De medicamentis

De medicamentis („Über Heilmittel“) ist die umfangreiche Sammlung antiker und spätantiker Rezepte und anderer Heilmethoden, die Marcellus Empiricus zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. in lateinischer Sprache anlegte.

Bedeutung und Gliederung

Das Werk bietet einen unvergleichlichen Einblick in den medizinischen Wissensbestand der Spätantike. Bei dem großen Umfang des Textes und den Möglichkeiten, die seine hohe Stellung dem Autor bot, kann man von einem repräsentativen Querschnitt sprechen. Sehr alte Manuskripte, wie das damals 400 Jahre alte Scribonius Largus sind noch präsent und geachtet, wenn auch der Name des Autors falsch wiedergegeben wird. Andererseits sind mit dem Christentum, magischen Praktiken und gallischen Vorstellungen gänzlich neue Inhalte eingeflossen. Vieles ist anscheinend auch verloren gegangen, möglicherweise wegen der Abkehr von der griechischen Sprache. Der griechisch überlieferte Galen wird z. B. kaum erwähnt. Die großen Bibliotheken, in denen dessen Schriften vorlagen, befanden sich im römischen Ostreich und waren auch Marcellus Empiricus nicht zugänglich.[1]

Das Buch enthält eine große Menge von Rezepten und Heilmitteln gegliedert nach den zu behandelnden Krankheiten in der Anordnung 'von Kopf bis Fuß'. Dem Rezepteteil ist ein umfangreicher einführender Teil mit verschiedenen Inhalten vorangestellt.

Quellen und Bezüge

Marcellus Empiricus schreibt im Vorwort an seinen Sohn, dass er die beiden Plinii, Apuleius Celsus, weitere ältere und zeitgenössische, lateinisch schreibende Autoren, aber auch Landleute und einfache Menschen herangezogen habe. Die beiden Plinii sind mit Plinius dem Älteren und der späteren Kompilation Medicina Plinii zu identifizieren. Apuleius Celsus wird offensichtlich mit dem Medizinautor Scribonius Largus verwechselt, dessen Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfasste Compositiones in weiten Teilen übernommen werden. Die weiteren genannten Autoren sind nicht zu identifizieren.[2]

Scribonius Largus

Eine wesentliche Quelle sind die zu diesem Zeitpunkt bereits knapp 400 Jahre alten Compositiones des Scribonius Largus. Die Rezepte stehen meist am Anfang eines jeden Kapitels. Nur in acht Kapiteln gibt es keine Compositiones. Das liegt teils an einer anderen Aufteilung der Krankheiten, teils daran, dass Scribonius Largus das Problem nicht behandelt hat, wie z. B. Marcellus Empiricus VII, Capillo nigrando et incrispando (= Schwarzfärben und Kräuseln der Haare). Von Compositiones 163–221 – hauptsächlich Mittel gegen Vergiftungen und Pflaster, die Scribonius Largus dem Bereich des Chirurgen zugeordnet hat – besteht eine große Lücke. Auch die Rezepte gegen Epilepsie, Wassersucht und Gürtelrose fehlen, da Marcellus Empiricus diese Krankheiten nicht behandelt.

Die Rezepte werden weitgehend wortgetreu – bis auf Änderungen, die sich durch die Weiterentwicklung der lateinischen Sprache ergaben – abgeschrieben. Auch die exakten Mengenangaben werden übernommen.

Medicina Plinii

393 Rezepte aus der damals etwa 100 Jahre alten Medicina Plinii lassen sich in De medicamentis nachweisen.[3] Lediglich in fünf Kapiteln fehlt jedes Zitat der Medicina Plinii. Allerdings bleiben von 3, 2 an große Teile unzitiert. Dabei handelt es sich schwerpunktmäßig – wie bei Scribonius Largus – um Tierbisse, Vergiftungen, Epilepsie, Wassersucht und Gürtelrose.
Die kurzen Rezepte werden auseinandergerissen, über die Kapitel verteilt und nur selten wörtlich zitiert. Die Medicina Plinii hat einen großen Anteil an Volksglaube und Dreckapotheke, den Marcellus Empiricus übernimmt: die grüne, lebende Eidechse, die an der Schlafzimmertür aufgehängt wird (Marcellus Empiricus XXIII, 50 – Medicina Plinii 2, 13), der Mäusemist (Marcellus Empiricus XXVI, 14 – Medicina Plinii 2, 18), das Blut einer in Stücke gerissenen Fledermaus (Marcellus Empiricus XXVII, 83 – Medicina Plinii 2, 11) usw. kommen so in das Medikamentenbuch.

