Feudalismus

Beeidigung Harald II von England als Vasall von Wilhelm I. (Teppich-Stickerei)
Aufbau des Feudalismus

Feudalismus (wie „feudal“ zu lateinisch feudum/feodum Lehen), auch Feudalsystem oder Feudalität genannt, bezeichnet in den Sozial-, Rechts- und Geschichtswissenschaften vor allem die Gesellschafts- und Wirtschaftsform des europäischen Mittelalters (6. bis 15. Jh.), doch bestand er mindestens bis ins 18. Jahrhundert.

Begriffsgeschichte

Der Begriff wurde in Frankreich im frühen Zeitalter der Aufklärung geprägt, durch Montesquieu 1748 bekannt gemacht und insbesondere von Voltaire erläutert. In der Französischen Revolution 1789 spielte er als Kampfbegriff zur Charakterisierung der früheren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine große Rolle. Im deutschsprachigen Raum kam der Ausdruck Feudalismus Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Später klassifizierte Karl Marx den Feudalismus als notwendige Vorstufe des Kapitalismus, woran sich die marxistische Geschichtswissenschaft insbesondere in der DDR[1], aber auch westliche Marxisten wie Perry Anderson orientierten. Doch auch die Annales-Schule in Frankreich benutzte den Begriff, z. B. Marc Bloch (La Société féodale, 1939/40).

Merkmale

Der Feudalismus ist ein militärisches, politisches und ökonomisch-soziales System: Ein (1) berufsmäßiger Kriegerstand ist in Treue einem Herrscher ergeben; (2) die Grundherrschaft ermöglicht den Kriegern ein arbeitsfreies Renteneinkommen in verschiedenen Formen; sie sind (3) lokale Herren der Bauern durch die Gerichtsbarkeit und umfassende Rechte. Es verbinden sich so das Lehnswesen und die Grundherrschaft.[2] Historisch entwickelte es sich Kernraum des Frankenreiches unter Karl dem Großen.[3]

Eine idealtypische feudale Gesellschaft kann durch folgende Merkmale beschrieben werden:

  • Ein Herrscher (König, Herzog) überlässt seinen militärischen Gefolgsleuten (Vasall) zu deren materieller Versorgung die Nutzung von Teilen seines Landes, einschließlich der darauf sesshaften Bewohner.
  • Das feodum ist ein zum Lehen (also ein im anfänglichen Grundprinzip nur zur Leihe) übertragenes beneficium, also eine Wohltat im Sinne eines Liegenschaftsvermögens, welches nach seiner Bodenbeschaffenheit sowie personellen Ausstattung (samt der damit einhergehenden baulichen und gerätschaftlichen Ausstattung) dazu geeignet und bestimmt ist, Erträge zum Unterhalt des Lehnsinhabers zu erwirtschaften.
  • Im Anschluss an die Lehensgüter entwickeln sich mit der Zeit herrschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten, die als Leibeigenschaft verrechtlicht werden und die den Bevölkerungsteil, der das Land bewirtschaftet (Bauern), von der gesellschaftlichen Organisation im Sinne einer staatlich-politischen Willensbildung ausschließen, während sie gleichzeitig nach oben hin, zum obersten Herrn, der Entstehung einer zentralen Staatsverwaltung entgegenwirken oder diese schwächen.

Streng genommen beinhaltet der Begriff Feudalismus daher zwei voneinander getrennte Dimensionen:

  1. das Verhältnis des obersten Herrn zur Kriegergruppe und deren Gefolgschaftstreue sowie
  2. die Herrschaftsverhältnisse der belehnten Gruppe nach unten zu den Bauern.

Die Produktion des Feudalismus war stark von der Naturalwirtschaft und schlechte Verkehrsverhältnisse geprägt. Die Mehrheit der Bevölkerung bestand aus Bauernfamilien. Sie waren aber nur teilweise Eigentümer des von ihnen bestellten Landes. Das meiste Land gehörte wenigen Grundherrn. Die meisten Bauern hatten schließlich den Status der Hörigkeit, sie waren also persönlich abhängig vom Grundherrn und unfrei.

