Emetophobie

Klassifikation nach ICD-10
F40.2Spezifische (isolierte) Phobien
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Emetophobie (von altgriechisch ἐμέεινeméein, deutsch ‚erbrechen‘, ἔμετοςémetos, deutsch ‚Erbrechen‘, und φόβοςphóbos, deutsch ‚Furcht‘) ist eine phobische Erkrankung, bei der der Patient eine oftmals unerklärliche, irrationale Angst vor jeglicher Art des Erbrechens hat. Gemäß der Klassifikation nach ICD-10 handelt es sich um eine spezifische Phobie.

Typisches Symptom ist die Angst

  • sich selbst zu übergeben, unabhängig davon, ob alleine oder in der Anwesenheit anderer
  • miterleben zu müssen, wie andere Personen oder Tiere sich übergeben
  • vor jeglicher Konfrontation mit dem Thema, z. B. durch Medien oder in Gesprächen

Erscheinungsbild

Der Beginn der Störung liegt oft in der Kindheit.[1] Ein wesentliches Merkmal ist ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten gegenüber gefürchteten Situationen und Reizen. Die Forschergruppe um Lipsitz berichtete, dass 62 % der befragten Emetophobiker soziale Einbußen in Kauf nahmen, ca. 20 % der Betroffenen Probleme mit der Arbeitswelt hatten, 9 % Schwierigkeiten in der Schule hatten und 70 % berichteten eine Beeinträchtigung der Freizeitaktivitäten. Häufig meiden die Betroffenen den Kontakt z. B. mit Kindern oder schwangeren Frauen, da diese in den Augen eines Emetophobikers eine hohe Neigung zum Erbrechen haben. Drei Viertel der weiblichen Betroffenen vermeiden aus diesem Grund eine Schwangerschaft.[1]

Das Vermeidungsverhalten der Betroffenen führt häufig zu sozialer Isolation. Verabredungen werden oft unverbindlich belassen oder auch kurzfristig abgesagt, manchmal durch Ausreden aus Scham vor der eigentlichen Ursache. Betroffene leiden oft an einem geringen Selbstwertgefühl und fühlen sich nicht verstanden. In schweren Fällen wird die eigene Wohnung kaum noch verlassen, selbst im Supermarkt um die Ecke einkaufen zu gehen, gestaltet sich als fast unüberwindbares Hindernis. Für Angehörige ist diese Erkrankung nur schwer nachvollziehbar.[2]

Das Essverhalten ist bei vielen Betroffenen gestört. Drei Viertel der Befragten einer Studie[1] gaben an, dass sie auf eine vorsichtige Art essen, bzw. nur bestimmte Lebensmittel zu sich nehmen und/oder bestimmte Rituale rund um das Essen pflegten. So kann die Angst vor verdorbenen Lebensmitteln zu exzessivem Waschen oder wiederholtem Überprüfen der Haltbarkeit der Lebensmittel führen. Auch Restaurantbesuche werden deshalb oft gemieden.

Neben der beschriebenen Angst und dem Vermeidungsverhalten kommen häufig zahlreiche körperliche Begleitsymptome wie anhaltende Übelkeit hinzu, sowie evtl. Bauchschmerzen, Durchfall, Reizmagen, Reizdarm, Sodbrennen, Erbrechen, Schwindel, schüttelfrostähnliches Zittern, Ohnmachtsgefühl (oft ausgelöst durch lange Phasen des Nichts-Essen), weswegen eine Emetophobie auch von Ärzten oft nicht erkannt und falsch diagnostiziert wird.[1][2] Die ängstliche Erwartung gastrointestinaler Symptome führt zu einer erhöhten Aufmerksamkeit auf Anzeichen einer möglichen Übelkeit.[3] Die Übelkeit – meist ohne körperliche Ursache – ist bei über 80 % der Betroffenen anzutreffen.[4]

Diagnose

Die Diagnose einer Emetophobie wird durch ihre mangelnde Bekanntheit erschwert.[5] Mit dem „Emetophobia Questionnaire (EmetQ-13)“ liegt ein englischsprachiger Diagnostikfragebogen vor.[6] In Anlehnung an die klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 der WHO[7][8] sind zur Diagnose einer spezifischen Phobie folgende Symptome notwendig:

  • Die Angst ist stark ausgeprägt und besteht seit langer Zeit.
  • Die Person ist sich bewusst, dass diese Angst übertrieben, also unangemessen ist.
  • Die phobischen Situationen werden gemieden oder nur unter Angst oder starkem Unbehagen ertragen (Vermeidungsverhalten).
  • Die Angst führt zu einer deutlichen Einschränkung der beruflichen, schulischen oder sozialen Aktivitäten bzw. der Lebensführung.

Die latente oder akute Angst kann sich in Herzrasen, Schweißausbrüchen, Realitätsverlust, Beklemmungsgefühlen, Schwindelanfällen äußern. Das Vermeidungsverhalten bezieht sich auf das Erbrechen und damit typischerweise auf öffentliche Orte und Veranstaltungen oder bestimmte Lebensmittel. Daraus resultieren häufig gravierende soziale Einschränkungen.

