Biografiearbeit

Ein Bewohner eines Altenheims dokumentiert und resümiert seine eigene Biografie

Biografiearbeit ist eine strukturierte Form zur Selbstreflexion der Biografie in einem professionellen Setting. Die Reflexion einer biografischen Vergangenheit dient ihrem Verständnis in der Gegenwart und einer möglichen Gestaltung der Zukunft. Dabei wird die individuelle Biografie in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang gesehen. Aus dieser Sichtweise ließen sich zukünftige Handlungspotenziale entwickeln.[1]

Ziele

Das vom US-Amerikaner Robert Neil Butler (1927–2010) entwickelte[2] Konzept einer Lebensrückschau (englisch Life Review) besagt, dass viele Menschen mit zunehmendem Alter den Wunsch verspürten, dem vergangenen Leben einen Sinn zu geben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit könne persönliche Sicherheit geben, das Selbstvertrauen stärken und dabei helfen, die schwierigen Situationen des Älterwerdens besser zu bewältigen. Eine Beurteilung der erlebten Vergangenheit aus nachträglicher Sicht könne zu einer Integration der Biografie führen. Jene Diskrepanz, welche sich aus einem damaligen Wollen und dem tatsächlichen Lebenslauf ergäbe, könne aufgehoben oder zumindest geringer werden. Drei Ziele der Biografiearbeit sind erkennbar:

  1. Stärkung
    • Fähigkeit erwerben, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen
    • Mut zum Erzählen vermitteln
    • Gedächtnisinhalte der älteren Generationen als verborgene Schätze wahrnehmen
  2. Rekonstruktion
    • individuelle Geschichten wiederbeleben
    • ganzheitliches Verständnis für die eigene Biografie erlangen
  3. Integration
    • positives Verarbeiten versöhnt Brüche, Widersprüche und Scheitern
    • gewonnene Erkenntnisse werden zu einer Ressource für die Zukunft gemacht

Methoden

Bei der Biografiearbeit werden die drei Zeitformen nach John McTaggart einbezogen:

In einer zeitlichen Sichtweise geht es um eine Bilanzierung vergangener Lebensleistungen, um eine Integration von Lebenserfahrungen in ein gegenwärtiges Selbstbild und in der Lebensplanung um eine Entscheidungsfindung zukünftiger Aktionen. Das zeitliche und methodische Paradigma verfolgt dabei das Ziel, ein individuelles Gefühl eines Zusammenhanges (Kohärenz) herauszubilden.[3] Durch diese Kohärenz wird die persönliche Identität als eine in sich zusammenhängende Einheit empfunden.[4]

Es werden zwei Vorgehensweisen unterschieden:

  1. Zur gesprächsorientierten Biografiearbeit zählen Einzel- und Gruppengespräche, welche zu vorgegebenen Themen angeboten werden. Es können Themen wie z. B. Feste, Feiertage, Schulzeit, Familienleben behandelt werden.
  2. Die aktivitätsorientierte Biografiearbeit zeichnet sich durch aktive Tätigkeiten aus. Beispiele sind das Singen bekannter traditioneller Lieder mit anschließendem Gespräch, Museumsbesuche, handwerkliche Aktivitäten, Basteln. Auch das Ausführen alltäglicher Handlungen, z. B. den Tisch zu decken, kann dazugehören.

In beiden Arbeitsweisen können Familienangehörige einbezogen und Techniken der systemischen Therapie eingesetzt werden wie klientenzentrierte Gesprächsführung, aktives Zuhören und Familienaufstellung. Eine alternative Technik ist die biographisch-narrative Gesprächsführung, die sich aus der qualitativen Forschungsmethode des narrativen Interviews entwickelt hat. Die aus der Biografieforschung stammenden kommunikativen Regeln werden auf eine professionelle Biografiearbeit übertragen.

Ein weiterer methodischer Ansatz ist die Darstellung des jeweiligen Lebenslaufs in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Hierzu können biografischen Daten aus einzelnen Lebensbereichen gesammelt werden:

  • Soziale Situation:
  • Kulturbiografie:
    • Kulturelle Herkunft, persönliche Traditionen, Ess-, Wohn-, Freizeitkultur.
  • Körper- und Öko-Biografie:
    • Eigene Körper, Wege zur Sexualität, Natur, Umwelt, Stadt und Land, Kindheit.
  • Glaubensbiografie:
    • Mythologische Elemente, Religion, Spiritualität, Gottesbilder.
  • Persönlichkeitsbiografie:
    • Kognition, Emotion, Verhalten, Bewältigung.
  • Bildungsbiografie:

Anwendungsfelder

Soziale Gerontologie

Im Bereich der sozialen Gerontologie ist die Biografiearbeit eine angewandte Methode, die mit Hilfe biografischer Elemente auf spielerisch-künstlerische Art und Weise eine Vielzahl von Erfahrungen, Begegnungen, Erfolgen, Misserfolgen, Trennungen, Krankheiten und anderen Ereignisse untersucht, um einen möglichen inneren Zusammenhang aller Ereignisse entdecken zu können.

