Das bunte Leben

Das bunte Leben (Wassily Kandinsky)
Das bunte Leben
Wassily Kandinsky, 1907
Tempera auf Leinwand
130 × 162,5 cm
Lenbachhaus, München
Vorlage:Infobox Gemälde/Wartung/Museum

Das bunte Leben (französisch La Vie mélangée) ist ein Gemälde von Wassily Kandinsky. Nach dem Ankauf durch die Bayerische Landesbank wird das Gemälde seit 1972 im Münchner Museum Lenbachhaus als Dauerleihgabe ausgestellt. Es gilt als eines der Schlüsselwerke des Malers.[1] „Es ist eine farbenfrohe Hymne an die russischen Traditionen – und steht damit im Gegensatz zum zeitgeistlichen Streben des Zaren und der russischen Elite hin zur westlichen Kultur.“[2] Anfang 2017 wurde öffentlich, dass das Kandinsky-Bild aus dem Besitz der niederländisch-jüdischen Familie Lewenstein stammt und es sich aufgrund der Versteigerung beim Auktionshaus Muller in Amsterdam am 7. oder 8. Oktober 1940 nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht um einen Zwangsverkauf und damit einen Fall illegaler NS-Raubkunst handeln könnte. Aus Sicht der Erben wurde das bunte Leben unter Zwang und Druck verkauft, aus Sicht des heutigen Eigentümers wurde das bunte Leben im Rahmen der Scheidung von Robert (Bob) Lewenstein von Irma Klein freiwillig versteigert. Der Antrag auf Restitution wurde im März 2017 vor einem US-amerikanischen Gericht eingebracht.[3]

Kunsthistorische Bedeutung und Beschreibung

Der russische Maler Wassily Kandinsky – und mit ihm eine ganze Generation junger Künstler – lehnte es ab, sein Land durch den Filter westlich geprägten wissenschaftlichen und kulturellen Denkens zu sehen. Stattdessen schwärmte er für das spezifisch russische, noch nicht von der Moderne korrumpierte Wesen. Im Jahr 1889 unternahm er im Kontext seines Jurastudiums eine Reise in den Ural, um das traditionelle Rechtssystem der Syrjänen zu erkunden. Auf dieser Reise erkrankte er an Typhus. Seine vom Fieber hervorgerufenen Visionen gelten als „Schlüsselerlebnis“, das Kandinsky veranlasste, Maler zu werden.[2] In dem Bild Das bunte Leben verarbeitete er die Eindrücke der Exkursion.[2]

Gleichzeitig markiert das 1907 in Paris entstandene Gemälde den Abschluss seiner „Werkgruppe“ der sogenannten „farbigen Zeichnungen“.[4] Bilder wie Das bunte Leben oder das im selben Zeitraum entstandene Reitende Paar zeugen davon, wie weit Kandinsky noch dem Jugendstil verhaftet war.[5] Zudem zeigt sich der Einfluss der Volkskunst auf sein Frühwerk: „Die Menschen in ihren bunten Trachten sah er ‚wie bunte lebende Bilder auf zwei Beinen‘ herumlaufen.“[6]

Für die Kunsthistorikerin Kia Vahland ist Das Bunte Leben „ein Schlüsselwerk der Moderne. Kandinsky zeigt hier, was das menschliche Dasein ausmacht. Eine russische Matrone beißt in einen Apfel, eine pausbackige junge Frau sucht die Töne auf ihrer Flöte. Ein Brautpaar setzt zum Kuss an, ein Pope zeigt sein Kreuz, ein greiser Wanderer seinen grünen Bart. Junge Leute spielen Fangen, ältere rüsten sich mit Schwertern, Pfeil und Bogen zum Gefecht. […] Hoch oben über Wolken thront auf einem fett gestrichelten Berg eine Burg. Das Leben flirrt, die Menschen in der Flusslandschaft sind erkennbar, aber lösen sich beim Nähertreten auf.“[7] Ohne dieses Bild sei nicht zu verstehen, wie Kandinsky „von seinem gegenständlichen Frühwerk zu seinen leuchtenden Abstraktionen kam, mit denen er die Kunstgeschichte revolutionierte.“[7]

Iwan Jakowlewitsch Bilibin: Illustration zu dem Märchen Die Feder des Finist des hellen Falken