Plinius der Ältere

Über die Zitierung durch die Medicina Plinii hinaus finden sich 254 Hinweise auf die Bücher 20 bis 32 der Naturgeschichte des älteren Plinius,[3] wobei sich nicht ermitteln lässt, ob der Autor die Stellen direkt oder über Zwischenquellen übernommen hat. Meist handelt es sich um kurze Behandlungshinweise ohne Mengenangaben, wie z. B. Marcellus Empiricus XXVI, 12:
(gegen Beschwerden der Harnblase) „…ein kleiner Stein, der sich in der Harnblase eines Hahn oder im Magen einer Ringeltaube findet, zerrieben und in das Getränk gestreut wird.“
Dies findet sich fast wortgleich in der Naturgeschichte 30, 67.

Weitere Quellen

Durch die behandelten Quellen lassen sich weniger als die Hälfte des Textes abdecken. Die übrigen verwendeten Texte sind im Laufe der Zeit verloren gegangen, zum Teil handelt es sich vielleicht auch um mündliche Überlieferung. Auffällig ist der große Anteil magischer Praktiken, von Amuletten und Beschwörungen, wie z. B. die Schwundformel
SICYCVMA CVCVMA VCVMA CVMA VMA MA A (Marcellus Empiricus X, 34).[4]

Christliche Bezüge

Als kaiserlicher Beamter war Marcellus Empiricus mit großer Wahrscheinlichkeit Christ. Spuren dieses Glaubens finden sich im Werk aber nicht sehr häufig, da er ja mit seinen Quellen weit in die vorchristliche Zeit zurückgeht.
Eindrucksvoll ist die Darstellung christlicher Denkart im Vorwort an seine Söhne:
„Die Wohltaten dieses Wissens sollt Ihr in der Wechselseitigkeit menschlicher Liebe mit allen Kranken … sogar mit Fremden und Armen teilen, da ja Barmherzigkeit … vor Gott angenehmer und vor den Menschen lobenswert ist.“[5]
Häufig wird Iatromagie mit Iatrotheologie vermischt. So in Marcellus Empiricus XXV, 13, wenn ein Heilkraut beim Pflücken besprochen wird:
„Terram teneo, herbam lego, (in nomine Christi,)“
„Ich halte Erde, ich pflücke das Kraut, (im Namen Christi,)“[6]

Zeugnisse gallischer Sprache

Das medizinische Kompendium enthält einen Tiernamen (alauda = Haubenlerche) und 12 Pflanzennamen, die von Marcellus Empiricus als gallisch (Gallice dicitur) bezeichnet werden.[7] Teilweise gibt er auch die lateinischen und griechischen Bezeichnungen an, so dass die Pflanzen identifiziert werden können, etwa Huflattich (Marcellus Empiricus XVI, 101) und Beinwell (Marcellus Empiricus XXXI, 29). Auch in den zahlreichen magischen Formeln können gallische Wortteile vermutet werden.

Inhalt

Die Einführung

Die Einführung gliedert sich in mehrere Teile:

  • Brief an seine Söhne
    Hier legt er seine Quellen dar und empfiehlt seinen Söhnen, auch Fremde und Bedürftige – wohl im christlichen Sinn – zu behandeln.
  • Aufzählung der Kapitelüberschriften
  • Umrechnungsvorschriften für verschiedene – hauptsächlich griechische – Gewichte und Maße
  • Widmungsschriften, die sich mit den Aufgaben des Arztes und dem Wesen der Medizin befassen, die Marcellus Empiricus von verschiedenen Autoren übernommen hat:
    • Als Übersetzung aus dem Griechischen 2 fiktive Briefe des Hippokrates. Der 1. Brief ist auch als Brief des Diokles von Karystos an Antigonus überliefert[8].
    • Epistvla Plini Secvndi ad amicos de medicina
      ist weitgehend identisch mit dem Vorwort der Medicina Plinii mit seinem Anspruch, den Leser zur Selbstbehandlung zu befähigen und seiner Ärzteschelte.
    • Cornelivs Celsvs G. Ivlio Callisto Salvtem dicit
      gibt das Vorwort der Compositiones des Scribonius Largus wieder, u. a. mit der Erwähnung des Eids des Hippokrates.
    • Cornelivs Celsvs Pvllio Natali salvtem dicit
      ist ein Dank für 2 griechische Rezeptbücher. Weder der Text noch der Name "Pullius Natalis" finden sich bei Scribonius Largus.
    • Epistvla Vindiciani comitis archiatrorvm ad Valentinianvm Imperatorem
      Diese Schilderung zweier ärztlicher Behandlungen möglicherweise an Valentinian I. (364–375) oder Valentinian II. (375–392) zeigt eine ganz andere medizinisch Richtung, als die folgenden Rezepte. Es wird der gesamte Körperzustand des Patienten berücksichtigt. Die Behandlung mit Heilquellen, Bädern, Salben erinnert an die Schule der Methodiker.