Mit dem Alter, besonders bei Demenz, nimmt das Erinnerungsvermögen ab. Biografiearbeit ist dann ein Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten, die es bewusst zu fördern gilt, um sie noch möglichst lange zu erhalten. In der Vergangenheit war die Altenhilfe nämlich auf das ausgerichtet, was ein alter Mensch nicht mehr kann. Dieser defizitäre Ansatz soll von einer aktivierenden Pflege abgelöst werden: Der Fokus wurde vermehrt darauf gerichtet, was der alte Mensch kann, welche Kompetenzen er noch hat. Es stellt sich die Frage: Wie wurde der Mensch zu dem was er ist? Um dieser Frage nachzugehen, müssen möglichst vielfältige Informationen aus der Biografie eines alten Menschen gesammelt werden, um methodisch einen Lebenslauf zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang kann es förderlich sein, visuelle Anreize zu schaffen: Beispielsweise können sichtbare Erinnerungsecken mit vertrauten Objekten (Mobiliar, Familienbilder, bibliophile Bücher, Lebenskiste) die Erinnerungen wachhalten, zurückrufen und eine Verständigung erleichtern.

Auch der von Sigrid Hofmaier entwickelte „Ich-Pass“ knüpft an die Biografie an und ist eine Ressource für die Pflege von Dementen. Im „Ich-Pass“ sind u. a. biografische Elemente und persönliche Vorlieben festgehalten. Diese Informationen unterstützen eine auf die Gewohnheiten und Wünsche des Demenzkranken angepasste Pflege.[5]

Weitere Anwendungsfelder

Biografiearbeit kann auch im Bereich der Arbeit mit psychisch kranken Menschen oder Menschen mit geistiger Behinderung wichtige Akzente zur Spurensuche und Stärkung des Identitäts-Gefühls des Betroffenen setzen. Es gibt außerdem Ansätze biografischen Arbeitens mit Menschen mit Migrationshintergrund. Auch junge Menschen können bereits Partner biografischen Arbeitens sein.

Eine Person, deren Tätigkeit bei den hier genannten Zielgruppen liegt, kann für sich selbst die Biografiearbeit anwenden, um speziell das eigene Helfermotiv oder allgemein die Motivation zur Berufswahl erkennen zu können. Gerade für den Wechsel von Nähe und Distanz in professionellen Beziehungen (Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Pflege) bringt Biografiearbeit oftmals einen Erkenntnisgewinn, der die Sichtweise auf die eigene Tätigkeit positiv beeinflusst. So lassen sich emotionale Blockaden rational erkennen, beispielsweise eine Übertragung, die in diesem Satz zum Ausdruck kommt: „Nun weiß ich, an wen der Klient mich erinnert. An meinen Onkel väterlicherseits, den ich nie so wirklich habe leiden können.“

Spezielle Kritik

Kritik an dem Begriff Biografiearbeit wird aus zwei Richtungen vorgetragen: Berufsfeldbezogen die fehlende Konsequenz der Umsetzung und wissenschaftstheoretisch die mangelnde Fundierung oder scheinbare Therapiebezogenheit.

Eine vom Ansatz her richtige Einbeziehung der Biografiearbeit in die Pflege wird nicht alternativ gesehen, sondern es werden einzelne Schritte für die Pflegeplanung benannt. Im Berufsalltag fehlt häufig eine stringente Begründung für die Notwendigkeit einer Biografiearbeit: Soll sich das Pflegepersonal mit Aufgaben befassen, die scheinbar zusätzlich als angenehm oder hilfreich angesehen werden, wenn bereits Grundbedürfnisse wie regelmäßige Nahrungsaufnahme, Sozialkontakte und Bewegung zu kurz kommen, weil Finanzierungen nicht gesichert sind. Diese Argumentation verlangt nach einer Handlungsanweisung bezogen auf einen definierten Nutzen, der im Rahmen der vorgeschriebenen Qualitätssicherung erforderlich ist.

Der Begriff Biografiearbeit postuliert den greifbaren Nutzen einer Beschäftigung mit der Lebensgeschichte, welcher weder für pflegerisch/medizinisches Personal noch für die betroffenen Personen durch eine Evaluation nachgewiesen wurde. Die Kritik relativiert die Forderung nach einem erheblichen Zeitaufwand an einer Stelle, wo bereits wenige, einfach zu sammelnde Informationen für eine beiderseits befriedigende Kommunikation sorgen könnten. Damit akzeptiert diese Kritik das Prinzip einen aus der Lebensgeschichte her begründeten und unterschiedlich hohen Pflegeaufwand, der allerdings klarer definiert werden sollte.

