Chartalismus

Chartalismus (von lateinisch: charta = deutsch: Schriftstück, Dokument, Urkunde) ist eine heterodoxe makroökonomische Geldtheorie, die davon ausgeht, dass das Geld vom Staat geschaffen wird, indem er es als gesetzliches Zahlungsmittel deklariert, und dass die Währung ihren Wert dadurch erhält, dass der Staat die Macht hat, Steuern zu erheben, die in dieser Währung aufzubringen sind. Er ist also eine Geldtheorie, die den Einfluss von Regierungspolitik und -aktivitäten auf den Geldwert betont und das Geld als eine Rechnungseinheit mit einem Wert definiert, der von dem bestimmt wird, was die Regierung als Zahlung für Steuerpflichten akzeptiert. Chartalismus besagt damit, dass Geld keinen inneren Wert hat, sondern von der Regierung bewertet wird.[1]

Geschichte

Als Begründer der chartalistischen Geldtheorie gilt Georg Friedrich Knapp, der die positiv-rechtliche Begründung des Geldes 1905 in seinem Werk Staatliche Theorie des Geldes darlegte. Obwohl 1924 auf Veranlassung von John Maynard Keynes ins Englische übersetzt, geriet es in Vergessenheit. Erst um die Jahrtausendwende wurde der Chartalismus von der postkeynesianischen Modernen Geldtheorie (MMT) wieder aufgegriffen.[2]

Inhalt und Bedeutung

Wie Knapp feststellte, ist das Geld „ein Geschöpf der Rechtsordnung. Es ist im Laufe der Geschichte in den verschiedensten Formen aufgetreten. Eine Theorie des Geldes kann daher nur rechtsgeschichtlich sein.“ Mit seiner nominalistischen Auffassung setzte er sich bewusst in Gegensatz zur Geldwerttheorie des Metallismus, die in Zeiten des Papiergeldes – also spätestens seit der Aufhebung des Goldstandards für den US-Dollar durch Richard Nixon 1971 – offensichtlich obsolet ist. Damit beruht der Wert des Geldes im Chartalismus auf seiner sozialen Akzeptanz, unabhängig von seinem Materialwert.[3]

Bereits Adam Smith hatte 1776 geschrieben, dass das Geld als „das große Rad der Zirkulation“ etwas anderes sei als die Güter, die es bewegt; dass sich der Wert des Geldes also nicht von seinem Güterwert ableite, sondern von seiner Funktion für die Wirtschaft.[4]

Neo-Chartalisten wie Matthew Forstater weisen darauf hin, dass chartalistische Auffassungen auch in früheren Werken klassischer Ökonomen wie Jean-Baptiste Say, John Stuart Mill, Karl Marx und William Stanley Jevons zu finden sind.[5] Auch Keynes erwähnt 1930 Knapp und den Chartalismus und es scheint, dass dadurch seine Auffassung von der Rolle des Staates in der Wirtschaft beeinflusst wurde.[6] Abba P. Lerner schrieb 1947 in seinem Artikel „Money as a Creature of the State“, dass die Ökonomen weitgehend von der Idee der Bestimmung des Geldwertes durch Gold abgekommen waren. Er meinte, dass die Verantwortung für die Vermeidung von Inflation und Depression beim Staat liegt wegen seiner Fähigkeit Geld zu schaffen und durch Steuern wieder einzuziehen.[7]

Im 21. Jahrhundert

Moderne Ökonomen wie Warren Mosler, L. Randall Wray[8], Stephanie Kelton und Bill Mitchell haben den Chartalismus als Erklärung für die Geldschöpfung wiederbelebt. Mitchell schließlich prägte für den modernen Neo-Chartalismus den Begriff Modern Monetary Theory (MMT), der sich weitgehend durchsetzte. Scott Fullwiler steuerte eine detaillierte technische Analyse von Banken- und Geldsystem bei.[9] Rodger Malcolm Mitchells Buch Free Money erklärt in allgemeinverständlicher Sprache das Wesen des Chartalismus.[10]

Münzen und Banknoten sind vom Staat garantierte gesetzliche Zahlungsmittel und der Staat hat das Monopol darauf. Denn der Staat – und nur er – kann Geld schaffen und so die wirtschaftliche Tätigkeit beeinflussen. Mit der Schaffung des Euro wurde diese Zuständigkeit zwar auf die Europäische Zentralbank übertragen, doch hinter dieser stehen die Staaten der Eurozone als Gesamtheit, die Steuern in dieser Währung erheben.

