Dschazīra

Die Dschazira im Nahen Osten
Die Dschazira in Nordostsyrien zwischen Tell Brak und Nusaybin an der türkischen Grenze. Getreide wächst hier im Regenfeldbau. Im Sommer weiden Schafe und Ziegen die Stoppelfelder ab. Juni 2005

Die Dschazīra (arabisch الجزيرة al-Dschazīra, DMG al-Ǧazīra ‚die Insel‘, heute häufig auch al-Dschazīra al-Furātīya / الجزيرة الفراتية /‚die Euphrat-Insel‘) ist eine Kulturlandschaft im Nordwesten des Irak und im Nordosten Syriens. Andere Schreibweisen sind Dschasira und Dschesireh (z. B. bei Karl May; englisch Jazirah, französisch Djazirah und italienisch Gesireh). Das Gebiet stimmt mit Obermesopotamien überein und erstreckt sich vom Euphrat bis zum Tigris. Es entspricht so dem geographischen Begriff Mesopotamien in der antiken Literatur. Der Chabur entspringt in der Türkei und fließt auf 440 km durch diese Landschaft, bis er am Nordrand der Syrischen Wüste in den Euphrat mündet. Die größeren Städte der Dschazīra sind Mossul, Deir ez-Zor, Raqqa, al-Hasaka und Qamischli. Der westliche syrische Teil entspricht dem Gouvernement al-Hasaka. Die Hauptstadt der westlichen Region ist al-Hasaka. Der östliche irakische Teil ist identisch mit der irakischen Provinz Ninawa. Die Hauptstadt der östlichen Region ist Mossul.

Geographie

Berg Kokab bei al-Hasaka. August 2009

Die Region gehört zum Fruchtbaren Halbmond. Der westliche Teil von Nordmesopotamien (bis ar-Raqqa) wird als Diyar Mudar bezeichnet, der nördliche Teil als Diyar Bakr (dessen Namen sein Hauptort, die Stadt Diyarbakır, übernommen hat und dessen Nachfolger die gleichnamige Provinz ist) und der östliche Teil heißt Diyar Rabi’a. Diese Namen stammen von arabischen Stämmen her. Der Name al-Dschazīra wurde in den islamischen Quellen für die Benennung des nördlichen Teils Mesopotamiens benutzt und machte zusammen mit der Region Sawād den Irak (Al-‘arāgh) aus. Die Dschazīra wurde im Süden durch den Dschabal Sindschar begrenzt, aber die westlichen und östlichen Grenzen scheinen in der Zeit vor den Abbasiden variabel gewesen zu sein und schlossen manchmal Westsyrien und Adiabene im Osten ein.

Dschazīra wird als Flachland beschrieben und steht landschaftlich im Kontrast zur syrischen Wüste und dem tiefer liegenden Zentralmesopotamien. So gibt es in Zentralmesopotamien eine der größten Salzwüsten der Welt. Weiter südlich von Mossul bis Basra gibt es eine Sandwüste, die der Rub al-Chali ähnelt. Die Region wurde in den letzten Jahren von Dürren geplagt.

Geschichte

Frühe Geschichte

Teile der Dschazīra gehörten im PPNB zu der Region, in der erstmals die Pflanzen und Tiere domestiziert wurden, die auch nach der Kaltzeit bei der Besiedelung Europas mitgenommen wurden. Nordmesopotamien war das Herzstück des antiken Assyriens und eine wirtschaftlich gedeihende Region mit verschiedenen landwirtschaftlichen Produkten wie Früchten und Getreide. Es besaß ein produktives Fertigungssystem für Lebensmittel und Bekleidung. Die Position der Region an den Grenzen zum sassanidischen und byzantinischen Reich machte es später zu einem wichtigen Wirtschaftszentrum. Diese Vorteile bestanden auch noch, als Muslime Teile des byzantinischen Anatoliens erobert hatten. Die Dschazīra umschloss die damaligen sassanidischen Provinzen Arbayestan, Nisibis und Mossul.