Siehe auch

Literatur

  • Birgit Lattschar, Irmela Wiemann: Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit. 3. Auflage. Juventa, Weinheim 2011, ISBN 978-3-7799-1777-9.
  • Silke Brigitta Gahleitner: Biografiearbeit und Trauma. In: Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Juventa, Weinheim 2011, ISBN 978-3-7799-2241-4, S. 142–152.
  • Isabel Morgenstern: Geschichten, die Mut machen: Ressourcenorientierte Biografiearbeit mit Eltern und Großeltern. Memory Biografie- und Schreibwerkstatt e.V., Berlin 2015.
  • Caroline Osborn, Pam Schweitzer, Angelika Trilling: Erinnern. Eine Anleitung zur Biographienarbeit mit alten Menschen. 2. Auflage. Lambertus, Freiburg im Breisgau 2011, ISBN 978-3-7841-1963-2.
  • Bernhard Haupert, Sigrid Schilling, Susanne Maurer (Hrsg.): Biografiearbeit und Biografieforschung in der sozialen Arbeit. Beiträge zu einer rekonstruktiven Perspektive sozialer Professionen. Peter Lang, Bern u. a. 2010, ISBN 978-3-0343-0406-1.
  • Hubert Klingenberger: Lebensmutig. Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges entdecken, Künftiges entwerfen. Don Bosco, München 2003, ISBN 3-7698-1426-6.
  • Klaus ter Horst, Karin Mohr: Mein Lebensbuch – für Pflege- oder Adoptivkinder 2. Auflage. Eylarduswerk e. V., Bad Bentheim 2012, ISBN 978-3-9811168-1-6.
  • Hans Georg Ruhe: Methoden der Biographiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen. 5. Auflage. Beltz Juventa, Weinheim 2012, ISBN 978-3-7799-2069-4.
  • Verein zur Förderung der sozialpolitischen Arbeit, Sabine Sautter (Hrsg.): Leben erinnern. Biografiearbeit mit Älteren. 3. Auflage. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2004, ISBN 3-930830-49-3.
  • Herbert Gudjons, Marianne Pieper, Birgit Wagener-Gudjons: Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2008, ISBN 978-3-7815-1600-7.
  • Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Juventa, Weinheim 2011, ISBN 978-3-7799-2241-4.
  • Hilarion G. Petzold, Brigitte Leeser, Elisabeth Klempnauer (Hrsg.): Wenn Sprache heilt. Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und Kreatives Schreiben. Festschrift für Ilse Orth. Aisthesis, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8498-1252-2.
  • Klaus ter Horst, Karin Mohr: Mein Lebensbuch – für Kinder in der stationären Jugendhilfe. 3. Auflage. Eylarduswerk e. V., Bad Bentheim 2011, ISBN 978-3-9808655-5-5.
  • Christina Hölzle, Irma Jansen (Hrsg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen – Zielgruppen – Kreative Methoden. VS Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-16377-2.
  • Flensburger Hefte: Biographiearbeit. Heft 31/2003, ISBN 3-926841-31-1.
  • Gabriel Prinsenberg: Der Weg durch das Labyrinth. Biographisches Arbeiten. Begleitung auf dem Lebensweg. Novalis/Oratio, Schaffhausen (CH) 1997, ISBN 3-7214-0684-2.
  • Hans Georg Ruhe: Praxishandbuch Biografiearbeit. Methoden, Themen und Felder. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2014, ISBN 978-3-7799-3154-6.
  • Isabel Morgenstern: Projekt Lebensbuch: Biografiearbeit mit Jugendlichen. Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2011, ISBN 978-3-8346-0812-3.
  • Michael Pompenig, Martina Stöhr-Burkhardt: Vergangenheit verstehen – Gegenwart heilen – Zukunft gestalten. Die Arbeit mit der eigenen Biografie. Tredition Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-347-04607-8.
  • Tony Ryan, Rodger Walker: Wo gehöre ich hin. Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Juventa, Weinheim 2007, ISBN 978-3-7799-2031-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Juventa, Weinheim 2011, S. 24.
  2. Life Review. auf: encyclopedia.com (engl.)
  3. Christina Hölzle: Bedeutung von Ressourcen und Kreativität für die Bewältigung biografischer Herausforderungen. In: Christina Hölzle, Irma Jansen (Hrsg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. VS, Wiesbaden 2009, S. 71.
  4. Philosophie. Brockhaus, Mannheim/Leipzig 2004, Lemma Kohärenz.
  5. Hilfe für Demenzkranke: Der Ich-Pass für den Notfall. In: taz. 17. Juli 2009, abgerufen am 4. März 2015.

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