Das bedeutet:

  • Sie waren an die Scholle (das zu bestellende Land) gebunden (glebae adscripti) und hatten nicht das Recht, sie zu verlassen, weil sie als Bestandteil der Wirtschaftsgüter des Lehnsgutes galten.
  • Sie waren der Rechtsprechung ihres Herrn unterworfen.
  • Sie schuldeten dem Grundherren Abgaben, sowohl in Form von Arbeitsleistungen (Fron) auf dem direkt vom Grundherren bestellten Land (Salland) als auch in Form von Naturalabgaben, die aus demjenigen Stück Land aufgebracht werden mussten, das sie selbst bewirtschafteten (Zehnt). Die Frondienste oder die Naturalabgaben konnten im Verlauf der Entwicklung auch durch Geldabgaben abgelöst werden.

Allerdings konnten die Herrenrechte auch in verschiedenen Händen sein, beispielsweise als getrennte Gerichts- und Grundherrschaft. Der Grundherr war gegenüber den Leibeigenen auch nicht vollkommen souverän, die Landnutzung zu gewähren oder zu entziehen. Wichtige Formen kennen ein erbliches Nutzungsrecht innerhalb der Familie des Hörigen, ein Nutzungsrecht auf Lebenszeit oder auf mehrere Jahre sowie als für die Hörigen unsicherste Form ein jederzeit widerrufbares Nutzungsrecht.[4]

Das Eigentum des Grundherrn war auch nur bedingt, denn er hatte es als Lehen von einem höhergestellten Adligen erhalten, dem er dafür Kriegsdienste schuldete und dessen Vasall er war. Allerdings konnten auch der König oder höhere Vasallen unmittelbar als Grundherren auftreten. Im Verlauf des Mittelalters nahmen mittelbare Grundherrschaften zu, während die Domänen oder Kammergüter als Reste unmittelbarer landesherrlicher Grundherrschaft verblieben.

Zum Feudalismus als Wirtschaftssystem gehört auch, dass ein Teil der Einnahmen des Feudalherrn wieder verteilt wurde, als patriarchalisches Almosen, als Geschenk an „treue“ Vasallen o. ä. Es war nämlich Teil der christliche Aufgaben des Feudalherrn, für einen Ausgleich und Gerechtigkeit zu sorgen, was mehr oder weniger erfüllt wurde. Das Interesse der Feudalherren an möglichst großen Überschüssen der bäuerlichen Haushalte bewirkte eine allmähliche Produktivitätssteigerung. Damit konnten mehr Menschen außerhalb der Landwirtschaft leben, insbesondere Handwerker an Herrensitzen und in Städten.[5]

Die Kette dieser abhängigen, mit Kriegsdienst verbundenen Lehen reichte bis zum König, dessen hoheitliche Domäne letzten Endes alles Land war. Als christlicher Herrscher unterlag er den kirchlichen Forderungen an ein sündenfreies Verhalten. Die politische Souveränität war nach unten hin quasi parzelliert und das Feudalsystem trug die Machtausübung, öffentliche Ordnung und Verwaltung bis hinab zur örtlichen Ebene. Der König hatte keinen direkten rechtlichen Zugang zu einem Großteil seiner Untertanen.

Hieraus ergibt sich eine bestimmte Entwicklungsdynamik:

  1. Aus der germanischen Zeit überlebte lange Zeit das dörfliche Gemeindeland, die Allmende. Die Zersplitterung der Souveränität erschwerte die Aneignung dieses Landes durch die Feudalherren und stärkte die Stellung der Bauern.
  2. Die relative Freiheit der Vasallen unterstützte die Existenz und Entwicklung von Städten. Die Stadtbürger beschäftigten sich mit Handwerk und Handel und erkämpften mit der Zeit höhere Autonomie (siehe auch unter Kommunen).
  3. Die Könige waren bestrebt, ihre Rechte über die reinen Feudalbeziehungen hinaus auszuweiten und direkte Beziehungen zu ihren Untertanen zu etablieren, zum Beispiel in Form der Steuererhebung. Dadurch gerieten sie in einen Gegensatz zum Adel.
  4. Die Kirche, seit der Spätantike ein Bestandteil des Staates, wurde im Mittelalter in das Lehenswesen integriert und an der Feudalherrschaft beteiligt. Daraus resultieren häufige Spannungen zwischen weltlichen und religiösen Herrschaften, die zu einem Riss in der feudalen Legitimität führen konnten. Ein Beispiel hierfür ist der Investiturstreit zwischen dem Papsttum und dem deutschen Kaiser, das von den Ottonen eingeführte Reichskirchensystem für seine Zwecke nutzte.