Der Wert des Geldes kommt durch den Staat und seine Gesetze zustande und beruht auf seiner sozialen Akzeptanz. Was auch immer Menschen akzeptieren, um gegenseitig ihre Schulden zu tilgen, wird Geld. Die Bedeutung von Märkten und Knappheit wird von Chartalisten gegenüber der Neoklassik deshalb geringer gewichtet, die Wichtigkeit von integrierten Gesellschaften und staatlicher Hoheit viel stärker. Fortgeschrittene Gesellschaften entwickelten immer schon Zahlungssysteme, mit denen gesellschaftliche Schulden getilgt werden konnten. Der Staat ist hier vor allem wichtig, weil er von seinen Bürgern Steuern verlangt. Die Währung, mit der die Steuerschuld beglichen werden soll, wird dabei vom Staat vorgeschrieben, weshalb diese Währung zum allgemeinen Standard wird.[11]

In Deutschland wird Knapps chartalistische Geldtheorie durch die 2014 gegründete Pufendorf Gesellschaft für politische Ökonomie e.V. mit Sitz in Berlin vertreten.[12]

Kritik

Schaffen aber nicht die Banken durch die Giralgeldschöpfung Buchgeld? Wenn Geld des Staates in den Geschäftsbanken als Reserve hinterlegt wird, können diese Kredite vergeben. Wenn aus chartalistischer Sicht Staatsgeld exogen und Bankgeld ein Vielfaches davon ist, benötigen die Chartalisten zur analogen Berechnung allerdings den Geldschöpfungsmultiplikator der Metallisten.[13]

Daher wird auch von einem monetären Dualismus gesprochen: Geld ist sowohl privater Natur (Giralgeld der Geschäftsbanken) als auch staatlicher Natur. Im Alltag gehen wir Bürger mit beidem gleichermaßen um. Der Unterschied wird erst deutlich, wenn – wie etwa in der Finanzkrise geschehen – Banken ihre Schulden nicht mehr zahlen können. Die Zentralbank als die Bank des Staates kann grundsätzlich nie illiquide werden. Sie kann immer Geld schaffen, indem sie dem Staat einen Kredit gewährt, und dieser kann durch Steuern und Abgaben Einnahmen generieren um diesen Kredit zu bedienen.[14]

Zur Widerlegung des Chartalismus wird auch herangezogen, dass die digitale Kryptowährung Bitcoin von keinem Staat geschaffen wurde.[15]

