CANVAS (Erkrankung)

CANVAS (Cerebellar Ataxia, Neuropathy, Vestibular Areflexia Syndrome) ist eine genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankung. Die Ursache ist eine biallelische Mutation des RFC1 (replication factor C subunit 1)-Genes.[1]

Klassifikation nach ICD-10
G11.8Sonstige hereditäre Ataxie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Symptome

Erste Symptome der Erkrankung treten meist im mittleren Lebensalter nach dem 35. Lebensjahr auf. Die Erkrankung wird durch die drei namensgebenden Hauptsymptome (Zerebelläre Ataxie, Neuropathie und Vestibulopathie) charakterisiert, wobei sich diese meist nacheinander und schleichend einstellen. In vielen Fällen ist eine Störung des Berührungsempfindens in Folge einer Nervenschädigung (sensible Polyneuropathie) das erste neurologische Symptom, die beiden anderen Symptomkomplexe können im Verlauf von Monaten bis Jahren hinzutreten. Weitere neurologische Symptome beinhalten Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems, motorische Störungen und Muskelatrophien, Sprachstörungen, Schluckstörungen, Parkinson-ähnliche Symptome und Gedächtnisstörungen bis hin zur Demenz. Den neurologischen Symptomen um Jahrzehnte voraus geht bei einem Großteil der Patienten ein trockener Reizhusten. Symptomkonstellationen neben dem klassischen „CANVAS“ werden unter dem Begriff der „RFC1-Spektrum-Erkrankungen“[2] zusammengefasst, sofern bei der betroffenen Person eine biallelische Mutation des RFC1-Genes nachgewiesen wurde.

Neuropathie

Erstes neurologisches Symptom ist häufig eine sensible Neuronopathie.[3] Die betroffenen Personen beklagen zunächst Gefühlsstörungen (z. B. Taubheit, Pelzigkeit) und Missempfindungen (Spannungsgefühl, Kribbeln) der Füße und Zehen. Oft sind schon im frühen Krankheitsverlauf die Hände betroffen. Das Vibrations- und Lageempfinden ist gestört. Im weiteren Verlauf wird die Trittsicherheit dadurch zunehmend beeinträchtigt, insbesondere auf unebenem Untergrund oder in der Dunkelheit kann es zu vermehrtem Stolpern und Stürzen kommen. Die Feinmotorik der Hände kann herabgesetzt sein.

Zerebelläre Ataxie

Die Erkrankung kann eine zunehmende Schädigung und Schrumpfung des Kleinhirns bewirken. Folgen dieser zerebellären Ataxie sind Störungen der Koordination, Bewegungen der Ame und Beine werden ungenau, das anvisierte Ziel verfehlt. Der Stand und das Gangbild werden unsicher oder schwankend, die Sprache undeutlich artikuliert oder verwaschen.

Vestibulopathie

Die Erkrankung kann die Funktion der Gleichgewichtsorgane des Innenohrs betreffen. Folgen sind Gangunsicherheit und Schwindelsymptome. Da die Gleichgewichtsorgane auch Bedeutung für die Steuerung von Augenbewegungen haben (Vestibulo-okulärer Reflex), können Betroffene unter Sehstörungen leiden, das Fixieren des Blickes beim Gehen oder bei Bewegungen des Kopfes ist erschwert (Oszillopsien).

Ursache

Die genetische Ursache von CANVAS gilt seit 2019 als geklärt.[1] Der Erkrankung liegt eine biallelische Nukleotidexpansion zugrunde. Am häufigsten handelt es sich um ein krankheitsauslösendes Pentanukleotid „AAGGG-Motiv“ mit mehr als 400 Wiederholungen auf beiden Allelen.[2] Nach vorherrschender Meinung führt nur eine Mutation beider Allele zur Erkrankung, d. h. die Vererbung folgt einem autosomal-rezessiven Muster.

Häufigkeit

Die Häufigkeit von heterozygoten Trägern einer AAGGG-Repeatmutation auf einem Allel wird in Europa mit 0,7 % bis 4,0 % der Bevölkerung angegeben.[2] Demnach könnte die Prävalenz der krankheitsauslösenden biallelischen Mutation bis zu 0,16 % betragen. Bislang wird die Erkrankung nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen erkannt.

Diagnose

Die neurologischen Symptome und die Beurteilung ihres Schweregrades werden mit der körperlichen Untersuchung durch einen Facharzt für Neurologie erfasst. Zusätzlich können apparative Untersuchungen angewandt werden, beispielsweise die Elektroneurographie (ENG) zur Beurteilung der Neuropathie, die Kernspintomographie zur Darstellung des Kleinhirnes oder eine kalorische Vestibularisprüfung zur Beurteilung der Funktion der Gleichgewichtsorgane. Zur Diagnosesicherung ist eine humangenetische Testung mit Nachweis der Mutation des RFC1-Genes auf beiden Allelen erforderlich.

Therapie

Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Die Behandlung erfolgt bislang rein symptomorientiert. Physiotherapie und Neurorehabilitation können evtl. dazu beitragen, die Funktion möglichst lange zu erhalten.

Analog zu anderen genetisch bedingten neurodegenerativen Erkrankungen, denen eine Nukleotidexpansion zugrunde liegt, scheint die Entwicklung einer spezifischen Gentherapie („gene silencing“) auch bei RFC1-assoziierten Erkrankung in naher Zukunft möglich.

Verlauf

Der Verlauf RFC1-assoziierter Erkrankungen ist individuell verschieden. Bei einigen Betroffenen kann die Erkrankung über Jahrzehnte auf eine sensible Polyneuropathie beschränkt bleiben. In anderen Fällen kommt es zu einem raschen Progress, der dann einer Erkrankung aus der Gruppe der Multisystematrophien ähnelt und rasch zu schwerer Behinderung führt. In einer Patientenkohorte benötigten rund 50 % der Betroffenen nach 10 Jahren einen Gehstock, ein Viertel war nach 15 Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen.[2]

Literatur

  • Andreas Thieme, Christel Depienne, Dagmar Timmann et al.: Cerebellar ataxia, neuropathy and vestibular areflexia syndrome (CANVAS): from clinical diagnosis towards genetic testing. In: Medizinische Genetik. Band 33, Nr. 4, 2021, S. 301–310, doi:10.1515/medgen-2021-2098.
  • Tobias Meindl et al.: CANVAS: Fallbericht einer neuen Repeat-Erkrankung mit spät beginnender Ataxie. In: Nervenarzt. Band 91, Nr. 6, 2020, S. 537–540, doi:10.1007/s00115-020-00912-1, PMID 32367146.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Andrea Cortese et al.: Biallelic expansion of an intronic repeat in RFC1 is a common cause of late-onset ataxia. In: Nature Genetics. Band 51, Nr. 4, 2019, S. 649–658, doi:10.1038/s41588-019-0372-4, PMID 30926972.
  2. a b c d Andrea Cortese: RFC1 CANVAS / Spectrum Disorder 2020, In: Gene Reviews. PMID 33237689
  3. Riccardo Currò et al.: RFC1 expansions are a common cause of idiopathic sensory neuropathy. In: Brain. Band 144, Nr. 5, 2021, S. 1542–1550, doi:10.1093/brain/awab072, PMID 33969391.