Einzelne Aspekte des Feudalismus konnten sich mancherorts für lange Zeit auch in Gesellschaften erhalten, die insgesamt nicht mehr feudal geprägt waren. So folgte das schottische Immobilienrecht noch bis 2002 einem als feudal tenure bezeichneten System, in dem etwa der Käufer eines Grundstücks formell Vasall eines Lehnsherrn wurde.[6]

Entstehung und Geschichte

Die feudale Gesellschaft entstand im Frühmittelalter durch eine Verschmelzung der sich auflösenden antiken Gesellschaft und der keltischen sowie germanischen Gesellschaften. Dabei dürfte das römische Kolonat mit seinen halbfreien Bauern, das vor allem außerhalb Italiens verbreitet war, eine wesentliche Quelle für das Feudalsystem gewesen sein. Möglicherweise blieb auch die weiter vorhandene antike Sklaverei bereits zu diesem Zeitpunkt oder später durch die Rezeption römischer Überlieferungen ein Vorbild. Auch die heute nicht mehr klar fassbare keltische Vasallität mag sich fortgesetzt haben. Die persönliche Gefolgschaft dürfte dabei das wesentliche von den Germanen übernommene Element gewesen sein, auch wenn es mit dem Patronat auch ein ähnliches römisches System gab.[7]

Nach der Völkerwanderung entstanden auf dem Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches mehrere germanische Königreiche. Die feudalen Institutionen entwickelten sich erst allmählich im Reich der Franken, als eine vormals zum Teil freie Bauernschaft durch ständige Kriege und Invasionen der Wikinger, Sarazenen, Magyaren usw. ökonomisch ruiniert und sich im 9. Jahrhundert zunehmend in die Abhängigkeit von den Feudalherren begab. Der Eingang in die Grundherrschaft bot eine Möglichkeit, die persönliche Teilnahme an kostspieligen Kriegszügen zu vermeiden. Andere Autoren sehen in der Schwächung der Ressourcen der Zentralgewalt durch die Invasionen und im Verlust ihrer Fähigkeit zur Durchsetzung allgemein anerkannter Rechte eine Hauptursache des Aufstiegs lokaler Herrschaften, welche nur in befestigten Wohnsitzen (Burgen) ihre Besitzrechte sichern und gegebenenfalls gewaltsam durchsetzen konnten.[8]

Anfangs dürfte der rechtliche Status der Bauern sich nicht wesentlich von dem der Freien unterschieden haben, im Verlauf der Jahrhunderte wurde die persönliche Freiheit aber immer weiter eingeschränkt.[9] Es gab aber auch gewaltsame Einverleibungen durch Feudalherren (beispielsweise im Stedingerkrieg).

