Facies hippocratica

Die Facies hippocratica (lateinisch für Hippokratisches Gesicht, ein „nach Hippokrates benannter Gesichtsausdruck“ eines Sterbenden[1][2][3]) ist ein typischer Gesichtsausdruck bei sterbenden (moribunden) oder schwerst kranken Patienten.[4] Die bereits in der Antike beschriebene Facies hippocratica ist neben den sogenannten Kirchhofrosen ein bekanntes prognostisches Anzeichen für einen kurz bevorstehenden Tod, wenn diesem eine längere Agonie vorausging.[5] Früher nannte man die Facies hippokratica auch Facies decomposita und verglich sie mit der Facies cholerica (Choleragesicht).[6]

Bedeutung

Die Facies hippocratica resultiert aus einer Erschlaffung der Gesichtsmuskulatur und einer zunehmenden Drosselung der Durchblutung in den peripheren Körperteilen (Zentralisierung). Eine blasse Gesichtshaut, eingefallene Wangen und Augen und eine „spitze Nase“ sind Charakteristiken dieses Gesichtsausdruckes. Häufig findet man die Facies hippocratica bei einer schweren Bauchfellentzündung (Peritonitis abdominalis), weshalb diese besondere Form der Facies auch als Facies abdominalis[7][8] oder Facies peritonealis bezeichnet wurde.

Beschreibung

Beschrieben wird das „typische Gesicht des Moribunden mit spitzer, blasser kühler Nase, vorstehender, blasser Kinnpartie, eingefallenen Schläfen, kühlen Ohren, fahlgrauer Hautfarbe und kaltem Schweiß auf der Stirn.“[9] Früher war man deutlicher: „Kurz vor dem Tode nämlich tritt gewöhnlich in dem Gesicht eine auffallende Veränderung ein. Die Gesichtsfarbe wird plötzlich bleich und fahl, an Wangen und Lippen bläulich oder schwärzlich, die Stirnhaut glatt; die Weichtheile des Gesichts sinken ein; die Nase und das Kinn werden spitzig; die Augen sinken tiefer in ihre Höhlen, verlieren den Glanz und sehen stier durch die halbgeöffneten Augenlider.“[10] „Der Unterkiefer fällt herab, der Mund bleibt offen stehen, das obere Augenlid sinkt hernieder, die Nase wird spitz, die Nasenflügel fallen zusammen. Auch der Augapfel kann nicht mehr eingestellt werden, die Augenaxen stehen häufig parallel. Das Gesicht ist überdies meist mit kaltem, klebrigen Schweiss bedeckt.“[11] „Die Augen sind eingesunken infolge von Wasserverarmung.“[12] Außerdem wurden „eine fahle Gesichtsfarbe, eingesunkene halonierte Augen, ein ängstlicher Gesichtsausdruck“,[13] „vortretende Kiefer, brechende Augen, kühle und abstehende Ohren, ein fahles oder bleifarbenes Aussehen“[14] sowie „ein Verlust der Mimik[15] beobachtet. Das Totengesicht spiegelt die Gesichtsverzerrungen Sterbender wider.[16]

Herkunft

Die noch heute gebräuchliche und von frühen Ärzten wie Galenos eingeführte Bezeichnung geht auf die angeblich von Hippokrates verfasste Schrift Prognostikón (Προγνωστικόν, „Prognosen“) aus den hippokratischen Schriften zurück, wo dieser Gesichtsausdruck im zweiten Kapitel genau beschrieben wird.[17][18] Es wird hier auf verschiedene Anzeichen eingegangen, die einen nahen Tod vermuten lassen und sich an den Augen, Lippen, Ohren und der Gesichtshaut erkennen ließen. Auch der bisherige Verlauf der Erkrankung und mögliche andere Umstände werden hier neben dem Blick des Kranken in die Prognose einbezogen:

„Zuerst beobachte man das Gesicht des Kranken, ob es so wie bei Gesunden ist, besonders ob es so wie sonst aussieht, denn in diesem Fall stünde es am besten; ist es aber ganz gegenteiliger Art wie sonst, dann steht es am schlimmsten. Das wäre folgender Fall: Spitze Nase, tiefliegende Augen, eingesunkene Schläfen, kalte und geschrumpfte Ohren, zurückgebogene Ohrläppchen, spröde, gespannte und trockene Gesichtshaut, gelbe oder dunkle, bläuliche oder bleierne Farbe des ganzen Gesichts. Wenn nun das Gesicht im Beginn der Krankheit so aussieht und es nach den sonstigen Anzeichen noch nicht derart zu vermuten ist, so muß man fragen, ob der Kranke schlaflos war oder ob die Darmentleerungen sehr flüssig waren oder ob er etwas Hunger leide. Bejaht er irgendetwas davon, so hat man den Zustand für weniger schlimm zu halten, denn wenn das Gesicht infolge dieser Ursachen so aussieht, so entscheidet es sich binnen Tag und Nacht zum Besseren. Falls er hingegen all das verneint und die Krankheit auch in der genannten Zeit nicht zum Stillstand kommt, so muß man wissen, daß der Kranke dem Tode nahe ist.“