Die chartale Theorie des Geldes wird abgelehnt von Ökonomen, die das Wesen und die Entstehung des Geldes mit dem Warentausch in Verbindung bringen. "Die allmähliche Erweiterung des Tauschhandels, Vermehrung der Austausche und Vervielfältigung der in den Tauschhandel kommenden Waren, entwickelt daher die Ware als Tauschwert, drängt zur Geldbildung."[16] Karl Marx zeigt in der Wertformanalyse den logisch-genetischen Zusammenhang zwischen dem Wert der Ware und dem Geld. Das Geld ist nicht das Ergebnis einer bloßen Konvention, es ist auch keine Anordnung des Staates. Geld ist das ungeplante Resultat einer langen geschichtlichen Entwicklung, ist eine gesetzmäßige Erscheinung der Warenproduktion. Es löst den inneren Widerspruch der Ware zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert, wird gebraucht als das Maß der Werte und als Mittel der Warenzirkulation. Aristoteles hatte die Frage aufgeworfen, ob das Geld seine Geltung aus seinen stofflichen Eigenschaften bezieht oder der staatlichen, rechtlichen Setzung verdankt. Die Erklärungen, die zur zweiten Auffassung tendieren, werden unter dem Begriff "Nominalismus" zusammengefast, im Gegensatz zur metallistischen Geldlehre, die das Wesen und den Wert des Geldes auf das in ihm enthaltene Metallgewicht zurückführt. Juristen und Philosophen der Antike und des Mittelalters vertraten nominalistische Geldauffassungen. Nominalistisch sind auch die Geldtheorien von J. Hales, B. Davanzati, G. Montanari und John Locke. Sie können als die Vorläufer Georg Friedrich Knapps gelten, dessen chartale Theorie des Geldes, so Robert Liefmann, "mit einem großen logischen und historischen Fehler" beginne. Eine Theorie des Geldes könne nie nur rechtsgeschichtlich sein; das Geld müsse theoretisch und historisch aus den wirtschaftlichen Verhältnissen erklärt werden. "Die Geldwirtschaft, d.h. der Tauschverkehr unter Benutzung von Geld, kann nie mit staatlichen Preisfestsetzungen angefangen haben." [17] So auch Wilhelm Gerloff: "Die sogenannte staatliche Theorie des Geldes ist für die Erkenntnis der Entstehung des Geldes ohne Belang. Sie enthält nur rechtsgeschichtliche Tatsachen und vermag daher über das soziale und wirtschaftliche Dasein des Geldes wenig oder gar nichts auszusagen." [18] Geld war entstanden vor etwa 5000 Jahren im vorderen Orient [19], es war aus dem Warenhandel hervorgegangen, bevor der Souverän ihm Autorität und Gültigkeit verlieh. Der Mensch hat nachträglich seinen "naturinstinktiven Handlungsakt sanktioniert, ... weil für die 'Krone der Schöpfung', deren herausragende Stellung im Tierreich gerade auf ihrem Dasein als denkendes und bewusst handelndes Wesen beruht, das Eingeständnis, dass ihr zentrales gesellschaftliches Vermittlungsglied in einem naturinstinktiven Akt hergestellt wird, hochnotpeinlich, um nicht zusagen unerträglich wäre." [20] Der Staat regele zwar wichtige Fragen des Geldwesens wie den Preismaßstab, die Konvertibilität, Münzgesetze, Wechsel- und Kreditrecht, Bank- und Börsengesetze u.a.m. "Er lege fest, ob auf seinen Münzen die Gesichter August des Starken, Pittiplatschs oder der Wildecker Herzbuben geprägt werden. Er entscheidet, ob die 10-€-Note rot, gelb oder blau aussieht und ob die 50-€-Scheine den schiefen Turm von Pisa, das Endlager Gorleben, den Bungalow des Präsidenten oder die Hütte von Hitlers Hund abbilden." Er bestimme, so Klaus Müller, aber letztlich "nur die Form, nicht den Inhalt des Geldes."[21]
Die neueste Kreation der chartalen Geldtheorie ist die Modern Monetary Theory (MMT). Sie knüpft am Nominalismus, der Quantitätstheorie des Geldes und der Auffassung Knapps an, dass der Staat das Geld unbegrenzt aus dem Nichts schöpfe, und seine Vertreter fügen hinzu, dies ginge, ohne sich zu verschulden und habe weitreichende positive wirtschaftliche Wirkungen. Die MMT übersieht, dass den Staatsausgaben Grenzen gesetzt werden durch knappe Ressourcen an Arbeitskräften und Sachkapital, entgegnet Klaus Müller. Hinter dem Geld stehe der Wert der Waren und der Arbeitskräfte. Die Ressourcen kann man nicht erhöhen wie Geldmengen.[22] Die MMT erklärt nicht, warum die Warenproduktion das Geld als das allgemeine Äquivalent, als Maß der Werte und Mittel der Zirkulation braucht. Der Staat könne zwar über seine Zentralbank formal Geld emittieren. Doch was die Währung kann, hängt davon ab, ob und in welchem Maße die güterwirtschaftlichen Voraussetzungen für ihre Verwendung vorhanden sind. "Kurzum: Formal ist der Staat beim Gelddrucken souverän, materiell nicht. Er kann Anweisungen ausgeben, aber damit keinen Wert schaffen, keine Verwertung garantieren."[23] Die MMT krankt, so Stephan Krüger, "neben Fundamentalfehlern bei den Geldeigenschaften .. am komplett fehlende(n) Rückbezug auf die Bedingungen der Kapitalverwertung ... und überschreitet bereits die Grenze zur 'Funny Science'."[24] Einige Autoren verweisen darauf, dass kein Geld voraussetzungslos aus dem Nichts entstehen könne, weder das Zentralbankgeld noch das Giralgeld der Geschäftsbanken.[25] Das sei so wenig möglich, wie eine Wolke aus dem Nichts entstehen könne. Das Gegenteil zu behaupten, sei pure Ignoranz, so Georg Quaas.[26]