Die Kunsthistorikerin Annabell Howard sieht mit „den Farbtupfern der russischen Szenen und Märchenbilder, die juwelenartig auf dunklen Grund gesetzt sind, oder den unregelmäßigen Flecken und gegeneinander abgesetzten reinen Farbzonen der ersten Murnau-Landschaften und ersten ‚Improvisationen‘ von 1908/09 schon Verbindungen“ zum Divisionismus der Neo-Impressionisten und den frühen Bildern der Fauves (Matisse und Derain):

„Gerade bei den leuchtenden Gelb-, Blau- und Rot-Tönen, die ab 1907 Kandinskys Leinwand beherrschen, muss man unwillkürlich an die betont reinen Farben der Fauves denken. Über die Farbzerteilung der Neo-Impressionisten und über die Technik der Fauves, die allein durch Farbe bewegte Strukturen auf der Bildoberfläche erzielten, gelangte der Künstler allmählich zur Auflösung des Gegenstandes. Die Murnau-Landschaften markieren einen künstlerischen Neubeginn, sie zeigen eine üppig farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt, eine leuchtende tupfenartige Farbgestaltung, und diese romantische Vision der Unschuld taucht in Kandinskys Arbeiten als Relikt einer vergangenen slawischen Märchenwelt immer wieder auf: Reiter, Schlösser, Lanzenträger, Segelboote, Regenbogenbrücken und anderes. Indem er aber die Farbe zum Selbstzweck erhob, konnte er die allzu simplen Assoziationen dieser Bilder unter Kontrolle bekommen. Seine Bilder sollten einen Geisteszustand schildern, sollten Manifestationen der Seele sein. Die von gegenständlichen Bezügen unabhängigen Kompositionen, vom Künstler zunächst als Endpunkt malerischer Auseinandersetzung empfunden, erwiesen sich bald als neuer Anfang, ein Vorstoß auf dem Weg der emotionellen Bilderfindung.“[8]

Kandinsky nahm mit seinen Bildern Reitendes Paar und Das bunte Leben auch Bezug zum Werk des Malers und Buchillustrators Iwan Jakowlewitsch Bilibin (1872–1942); dieser schuf 1899 zu dm russischen Märchen Perysko Finista Jasna-Sokola (Das Federchen vom Finist, dem Klaren Falken) mehrere Werke, die möglicherweise von Kandinsky als Motivvorlage adaptiert wurden. In seinem Manuskript zu Bühnencomposition II, Stimmen, das vermutlich ein Jahr später zwischen 1908 und 1909 entstand, nahm Kandinsky die Motive des Bildes wieder auf: die Personen aus dem Bunten Leben erscheinen nun als Bühnenfiguren; Kandinsky weist ausdrücklich auf die in Sèvres entstandene Vorlage hin.[9]

Wassily Kandinsky: Zwei Mädchen (1907). Musée National d’Art Moderne, Paris

Nach Ansicht von Annegret Hoberg war Das bunte Leben für Kandinsky „offensichtlich ein Schritt hin zu neuen formalen Ausdrucksmitteln.“ Hans Konrad Roethel (1982) hingegen betont eher die ikonographische Seite des Werks:

„In ikonographischer Hinsicht ist dieses Gemälde eines der wichtigsten Werke Kandinskys. Der Titel, die bunten Farben, die Überfülle der Figuren, Handlungen und Ereignisse, alles deutet darauf hin, dass Kandinsky nichts weniger im Sinn hatte als eine Darstellung des gesamten Lebens oder – genauer gesagt – eine Verbildlichung aller weltlichen und geistlichen Aspekte des russischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart.“[9]

Auch wenn sich Kandinsky in den folgenden Jahren formal stärker vom Gegenstand entfernen wird, so scheint für Natascha Niemeyer-Wasserer „doch der Inhalt deswegen nicht weniger bedeutsam für Kandinsky zu werden.“[9] Diese künstlerische Einstellung manifestiert sich auch in den Gedichten und Bühnenkompositionen, die Claudia Emmert untersuchte, so dass ihr Fazit ähnlich lautet:

„Im Kontext religiös-philosophischer Gedanken seiner Zeit betrachtet, kommt dem Werk Kandinskys neue Aussagekraft zu. Es mußte daher der Begriff des künstlerischen ‚Inhalts‘ überprüft werden. Dabei stellte sich heraus, daß Kandinsky die Lösung von der gegenständlichen Maltradition keinesfalls als Verzicht auf jegliche inhaltliche Aussagekraft seiner Werke verstand. Vielmehr hatte er sein Schaffen, zumindest bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ganz der Verkündigung eschatologischer Hoffnungen verschrieben.“[9]