  • Die Kernregion des europäischen Feudalismus lag im Norden des heutigen Frankreich, das dem idealtypischen Feudalsystem sehr viel mehr als jede andere Region entsprach. Hier existierte eine einzigartig dichte Lehnshierarchie mit vielfältigen Ebenen der Subinfeudation (Unterlehen).
  • In heute zu Deutschland zählenden Gebieten (ausgenommen bei den Sachsen) setzte sich der Feudalismus erst im 9. Jahrhundert durch. In der frühmittelalterlichen Form war die persönliche Abhängigkeit noch kennzeichnend, an deren Stelle später oft Geldabgaben traten.[10]
  • In Südeuropa (Spanien, Languedoc, Italien) überlebte die Antike stärker. So war verhältnismäßig sehr viel mehr Land originäres, nicht lehnsgebundenes Allod (Eigentum). Zudem blieben die Städte weit mehr als in Nordeuropa bedeutend und erlebten im Languedoc und in Italien bereits ab dem 10. Jahrhundert eine neue Blütezeit.
  • In Nordeuropa (Sachsen, England, Skandinavien) mit stärkeren Überresten der germanischen Gesellschaften dauerte es viel länger, bis sich die Leibeigenschaft etablierte, in Sachsen und teilweise in anderen deutschen Gebieten bis zum 12. Jahrhundert. Dort entwickelte sich das Feudalsystem nicht langsam, sondern wurde aus den fränkischen Kernlanden in Gänze „importiert“.[11] In Schweden konnte es sich nie vollständig durchsetzen, in Norwegen überhaupt nicht. In England wiederum verschwand die autonome Volksgerichtsbarkeit nie vollständig. Aus ihr entwickelte sich das Common Law.

Im Verlauf des Mittelalters und der Frühen Neuzeit veränderte sich der Feudalismus nicht nur aufgrund der immer stärkeren Rechtsstellung der Feudalherren gegenüber den Hörigen, sondern auch wegen der allgemeinen Entwicklung der Wirtschaft und des immensen Bevölkerungsanstiegs. Dazu gehören agrartechnische Verbesserungen (Dreifelderwirtschaft, Beetpflug, Kummet) und der weitreichende Landesausbau. Im Bereich des späteren Deutschland beschränkten sich die Wirtschaftsverhältnisse bis etwa 1150 weitgehend auf die Leistungen innerhalb der Villikation oder allenfalls in regionalen Bezügen. Daran knüpften erste Handelsbeziehungen im Rahmen der sich entwickelnden Geldwirtschaft an, meist auf regionale städtische Zentren bezogen. Von etwa 1470 an weitete sich der Handel mit Agrarprodukten hin zu europaweiten, später interkontinentalen Handelsströmen aus.[12] Mit zunehmendem Geldmangel der Zentralgewalten wurden diese zur Gewährung von Privilegien und Konzessionen im Austausch gegen Geld gezwungen, was ihre Stellung gegenüber den Feudalherren weiter schwächte.[13]

Refeudalisierung

Refeudalisierung bedeutet die Wiederherstellung einer feudalen Ordnung, also die Rückkehr zu originären Formen feudaler Organisation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert in Süd- und Südosteuropa vorkam.

Neo-Feudalismus

Neo-Feudalismus bedeutet die teilweise oder umfassende spontane Entstehung oder planmäßige Einführung feudalismus-analoger Organisationsformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mitten im Kapitalismus. Im Hinblick auf die Vereinigten Staaten vertreten dies Emmanuel Todd, Joel Kotkin[14] und Vladimir Shlapentokh, der diese Tendenz auch für Russland nach 1991 konstatiert. Die Sicherung von Monopolrenten für Unternehmen in Form von Privilegien, Lizenzen, Konzessionen, Subventionen oder der Bereitstellung öffentlicher Güter im Austausch gegen die Förderung von Politikern z. B. durch die Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen sei ein feudales Merkmal moderner politischer Systeme; Unternehmen fördern Politiker, die ihnen Monopol- oder Zusatzrenten versprechen, denen keine adäquaten Leistungen gegenüberstehen.[15]

Nationalsozialistische Herrschaft

Der amerikanische Historiker Robert Lewis Koehl nutzte  – orientiert am Feudalismuskonzept – den Begriff „Neofeudalismus“ zur Charakterisierung der nationalsozialistischen Herrschaft insbesondere im von Deutschland deutsch besetzten Osteuropa, wo die deutsche Herrschaft personalisiert war und örtliche Befehlshaber eine absolute Machtfülle besaßen. Hinweisend auf Gemeinsamkeiten zwischen den charismatischen Elementen mittelalterlicher und nationalsozialistischer Herrschaft versuchte er damit, die irrationalen Aspekte des Nationalsozialismus zu verdeutlichen. Koehls Annahme, diese feudalistischen Machtbeziehungen seien der atavistischen Ideologie des Nationalsozialismus entsprungen, folgt die neuere Forschung jedoch nicht.[16]