Im ICD-10[8] ist die Emetophobie abzugrenzen von der Nosophobie bzw. der Hypochondrie. Das vermeidende Ernährungsverhalten der Betroffenen kann zu Untergewicht führen und zur Fehldiagnose einer Anorexie verleiten. Häufig wird neben der Emetophobie eine Depression diagnostiziert.[2]

Häufigkeit

Prävalenzschätzungen liegen zwischen 1,7 und 3,1 % für Männer und zwischen 6 und 7 % für Frauen.[9][10] Mehrere Studien zeigen einen deutlich höheren weiblichen Anteil unter den Betroffenen.[1][11][12]

Ursache

Über die Entstehung einer Emetophobie existieren unterschiedliche Theorien. Es ist jedoch keine davon wissenschaftlich ausreichend belegt. Es kann aber zwischen prädisponierenden und auslösenden Faktoren unterschieden werden. Die niederländische Forschergruppe stellte etwa bei Patienten mit Emetophobie eine erhöhte Ekelneigung fest.[12] Weiters wurde eine starke Neigung zum Somatisieren[3] und eine erhöhte Angst vor Kontrollverlust[13] untersucht – allerdings lässt sich die Entstehung der Emetophobie damit nicht ausreichend erklären.

Die meisten Betroffenen können über ein Ereignis berichten, das sie als Auslöser wahrnehmen.[2] In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein intensives Erlebnis mit dem Erbrechen. Es wird daher über traumatisierende Erlebnisse im Zusammenhang mit Übelkeit und Übergeben diskutiert, wie zum Beispiel eine schwere Magen-Darm-Grippe im Kindesalter. Ein breiter angelegtes Erklärungsmodell bietet das bio-psycho-soziale Modell, das neben prädisponierenden Risikofaktoren auch Auslöser und aufrechterhaltende Faktoren postuliert und die biologische, psychologische und soziale Ebene berücksichtigt. Die Interaktion dieser Faktoren in bestimmten Phasen der Entwicklung im Kindesalter stellt einen möglichen Erklärungsansatz dar.[14]

Therapie

Wie bei allen krankheitswertigen Phobien wird auch bei Emetophobie eine psychotherapeutische Behandlung empfohlen. Die aktuelle S3-Behandlungsleitlinie[15] der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) empfiehlt bei spezifischen Phobien verhaltenstherapeutische Psychotherapiemethoden.[16]

Literatur

  • Michael Stefan Metzner: Mein Köpfchen sagt: „Ich muss erbrechen!“ Mit Achtsamkeit aus der Emetophobie. Ein Leitfaden für Betroffene und Therapeuten. Rhombos Verlag, 2020, ISBN 978-3-944101-87-3.
  • Yvonne Höller: Emetophobie – Die Angst vor dem Erbrechen. 3. Auflage. Rhombos Verlag, 2018, ISBN 978-3-941216-88-4.
  • AWMF Behandlungsleitlinie Angststörungen, Klassifikation S3, 2014

Weblinks

Wiktionary: Emetophobie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b c d e J. D. Lipsitz, A. J. Fyer, A. Paterniti, D. Klein: Emetophobia: Preliminary Results of an Internet Survey. In: Depression and Anxiety, 2001, Ausgabe 14, S. 149–152.
  2. a b c d Y. Höller: Emetophobie – Die Angst vor dem Erbrechen. 3. Auflage Rhombos-Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-941216-88-4.
  3. a b M. J. Boschen: Reconceptualizing emetophobia: a cognitive-behavioural formulation and research agenda. In: Journal of Anxiety Disorders. Band 21, Nr. 3, 2007, S. 407–419.
  4. Y. Höller, M. van Overveld, H. Jutglar, E. Trinka: Nausea in specific phobia of vomiting. In: Behavioral Sciences (Basel), 2013, 3(3), S. 445–458.
  5. K. Nigbur, A. Bohne, A. L. Gerlach: Emetophobie – pathologische Angst vor Erbrechen: Eine Internetstudie. Psychologisches Institut I, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster 2007.
  6. Mark J. Boschen, David Vealec, Nell Ellisonc, Tamara Reddella: The emetophobia questionnaire (EmetQ-13): Psychometric validationof a measure of specific phobia of vomiting (emetophobia). (PDF) In: The Journal Of Anxiety Disorders (27). Elsevier, 2013, abgerufen am 26. Juli 2017 (englisch).
  7. WHO, (1991/1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 1./2. Auflage. Huber, Bern.
  8. a b Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision. WHO, 2000.
  9. H. C. Philips: Return of fear in the treatment of a fear of vomiting. In: Behaviour Research and Therapy. 1985, 23(1), S. 45–52.
  10. W. J. P. J. van Hout, P. O. Lansink, T. K. Bouman: De fenomenologie en comorbiditeit van emetofobie (angst voor overgeven). In: Gedragstherapie. 2005, 38, S. 49–64.
  11. D. Veale, C. Lanbrou: The Psychopathology of Vomit Phobia. In: Behavioural and Cognitive Psychotherapy. 2006, 34(2), S. 139–150.
  12. a b W. J. M. van Overveld, P. J. De Jong, M. L. Peters, W. J. P. J. van Hout, T. K. Bouman: An internet-based study on the relation between disgust sensitivity and emetophobia. In: Journal of Anxiety Disorders. 2008, 22(3), S. 524–531.
  13. A. L. Davidson, C. Boyle, F. Lauchlan: Scared to Lose Control? General and Health Locus of Control in Females With a Phobia of Vomiting. In: Journal of Clinical Psychology. 2008, 64(1), S. 30–39.
  14. E. A. Klonoff, S. M. Knell, J. W. Janata: Fear of Nausea and Vomiting: The Interaction Among Psychosocial Stressors, Development Transitions and Adventitious Reinforcement. In: Journal of Clinical Child Psychology. 1984, 13(3), S. 263–267.
  15. Behandlungsleitlinie Angststörungen. AWMF, 15. April 2014, abgerufen am 26. Mai 2017.
  16. K. Rink: Kognitive Verhaltenstherapie bei phobischer Angst vor dem Erbrechen. In: Psychotherapeut, 2006, 51, S. 223–228.