Geschichte

Provenienz

Das bunte Leben wurde Anfang 1907 in Sevres bei Paris gemalt und gilt als Hauptwerk der frühen Werkphase Kandinskys.[10] Nach der Fertigstellung war das Bild im Besitz des niederländischen Fabrikanten und Kunstsammlers Emanuel Lewenstein, der 1930 starb. Es wurde im Jahr 1938 von seiner Familie dem Stedelijk Museum in Amsterdam zur Aufbewahrung übergeben. Das bunte Leben wurde am 5. September 1940 vom jüdischen Kunsthändler Querido im Gementemusea abgeholt und als Los Nr. 204 am 8. Oktober 1940 im Auktionshaus Muller ersteigert. Die Umstände der Einlieferung und der Versteigerung sind strittig. Die Erben der Familie Lewenstein gehen von einem Zwangsverkauf aus, der Eigentümer von einer freiwilligen Einlieferung im Rahmen der Scheidung von Irma Klein und Robert Lewenstein. Erworben wurde das Bild von dem jüdischen Sammler Sal Slijper, der 1971 starb. Auf derselben Auktion wurde neben dem bunten Leben auch das Werk Bild mit Häusern von Wassily Kandindky versteigert, das sich heute im Stedelijk Museum in Amsterdam befindet. Die Restitutie Commissie sprach sich in ihrer Empfehlung vom 22. Oktober 2018, in welcher auch das bunte Leben erörtert wird, gegen eine Restitution des Bildes mit Häusern aus.[11]

David Röell (1945)

Auf der Auktion anwesend war auch David Röell, der damalige Direktor des Stedelijk Museum; er erwarb das oben genannte Bild mit Häusern und versteckt mit Zustimmung Slijpers beide Kandinskys im Depot des Museums, in dessen Verzeichnissen Das bunte Leben weiter als Eigentum der Familie Lewenstein geführt wird, als hätte es keinen Besitzerwechsel gegeben, wahrscheinlich zum Schutz Sal Slijpers.[7] Sal Slijper verlieh Das bunte Leben von 1957 bis 1963 an das Stedelijk Museum, anschließend bis 1971 an das Gemeentemuseum Den Haag.[12]

Die Witwe Slijpers bot es nach dessen Tod zum Verkauf an. Als das Lenbachhaus davon erfuhr, betrieb Erika Hanfstaengl in der Funktion als kommissarische Museumsleiterin 1972 den Ankauf des Werks „Das bunte Leben“ durch die Bayerische Landesbank.[7] Die Bayerische Landesbank (BayernLB) hat das Bild nach dem Erwerb an die Städtische Galerie im Lenbachhaus ausgeliehen. Der wahre Ursprung des Werks war aber bislang unbekannt.[13]

Auseinandersetzung um die Restitution

Erstmals im Jahr 2004 stießen niederländische Forscher auf die Raubkunst-Auktion von 1940 und das Kandinsky-Gemälde.[3] 2015 hatten sich die Nachfahren der Familie Lewenstein an die BayernLB gewandt, um auf eine Herausgabe des Gemäldes zu dringen. Danach wurde die Forderung der Erben negativ beantwortet. »Rechtliche Ansprüche hinsichtlich des Gemäldes, insbesondere auf Herausgabe, sind uns nicht ersichtlich«, teilte die BayernLB den Erben damals in einem Schreiben mit und lehnte es ab, ergebnisoffen die Limbach-Kommission anzurufen. Der Leiter des Lenbachhauses Matthias Mühling, habe im Einvernehmen mit der Stadt München der Landesbank als Besitzerin geraten, das Bild an die Limbach-Kommission zu geben, um eine Empfehlung abzugeben.[7] Der Fall wird dort ab Herbst 2020 begutachtet und verhandelt.[14]

