
  • Astrid Wagner: Fiktion/ Fiktionalismus, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1999
  • Schwemmer, Oswald: Hans Vaihinger, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, 1996, Stuttgart, J.B. Metzler, S. 468

Anmerkungen

  1. Vgl. Matti Eklund
  2. Vgl. Arnold Kowalewski: Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer, in: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik (Leipzig), 1919; Bd. 1, S. 518–595.
  3. Vgl. u. a. Hans Vaihinger: Philosophie des Als Ob; 1911; Weiterführendes zu Vaihinger siehe bei Hans Vaihinger#Literatur.
  4. Vgl. dazu Arthur Fine: Fictionalism, Midwest Studies in Philosophy, 18 (1993), 1-18.
  5. Vgl. etwa Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, 1872; DelNegro, Walter: Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie Friedrich Nietzsches; München 1923; Heintel, Erich: Wirklichkeit, Wahrheit und Wert bei Nietzsche; Wien 1935; Nadeem Hussain: Honest Illusion: Valuing for Nietzsche's Free Spirits, in Brian Leiter, N. Sinhababu (Hgg.): Nietzsche and Morality, Oxford: Oxford University Press 2007
  6. So etwa bei Matti Eklund
  7. Vgl. William James: Der Wille zum Glauben, deutsch von Dr. Th. Lorenz; 1899 (englisch: The Will to Believe - 1897)
  8. Le Système du Monde; histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, Paris: A. Hermann 1913, engl. Übers. To Save the Phenomena: An Essay on the Idea of Physical Theory from Plato to Galileo, Chicago: University of Chicago Press 1969.
  9. u. a. in Late Medieval Thought, Copernicus, and the Scientific Revolution, in: Journal of the History of Ideas 23 (1962), 197-220; Scientific Imagination in the Middle Ages, Perspectives on Science 12/4 (2004), 394-423; vgl. auch Benjamin Nelson: The Early Modern Revolution in Science and Philosophy: Fictionalism, Fideism and Catholic 'Prophetism, in: R.S. Cohen / M. Wartofsky (Hgg.): Boston Studies in the Philosophy of Science, Dordrecht 1968, 1-40

Weblinks