Funktionsverlust der Öffentlichkeit und des Staates

Angesichts aktueller Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert sprachen Sozialwissenschaftler wie Jürgen Habermas (1962) von einer „Refeudalisierung“ der Gesellschaft, indem „mit der Verschränkung und privatem Bereich nicht nur politische Instanzen gewisse Funktionen in der Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit, sondern auch umgekehrt gesellschaftliche Mächte politische Funktionen übernehmen“. Wie früher die Herrscher sich zur Schau stellten, so inszenieren sich Politiker in den Medien. Statt Mitsprache bleibt den Bürgern nur die Rolle von Bewunderern. Die kritische Öffentlichkeit entwickele sich zurück. Charakteristika seien unter anderem die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung, die bloße Inszenierung in der Öffentlichkeit, die Darstellung von Partikularinteressen von Personen oder Verbänden als Allgemeininteressen, der Ausschluss der Öffentlichkeit bei Entscheidungen von öffentlichem Interesse, soziale Herkunft als entscheidender Faktor für Wohlstand.[17]

Statusvererbung

Die allgemeine Fokussierung auf Geldvermögen und Status als äußerlichen Messgrößen des Erfolgs (statt auf Leistung) und deren zunehmende Vererbung ist für den Philosophen Rainer Forst ein weiterer Aspekt einer Refeudalisierung der Gesellschaft,[18]

„in der Reichtum ebenso wie Armut innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen ‚vererbt‘ werden, und zwar nicht nur durch die Weitergabe bzw. das Fehlen von materiellen Gütern, sondern – sozialisatorisch weit früher und tiefgreifender – insbesondere durch die soziale Determination von Bildungs- und Aufstiegschancen. So sind heute die Chancen eines Kindes aus einem Elternhaus mit hohem sozialem Status mehr als siebenmal größer, ein Studium aufzunehmen, als die eines Arbeiterkindes. Einem ‚Adel der Chancen‘ am einen, stehen am anderen Ende die Gruppen der Besitz- und Ressourcenlosen ohne Perspektiven gegenüber.“

Selbstrekrutierung der Managerklasse, Entkopplung von Privilegien und Leistung

Im Finanzmarktkapitalismus werden nach Auffassung des Hamburger Soziologen Sighard Neckel Einkommen und Macht nach vormodernen Mustern verteilt. „Während auf der einen Seite die Zahl derjenigen beständig wächst, die unter Bedingungen arbeiten, die eher an Leibeigenschaft und Sklaverei erinnern als an bürgerlich-kapitalistische Vertragsverhältnisse, werden in der Beletage die Privilegien nach ebenso vormodernen Methoden verteilt: Reichtum wird vor allem vererbt, eine ständisch organisierte Managerklasse schanzt sich exorbitante Gehälter zu.“[19] In die gleiche Richtung argumentiert der Historiker Olaf Kaltmeier für Lateinamerika, der hier im frühen 21. Jahrhundert eine Tendenz zur Refeudalisierung ausmacht.

Technofeudalismus

Ökonomen wie Cédric Durand und Yanis Varoufakis beschreiben die zunehmende Verflechtung von Big Tech und westlichen Staaten, die resultierende politische Beeinflussung sowie die vermeintliche Unabdingbarkeit ihrer Technologien als Technofeudalismus.[20][21]

Neoreaktionäre Bewegung

Die neoreaktionäre Bewegung strebt die Umwandlung von Staaten in neofeudale Aktiengesellschaften an, welche von Anteilseignern und einem Geschäftsführer beherrscht werden sollen.[22]