Im März 2017 forderten die Erben das Kandinsky-Gemälde vor einem New Yorker Distriktgericht zurück. Das Bild sei den rechtmäßigen Besitzern 1940 in einem Verstoß gegen internationale Gesetze weggenommen worden, heißt es in der Klage, die am 3. März 2017 bei dem Gericht eingereicht worden ist. Die Nachfahren der Eigentümer klagten auf Herausgabe des Bildes oder 80 Millionen Dollar; zudem warfen sie der BayernLB vor, beim Kauf des Bildes den wahren Ursprung des auf mehrere Millionen Euro taxierten Werkes zumindest geahnt zu haben.[13] Die BayernLB hätte wissen können, dass das Gemälde gestohlen gewesen sei, hieß es in der Klage. „Der Ankauf des Bildes wurde vom Lenbachhaus organisiert, das die Fähigkeit hat, die Herkunft des Bildes zu untersuchen und festzustellen, ob es wahrscheinlich ist, dass es von den Nazis geraubt wurde.“[15] Daraufhin äußerte der Museumsdirektor Matthias Mühling, dies sei mehrfach passiert – aber ohne Ergebnis. Aus heutiger Sicht sei das mehr als unbefriedigend.[16] Die Auseinandersetzung fand internationale Beachtung, nachdem der kanadische Kunstdetektiv James Palmer im Auftrag der Familie Lewenstein im März 2017 damit an die Öffentlichkeit getreten war.[17]


Filmographischer Hinweis

Das bunte Leben wurde in der Arte-Fernsehreihe Hundert Meisterwerke und ihre Geheimnisse vorgestellt. Deutsche Erstausstrahlung der Sendung war am 3. Januar 2016.[2]

Literatur

  • Helmut Friedel, Vivian Endicott-Barnett (Hrsg.): Das bunte Leben. Wassily Kandinsky im Lenbachhaus. DuMont, Köln 1995, ISBN 3-8321-7156-8.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Holly Watt: Bank’s Kandinsky painting was looted by Nazis, says family. In: The Guardian. 3. März 2017 (theguardian.com).
  2. a b c d Hundert Meisterwerke und ihre Geheimnisse fernsehserien.de.
  3. a b Svantje Karich: Raubkunst: Der Streit um Kandinskys Hauptwerk ist eskaliert In: Die Welt. 2017 (welt.de).
  4. Matthias Haldemann: Kandinsky. 2016.
  5. Hildegard Möller: Malerinnen und Musen des »Blauen Reiters«. 2012.
  6. Die Weltkunst. Band 62, Band 65, 1995.
  7. a b c d e Kia Vahland: Vom bunten, braunen Leben. In: Süddeutsche Zeitung. 4. März 2017.
  8. Klaus Hammer: Durchglüht von Farben: Neue Bildbände über die Klassiker der Moderne Paul Gauguin, Franz Marc und Wassily Kandinsky in Literaturkritik.de.
  9. a b c d Natascha Niemeyer-Wasserer: Kandinsky und die Malerei des russischen Symbolismus (PDF; 6,1 MB).
  10. Norbert Göttler: Der Blaue Reiter. Rowohlt, 2008, S. 20.
  11. Painting with Houses by Wassily Kandinsky | Restitutiecommissie. Abgerufen am 26. Juni 2020.
  12. Colin Moynihan, Alison Smale: Heirs Sue for Return of a Kandinsky, Saying It Was Looted by Nazis. In: The New York Times. 3. März 2017 (nytimes.com).
  13. a b Erben fordern Kandinsky-Bild zurück. In: Jüdische Allgemeine. 2017 (juedische-allgemeine.de).
  14. Kia Vahland: Als das Leben noch bunt war. Abgerufen am 26. Juni 2020.
  15. NS-Raubkunstverdacht: Erben wollen „Das bunte Leben“ zurück. 4. März 2017 (faz.net).
  16. Streit um Kandinsky-Gemälde in: Deutschlandfunk.
  17. Swantje Karich: Der Streit um Kandinskys Hauptwerk ist eskaliert. In: www.welt.de. 7. März 2017, abgerufen am 22. Februar 2020.

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Кандинский Красочная жизнь 1.jpg
dépôt de la Bayerische Landesbank à la Städtische Galerie im Lenbachhaus, Munich. Dans cette toile empreinte de nostalgie peinte à Sèvres (il y représente notamment son chat Vaska), Kandinski recourt à la perspective aérienne afin de pouvoir entasser tous ses personnages. Il évoque le passé lointain où se côtoient des figures de la vieille Russie : de la babouchka au petit enfant en passant part le mendiant, du pèlerin au moine, du couple amoureux dans l'herbe au rameur, des figures saintes (mère portant son enfant, modèle de l'Oumilénie, Vierge de Tendresse, saints Boris et Gleb, cavalier représentant saint Georges, église en bois) ou tirées des contes, citadelle du Kremlin dominant la colline qui a une isba sur son flanc.
David Röell (1945).jpg
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Directeur jhr. Roell van Rijksmuseum
  • 1945