Islamische Reiche

Die Dschazira in frühislamischer Zeit, mit den drei Haupteinteilungen: Diyar Mudar, Diyar Bakr und Diyar Rabi'a

Die arabische Eroberung der Dschazīra erfolgte zur Zeit des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Chattāb (634–644) im Wesentlichen durch den Prophetengefährten (Sahāba) ʿIyād ibn Ghanm (gest. 641). Er wurde entweder durch ʿUmar oder durch Abū ʿUbaida ibn al-Dscharrāh mit diesem Unternehmen beauftragt.[1] Die Araber führten die ehemalige Verwaltung unverändert weiter mit der Ausnahme, dass sie jetzt bei den Nichtmuslimen die Dschizya-Steuer erhoben. Nichtmuslime hatten außerdem die Muslime mit einem monatlichen Betrag an Getreide und Pflanzenöl zu unterstützen.[2] Zur Zeit Muʿāwiyas (Gouverneur Syriens und späterer Kalif und Gründer der Umayyadendynastie), wurde die Verwaltung der Dschazīra in die Verwaltung Syriens integriert. Während der frühen islamischen Reiche wurde die Verwaltung mit der von Armenien geteilt.

Der Wohlstand der Region und seine hohen landwirtschaftlichen und fertigungstechnischen Erträge machte es zu einem Streitobjekt verschiedener lokaler Herrscher. Mehrere Eroberer versuchten vergeblich, die verschiedenen Städte der ehemaligen sassanidischen Provinzen und die kürzlich eroberte byzantinische Provinz Mesopotamien unter einer Einheit an sich zu binden.

Aber auch die spätere Führungsmacht der Muslime in Bagdad, namentlich die Abbasiden, wollten die Dschazīra unter ihrer direkten Kontrolle haben. Denn zu der Zeit war die Dschazīra auch eine der steuerlich ergiebigsten Provinzen.

Während der frühen Geschichte des Islams war die Dschazīra ein Zentrum der Charidschitenbewegung und musste so andauernd von den Kalifen unterworfen werden. Später etablierten die Hamdaniden, Nachfolger der Charidschiten, im neunten Jahrhundert einen autonomen Staat in der Dschazīra und Nordsyrien. Das Verschwinden der Hamdaniden brachte die Region wieder unter die nominelle Herrschaft der Kalifen in Bagdad, während die echte Herrschaft in den Händen der Buyiden lag.

Türkische Reiche

Nachdem sie die Herrschaft der Buyiden beseitigt hatten, übernahmen die Seldschuken im 11. Jahrhundert die Macht. Zwischenzeitlich war auch das Byzantinische Reich unter der Makedonischen Dynastie in Randbereiche der Dschazīra vorgedrungen. Dieses Vordringen wurde in der Schlacht bei Manzikert beendet und teilweise rückgängig gemacht. Nach dem Tod des Sultans Malik Schah I. zerbrach das Seldschukenreich in kleinere Staaten. In dieser Zeit gründeten während des Ersten Kreuzzugs die Kreuzfahrer in der Region die Grafschaft Edessa. Aus einer der Herrschaften, die sich im Zerfall des Seldschukenreichs gebildet hatten, konnte der Atabeg von Mossul, Zengi, die Herrschaft über die Dschazīra gewinnen und 1144 die Herrschaft der Kreuzfahrer in Edessa beseitigen. Seine Nachfolger, die Zengiden gewannen auch die Herrschaft über das islamische Syrien, ihre Herrschaft dort wurde aber durch Saladin beseitigt, der die Dynastie der Ayyubiden begründete. Diese lösten bis 1250 auch die Zengidennebenlinien in der Dschazīra weitgehend ab. Die spätere Entwicklung der Region wurde durch den Aufstieg Mossuls und Nisibis', die beide wichtige kommerzielle und produzierende Zentren waren, bestimmt. An der Nordgrenze ihres Reichs rivalisierten die Ayyubiden mit den Rumseldschuken. 1258 eroberten die Mongolen unter Hülegü die Stadt Bagdad und drangen weiter nach Syrien vor, wo sie 1260 in der Schlacht an der Goliathsquelle gestoppt und über den Euphrat zurückgedrängt wurden. In der Folge herrschten Hülegüs Nachfolger, die Ilchane in der Dschazīra, später die Timuriden, die Qara Qoyunlu und die Aq Qoyunlu. Nachdem deren Herrschaft durch die Safawiden gestürzt worden war, griffen die Osmanen ein. 1514 besiegte der Osmanensultan Selim I. den Safawidenschah Ismail I. in der Schlacht bei Tschaldiran. Danach kam die Dschazīra unter die Kontrolle der Osmanen, blieb aber bis zum Vertrag von Qasr-e Schirin 1639 Vorstößen aus dem Iran ausgesetzt. Das Osmanische Reich verlor die Herrschaft im Ersten Weltkrieg.