Hippokrates, Prognostikon[19]

Die Prognostik der Erkrankungen hatte in der früheren Medizin einen sehr hohen Stellenwert, insbesondere die Einsicht, wann ärztliches Handeln sinnlos sei und ob der hinzugezogene Arzt dies auch erkenne. In der Vorhersage eines baldigen Todes ersparte sich der Heilkundige den Vorwurf offensichtlichen Versagens, falls der Patient alsbald verstirbt. Die Kenntnis der genauen Anzeichen des Todes oder unheilbaren Krankheit war eine der Grundlagen für die vertrauensvolle Stellung des Arztes; sie wurde auch als „weltliche Version der Weissagungen“[20] konnotiert: „Prognostisches Gespür machte einen guten Eindruck und erhob den begabten Heiler über Quacksalber und Wahrsager“.[21]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Verlag Friedrich Arnold Brockhaus, 19. Auflage, 7. Band, Mannheim 1988, ISBN 3-7653-1107-3, S. 56.
  2. Peter Reuter: Springer Klinisches Wörterbuch 2007/2008. 1. Auflage. Springer-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-34601-2, S. 564.
  3. Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 193, Anmerkung 2 (zu Hippokrates, Prognostikon, Kapitel 1. 2. 25).
  4. Ludwig August Kraus: Kritisch-etymologisches medicinisches Lexikon. 3. Auflage. Verlag der Deuerlich- und Dieterichschen Buchhandlung, Göttingen 1844, S. 470. Digitalisat der Ausgabe von 1844, Internet Archive.
  5. Facies Hippocratica. In: Dietrich Wilhelm Busch, Carl Ferdinand von Gräfe, Christoph Wilhelm von Hufeland, Heinrich Friedrich Link, Johannes Müller: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften. Verlag von Veit et Comp., Berlin 1834, 11. Band (Encanthisma – Fallkraut), S. 701.
  6. Otto Roth: Klinische Terminologie. 10. Auflage, von Karl Doll und Hermann Doll, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1925, S. 168.
  7. Günter Thiele, Heinz Walter (Hrsg.): Reallexikon der Medizin und ihrer Grenzgebiete. Verlag Urban & Schwarzenberg, Loseblattsammlung 1966–1977, 3. Ordner (F–Hyperlysinämie), München/ Berlin/ Wien 1969, ISBN 3-541-84005-6, S. F 8.
  8. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 268. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin/ Boston 2020, ISBN 978-3-11-068325-7, S. 512.
  9. Günter Thiele, Heinz Walter (Hrsg.): Reallexikon der Medizin und ihrer Grenzgebiete. Verlag Urban & Schwarzenberg, Loseblattsammlung 1966–1977, 3. Ordner (F–Hyperlysinämie), München/ Berlin/ Wien 1969, ISBN 3-541-84005-6, S. F 8.
  10. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände - Conversations-Lexikon, Verlag Friedrich Arnold Brockhaus, 11. Auflage, 7. Band, Leipzig 1866, S. 939 f.
  11. Albert Eulenburg (Hrsg.): Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 2. Auflage, 1. Band, Verlag Urban & Schwarzenberg, Wien/ Leipzig 1885, S. 220.
  12. Hans Julius Wolf: Einführung in die innere Medizin. 7. Auflage, VEB Georg Thieme Verlag, Leipzig 1960, S. 387.
  13. Alexander von Domarus, Hans Freiherr von Kress: Grundriss der inneren Medizin. 22. Auflage, Springer-Verlag, Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1957, S. 409.
  14. Herbert Volkmann (Hrsg.): Walter Guttmann: Kurt Hoffmann: Medizinische Terminologie. 35. Auflage, Verlag Urban & Schwarzenberg, München/ Berlin 1951, Spalte 316.
  15. Duden: Wörterbuch medizinischer Fachbegriffe. 10. Auflage. Dudenverlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-411-04837-3, S. 293.
  16. Wilhelm Kühn: Neues medizinisches Fremdwörterbuch. 3. Auflage, Verlag von Krüger & Co., Leipzig 1913, S. 50.
  17. Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin. 16. Auflage. Ullstein Medical Verlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-86126-126-X, S. 604.
  18. T. E. Page (Hrsg.): Hippocrates. With an english translation by W. H. S. Jones. Volume II Prognosticon. London / Cambridge 1923, S. 8–15.
  19. Zitiert nach Henry E. Sigerist: Der Arzt in der griechischen Kultur. Zürich 1963, S. 58.
  20. Roy Porter: Die Kunst des Heilens. Spektrum, Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 2003, ISBN 3-8274-1454-7, S. 62.
  21. T. E. Page (Hrsg.): Hippocrates. Volume II Prognosticon. London / Cambridge 1923, S. 6–9.