Literatur

Einzelnachweise

  1. [1]
  2. Gerald Braunberger: Was ist neu an der Modern Monetary Theory? Eine Erinnerung an Knapps "Staatliche Theorie des Geldes" (1). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18. Januar 2012, abgerufen am 15. Juli 2017.
  3. Moderne Makroökonomie [2]
  4. Moderne Monetäre Makroökonomie, März 2010:[3]
  5. Forstater, Mathew (2004): Tax-Driven Money: Additional Evidence from the History of Thought, Economic History, and Economic Policy (PDF)
  6. Keynes, John Maynard: A Treatise on Money, 1930, S. 4 und 6
  7. Lerner, Money as a Creature of the State in The American Economic Review,Bd. 37/2 Mai 1947
  8. The Economist, 31 December 2011, "Marginal revolutionaries" neo-chartalism, sometimes called “Modern Monetary Theory”
  9. http://papers.ssrn.com/sol3/cf_dev/AbsByAuth.cfm?per_id=444041
  10. Mitchell, Rodger Malcolm: Free Money - Plan for Prosperity, PGM International, Inc., paperback 2005.
  11. Moderne Makroökonomie [4]
  12. Samuel-Pufendorf-Gesellschaft für politische Ökonomie e.V. Abgerufen am 24. März 2018 (englisch).
  13. Moderne Monetäre Makroökonomie, März 2010:[5]
  14. https://zinsfehler.com/2019/01/23/warum-konnen-wir-unser-geldsystem-nicht-richtig-verstehen/
  15. Jon Matonis: Bitcoin Obliterates 'The State Theory Of Money'. In: Forbes, 3. April 2013. Abgerufen am 12. April 2020. 
  16. Karl Marx, zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 13, Berlin !961, S.36
  17. Robert Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, II. Band, Grundlagen des Tauschverkehrs, Stuttgart und Berlin 1922, S. 100f
  18. Wilhelm Gerloff, Die Entstehung des Geldes und die Anfänge des Geldwesens, Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge
  19. Klaus Müller, Das Geld. Von den Anfängen bis heute, Freiburg 2015, S. 108f, 154ff
  20. Heinrich Harbach, Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Berlin 2011, S.88
  21. Klaus Müller, Das Geld, Köln 2022, S.109f
  22. Klaus Müller, Das Geld, Köln 2022, S. 118f
  23. Ingo Stützle, Money makes the world go green? Eine Kritik der Modern Monetary Theory als geldtheoretisches Konzept, in: PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 202/ 2021, S.83
  24. Stephan Krüger, Klaus Müller, Das Geld im 21. Jahrhundert. Die Aktualität der Marxschen Wert- und Geldtheorie, Köln 2020, S. 147f, 150
  25. Klaus Müller, Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen, Köln 2019, S. 252-259
  26. Georg Quaas, Relationale Geldtheorie. Zur aktuellen Diskussion über das Geld, Marburg 2018, S.251f