Die Rezepte

Die Heilmittel des Arzneibuches Liber de medicamentis sind in 36 Kapitel von Kopf bis Fuß, von Kopfschmerz bis Podagra an Händen und Füßen, angeordnet. Die Rezepte beginnen mit den 'rationalen’ pharmazeutischen Mitteln des Scribonius Largus und enden mit magischen Anweisungen, wie:
„dices ter (sage dreimal): ALABANDE ALABANDI ALAMBO“ (Marcellus Empiricus XXVIII, 73).

Ein Schwerpunkt liegt auf Magen-Darm-Erkrankungen. Durchfall – Marcellus Empiricus XXVII, Wurmbefall – Marcellus Empiricus XXVIII, Förderung des Stuhlganges – Marcellus Empiricus XXX werden in getrennten Kapiteln ausführlich behandelt.

Krankheiten, die sich nicht einem Körperteil zuordnen lassen, wie Epilepsie, 4-Tage-Fieber, Gürtelrose fehlen, obwohl sie in den Quellen behandelt werden.

Am Ende steht ein, nach seiner eigenen Angabe von ihm selbst verfasstes Lehrgedicht, in dem die vielfältigen Anweisungen des Buches gepriesen werden, da der Lesende dadurch die Gesundheit erhält und die Ärzte meiden kann. Vielfältige Heilmittel werden aufgezählt, Zaubersprüche (carmina) nur am Rande erwähnt.

Codices und Ausgaben

Die Schrift wurde in mehreren Codices überliefert. Georg Helmreich benutzte 1889 den cod. Laudunensis 420 zu einer Edition. Vollständiger ist die Edition von Max Niedermann 1916 im Corpus Medicorum Latinorum, die auch den Codex Parisinus Lat. 6880, sowie den Codex Arundelianus 166 heranzog.[9] 1968 wurde die Edition Max Niedermanns von Eduard Liechtenhan zusammen mit einer Übersetzung von Jutta Kollesch und Diethard Nickel erneut herausgegeben.

Textausgaben und Übersetzung

  • Marcelli de medicamentis liber, edidit Georgius Helmreich. Teubner, Leipzig 1889 (Digitalisat).
  • Marcelli de medicamentis liber, recensit Maximilianus Niedermann (= Corpus Medicorum Latinorum 5). Teubner, Leipzig und Berlin 1906.
  • Marcellus: Über Heilmittel, herausgegeben von Max Niedermann, übersetzt von Jutta Kollesch und Diethard Nickel, Berlin 1968 (cmg.bbaw.de Volltext). Vgl. auch Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus den medizinischen Schriften der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 166–169 (Marcellus: Über Heilmittel, Kap. 25, 21, Kap. 8, 127, und Kap. 28, 72–74).

Literatur

  • Alf Önnerfors: Magische Formeln im Dienste der römischen Medizin. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Band 37, Berlin-New York, 1993.
  • Antje Krug: Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike. Verlag C. H. Beck, München 1985, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage 1993; ISBN 3-406-30144-4.
  • Miriam Ewers: Marcellus Empiricus: „De medicamentis“, Christliche Abhandlung über Barmherzigkeit oder abergläubische Rezeptsammlung? Trier 2009, www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de (PDF; 869 kB).

Einzelnachweise

  1. Antje Krug: Heilkunst und Heilkult. Ende und Weiterleben der antiken Medizin
  2. Marcelli de medicamentis liber, Maximilianus Niedermann, Ad lectorem praefatio.
  3. a b VIII Conspectvs fontivm, testimoniorvm, locorvm similivm. In: Max Niedermann (Hrsg.): Marcellus – Über die Heilmittel (= Corpus Medicorum Latinorum. Band 2). Akademie Verlag, Berlin 1958.
  4. Alf Önnerfors, Magische Formeln im Dienste römischer Medizin, II. Hauptkategorien der Zauberformeln im Bereich der Humanmedizin
  5. Miriam Ewers: Marcellus Empiricus, 1.2.2
  6. Miriam Ewers: Marcellus Empiricus. 1.3.
  7. Siehe Wolfgang Meid: Heilpflanzen und Heilsprüche. Zeugnisse gallischer Sprache bei Marcellus von Bordeaux, Innsbruck, 1996. ISBN 3-85124-655-1; Wolfgang Meid, Peter Anreiter: Heilpflanzen und Heilsprüche. Zeugnisse gallischer Sprache bei Marcellus von Bordeaux. Linguistische und pharmakologische Aspekte. Edition Praesens, Wien 2005, ISBN 3-7069-0322-9.
  8. Marcelli de medicamentis liber, Maximilianus Niedermann, Ad lectorem praefatio
  9. Friedrich Ernst Kind: Marcellus Empiricus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIV,2, Stuttgart 1930, Sp. 1498–1503.