Feudalismus als universelle Form sozialer Interaktion

In Anlehnung an die formale Soziologie Georg Simmels sieht Vladimir Shlapentokh den Feudalismus nicht nur als spezifische Gesellschaftsformation, sondern als eine besondere Interaktionsform an, die über alle Epochen und Gesellschaftsformationen verbreitet war und auch in der Moderne nie ganz verschwand. Sie ergibt sich aus dem Bedürfnis nach Schutz und der Bereitschaft der Menschen, für diesen Schutz mit militärischer Gefolgschaft, Naturalien, Arbeitsleistung oder Geld zu zahlen. In dieser Perspektive können mittelalterliche Gefolgschaften, Systeme der politischen Patronage und Begünstigung im Tausch gegen Wohlverhalten, Abhängigkeitsstrukturen in der Netzwerkökonomie oder Schattenwirtschaft, Oligarchenherrschaften mit ihrem Klientelismus, aber auch hierarchisch organisierte Mafiabanden als feudale Interaktionsformen angesehen werden.[23] Ähnlich argumentiert der Politikwissenschaftler und Anthropologe Aaron B. Wildavsky, der die Existenz feudaler Strukturen auch im Reich der Kassiten, im Mittleren Reich Ägyptens und in Japan (bis zum 18. Jahrhundert) feststellt.[24] Shlapentokh und der Soziologe Joshua Woods[25] postulieren, dass heutige gesellschaftliche Strukturen, die vom Idealtypus des mittelalterlichen europäischen Feudalismus abweichen, nicht als dessen Varianten, sondern als Mischformen verschiedener Gesellschaftssegmente einschließlich verschiedener Wirtschafts- und politischer Herrschaftsformen (liberal-kapitalistisch, oligarchisch, tribalistisch, klientelistisch, autoritär usw.) betrachtet werden sollten, wie sie z. B. in den USA und in Russland nebeneinander existieren können. Die Fortexistenz und Neuentstehung feudaler Interaktionsmuster und Strukturen wie die Herausbildung von Politikerdynastien, Privatarmeen oder bewachte Wohnanlagen sei von Soziologen in der Tradition Max Webers oder Anthony Giddens, die sich einem Modernisierungs- oder Rationalisierungsansatz verschrieben haben, zu lange nicht beachtet worden. Der von Shlapentokh vertretene „segmentäre“ Ansatz widerspricht allen systemisch-holistischen und integrativen Gesellschaftsmodellen wie etwa dem von Talcott Parsons, der von der Verdrängung partikularer durch universelle Werte ausgeht, oder der Systemtheorie Niklas Luhmann. Hingegen erscheint die Annahme „hybrider“ Gesellschaften bzw. Ökonomien mit dem marxistischen Gesellschaftsmodell (etwa mit den Theorien Erik Olin Wrights über die Klassenspaltung) teilweise vereinbar, sofern dieses nicht von die gesamte Gesellschaft durchdringenden einheitlichen Produktionsverhältnissen ausgeht.[26]