Moderne Geschichte

Im Sykes-Picot-Abkommen hatten die Siegermächte die Dschazīra als französisches Einflussgebiet vorgesehen, letztlich wurde sie aber entlang der heutigen syrisch-irakischen Grenze geteilt. Tausende christliche Flüchtlinge aus der Türkei betraten die syrische Dschazīra nach dem Ersten Weltkrieg. Zusätzlich kamen 1933 nach der Unabhängigkeit des Irak 17.000 assyrische Christen und 7000 chaldäische Katholiken wegen Verfolgung und Massakern aus dem Nordirak in das französische Mandatsgebiet, wo sie am Chabur angesiedelt wurden (Chabur-Assyrer).[3]

Gegenwärtige Situation

Dschazīra ist eine der vier Erzdiözesen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Die anderen befinden sich in Aleppo, Homs und Damaskus.[3]

In den letzten 40 Jahren sind viele Christen aus diesem Gebiet ausgewandert. Wichtige Gründe waren die Dürren, die Auswanderung der Christen aus der Türkei und der Einstrom von Kurden aus dem Osten.[3] In neuester Zeit verstärkte sich dieser Trend durch den Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011.

Literatur

  • Ralph W. Brauer: Boundaries and Frontiers in Medieval Muslim Geography. Philadelphia 1995.
  • Julian Raby: The art of Syria and the Jazīra: 1100-1250. Oxford University Press, Oxford 1985.
  • Almut von Gladiss (Hrsg.): Die Dschazira. Kulturlandschaft zwischen Euphrat und Tigris. Museum für Islamische Kunst. Staatliche Museen zu Berlin 2006, ISBN 3-88609-557-6.
  • Michael G. Morony: Iraq after the Muslim Conquest. Princeton University Press, Princeton 1984; Neuauflage: Gorgias Press, New Jersey 2005, ISBN 1-59333-315-3
  • Nafi Nasser Al-Kasab: Die Nomadenansiedlung in der irakischen Jezira. Geographisches Institut, Tübingen 1966.
  • Ralph Hempelmann: Tell Chuēra, Kharab Sayyar und die Urbanisierung der westlichen Ǧazīra. Harrassowitz, Wiesbaden 2013.
  • G. Le Strange: The lands of the eastern caliphate. Cambridge University Press, Cambridge 1930.
  • J. G. Dercksen (ed.): Anatolia and the Jazira during the Old Assyrian period. Nederlands Institut voor het Nabije Oosten, Leiden 2008.

Einzelnachweise

  1. al-Balādhurī: Kitāb Futūḥ al-Buldān. Ed. Michael Jan de Goeje. Brill, Leiden, 1866, S. 172 (Textarchiv – Internet Archive).
  2. Al-Balādhurī: Kitāb Futūḥ al-Buldān. S. 125. – Dt. Übers. O. Rescher. S. 126 (Textarchiv – Internet Archive).
  3. a b c Ray J. Mouawad: Syria and Iraq – Repression: Disappearing Christians of the Middle East. In: The Middle East Quarterly. Band 8, Nr. 1, Winter 2001.

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Farmland in the Khabur Triangle area of the Jezirah, Syria.
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Al-Jazira region and its subdivisions.
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Kokab mountain in al hasakah, Syria