Siehe auch

Literatur

  • Perry Anderson: Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaft (Originaltitel: Passages from antiquity to feudalism). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-10922-7.
  • Harold J. Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-28803-0.
  • Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft (Originaltitel: La societé féodale). Klett-Cotta, Stuttgart 1999, ISBN 3-608-91234-7.
  • Elizabeth A.R. Brown: Feudalism, social system, Encyclopaedia Britannica, London 2023.
  • Otto Brunner: „Feudalismus“. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte (= Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Jahrgang 1958, Nr. 10).
  • Jan Dhondt: Das frühe Mittelalter (= Fischer Weltgeschichte. Band 10). Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1968.
  • Georges Duby: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus (Originaltitel: Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-28196-8.
  • Natalie Fryde (Hrsg.): Die Gegenwart des Feudalismus (Originaltitel: The presence of feudalism). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-35391-X.
  • Simon Groth: Der Feudalismus oder die verschwundene Geschichte: das Mittelalter der DDR (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Nr. 252). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2025, ISBN 978-3-525-31156-1.
  • Alain Guerreau: L’avenir d’un passé incertain. Quelle histoire du moyen age au XXI siècle. Édition Le Seuil, Paris 2001, ISBN 2-02-049697-6.
  • Alain Guerreau: Fief, féodalité, féodalisme. Enjeux sociaux et réflexion historienne. In: Annales. Economies, sociétés, civilisations. Bd. 45 (1990), S. 137–166.
  • Friedrich-Wilhelm Henning: Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters. 9. bis 15. Jahrhundert. Ulmer, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-3092-0.
  • Hans Kammler: Die Feudalmonarchien. Politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung und Funktionsweise, Böhlau, Köln 1974, ISBN 3-412-02474-0.
  • Ludolf Kuchenbuch: Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975–2021. Dietz Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-320-02390-4.
  • Max Weber: Agrarverhältnisse im Altertum (3. Fassung). In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Band 1, 3. Auflage. Jena 1909, S. 52–188.
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Wiktionary: Feudalismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: feudal – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Simon Groth: Der Feudalismus oder die verschwundene Geschichte: das Mittelalter der DDR. Göttingen 2025, ISBN 978-3-525-31156-1.
  2. Otto Hintze: Feudalismus - Kapitalismus, Göttingen 1970
  3. Werner Rösener: Die Bauern in der europäischen Geschichte, Beck, München 1991, S. 49–56
  4. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Schöningh, 2003, S. 39.
  5. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Schöningh, 2003, S. 37 f.
  6. Andy Wightman: The Abolition of Feudal Tenure Act (2000). Abgerufen am 23. Oktober 2025.
  7. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schöningh, 2003. S. 43.
  8. Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft. Propyläen, Frankfurt/M. 1982
  9. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schöningh, 2003. S. 43.
  10. In der marxistischen Geschichtsforschung (DDR) wird die Erste Leibeigenschaft des Mittelalters von der östlich der Elbe verbreiteten Zweiten Leibeigenschaft nach 1500 unterschieden, während in anderen Teilen Deutschlands der Absolutismus die symbolische Aufladung des Landesherrn und Adels mit Macht demonstrativ vorantrieb, gleichzeitig aber den Staat von oben herab vereinheitlichte.
  11. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Schöningh, 2003, S. 44.
  12. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Schöningh, 2003, S. 53.
  13. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America. Pennsylvania State University, 2011, S. 42.
  14. Joel Kotkin: The Coming of Neo-Feudalism. 2020.
  15. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America. Pennsylvania State University, 2011, S. 43.
  16. Robert Koehl: Feudal Aspects of National Socialism (1960). In: Neil Gregor (Hrsg.): Nazism. Oxford UP, Oxford 2000, S. 183.
  17. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt am Main 1990, S. 336f.
  18. Rainer Forst: Die erste Frage der Gerechtigkeit | Ungleichheit - Ungerechtigkeit. 5. September 2005, abgerufen am 24. Oktober 2025.
  19. Neofeudalismus – Die Wiederkehr der Ständegesellschaft | Heinrich-Böll-Stiftung. In: Heinrich-Böll-Stiftung. 14. Juni 2016 (boell.de [abgerufen am 18. November 2017]).
  20. Cédric Durand: How Silicon Valley unleashed techno-feudalism: the making of the digital economy. Verso, London New York 2024, ISBN 978-1-80429-438-3.
  21. Yannis Varoufakis: Technofeudalismus: Was den Kapitalismus tötete. Verlag Antje Kunstmann, München 2024, ISBN 978-3-95614-604-6.
  22. Andrew Woods: Cultural Marxism and the Cathedral: Two Alt-Right Perspectives on Critical Theory, in: Christine M. Battista u. Melissa R. Sande (Hrsg.): Critical Theory and the Humanities in the Age of the Alt-Right, Basel 2019, S. 40.
  23. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America. Pennsylvania State University, 2011, S. 4 f.
  24. Aaron B. Wildavsky: Searching for safety. Transaction Books, New Brunswick 1988.
  25. Joshua Woods: Medieval Security in the Modern State. In: Space and Polity vol. 14 (2010), S. 251–269. DOI:10.1080/13562576.2010.532953
  26. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America. Pennsylvania State University, 2011, S. 5 f., 16.

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