Beggar-thy-Neighbor-Politik

Beggar[1]-thy[2]-neighbour[3]-Politik (deutsch „mach deinen Nachbarn zum Bettler“ oder „ruiniere deinen Nachbarn“) ist der Anglizismus für eine volkswirtschaftliche, merkantilistische Strategie der Maximierung des nationalen Handelsbilanzüberschusses und damit der inländischen Währungsreserven.

Allgemeines

Der Terminus geht auf Adam Smith zurück, der ihn im März 1776 in seinem Buch „Wealth of Nations“ verwendet hat.[4] Gemeint sind wirtschaftspolitische Maßnahmen eines Landes, die durch Steigerung der Exporte unter gleichzeitiger Hemmung von Importsteigerungen im Inland das Einkommen und/oder die Beschäftigung erhöhen sollen. Steigende Exporte bewirken zusätzliche Arbeit und mehr Einkommen bei privaten Haushalten, ein Teil dieses zusätzlichen Einkommens wird erfahrungsgemäß wieder für den Kauf von Gütern oder für Dienstleistungen ausgeben, was neues Einkommen entstehen lässt (Exportmultiplikator).[5] Da die Steigerung der Exporte eines Landes für andere Länder eine Steigerung der Importe bedingt, kann sich durch diese Politik in den anderen Ländern eine kontraktive Wirkung ergeben (z. B. höhere Arbeitslosigkeit).[6]

Beispiele

Klassische Maßnahmen einer Beggar-thy-Neighbour-Politik können z. B. sein:

Kompetitive Abwertungen führten in den 1930er Jahren im Zuge der Weltwirtschaftskrise in einen Währungskrieg. Um weitere Währungskriege zu verhindern, entwickelte John Maynard Keynes die Idee einer internationalen Clearing Union (Bancor Plan), die er 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods vorschlug. Stattdessen jedoch wurde der Plan der US-Delegation unter Harry Dexter White umgesetzt, der Dollar zum Weltgeld gemacht und damit das Bretton-Woods-System gegründet.[11][12] Dieses scheiterte jedoch in den 1970er Jahren.

Seitdem sind gelegentlich wieder kompetitive Abwertungen aufgetreten bzw. auf internationalen Druck verhindert worden, die als Beggar-thy-Neighbour-Politik angesehen wurden.[13] Auch die deutschen Exportüberschüsse gegenüber der Eurozone werden von manchen als Beggar-thy-neighbour-Problem eingestuft.[14][15][16][17] Andere gehen davon aus, dass die Exportüberschüsse, die der internationalen Arbeitsteilung und der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur der Staaten entspringen, auch auf die Defizitländer eine positive Auswirkung haben und dass Maßnahmen zu ihrer Senkung das Gesamtvolumen des Handels und damit die Wirtschaftskraft in allen beteiligten Ländern senken würden (lose-lose-Situation).[18] So sichere der deutsche Exportüberschuss wegen der europäischen Handelsverflechtungen auch 3,5 Millionen Arbeitsplätze in anderen europäischen Ländern.[19]

Von Seiten anderer Experten wird kritisiert, die Debatte über Handelsungleichgewichte werde immer noch wie zu Zeiten des Merkantilismus auf rein nationaler Ebene geführt, obwohl die Weltwirtschaft mittlerweile enorm stark integriert sei. Wegen der globalen Wertschöpfungsketten profitierten auch die vermeintlichen Defizitländer sehr stark vom Exportüberschuss anderer Staaten, zudem könne man Güter und Dienstleistungen gar nicht mehr eindeutig einem einzelnen Staat zuordnen.[20] Außerdem ist fraglich, inwieweit Handelsungleichgewichte zwischen Staaten überhaupt durch staatliche Maßnahmen (insbesondere des Überschusslandes) beeinflusst werden können[21], da sie in der Regel einfach der Tatsache entspringen, dass die Güter der einen Volkswirtschaft stärker nachgefragt werden als die der anderen. So scheiterte US-Präsident Donald Trump mit dem Versuch, das Leistungsbilanzdefizit der USA gegenüber China zu reduzieren.[22] Die Bundesbank, die die deutsche Leistungsbilanz regelmäßig erfasst, geht davon aus, dass staatliche Maßnahmen der Regierung nur einen geringen Einfluss auf die Handelsbilanz nehmen.[23] Die meisten Ökonomen stufen Bilanzüberschüsse und -defizite nicht per se als gut oder schlecht ein, es gebe dabei nicht automatisch „Gewinner“ und „Verlierer“.[24] Manche Ökonomen gehen sogar davon aus, dass bilaterale Handelsungleichgewichte keine ökonomische Bedeutung haben.[25]

Kritik

Bereits Adam Smith ging in seinem „Wealth of Nations“ (1776) davon aus, dass die Beggar-thy-neighbor-Strategie der Merkantilisten zu internationalen Spannungen führt,[26] und kritisierte daher diese Praxis.

John Maynard Keynes sah diese Gefahr nach der Erfahrung der Abwertungswettläufe der 30er Jahre ebenfalls[27] und entwickelte mit dem Bancor Plan eine systematische Strategie, um solche den Frieden gefährdende Beggar-thy-neighbor-Spiralen zu vermeiden: eine internationale Clearing Union.[28] Zwar scheiterte Keynes 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods damit, diesen Plan auf globaler Ebene umzusetzen. Die Idee wurde aber auf europäischer Ebene zwischen 1950 und 1958 mit der europäischen Zahlungsunion erprobt.

Ebenfalls in den 30er Jahren formulierte Wilhelm Lautenbach die Nullsummenspiel-Struktur von Beggar-thy-neigbour-Strategien.[29]

Der Ökonom Heiner Flassbeck geht davon aus, dass auch das Konzept des „Wettbewerbs der Nationen“ auf beggar-thy-neighbour hinausläuft und zu gesamtwirtschaftlichen Wohlstandseinbußen durch eine Deflationsspirale und zur Verschlechterung der internationalen Beziehungen führe.[30]

Joseph Stiglitz weist darauf hin, dass eine protektionistische Beggar-thy-neighbour-Politik, also eine Politik, die eine Erhöhung der Leistungsbilanzüberschüsse durch Importverminderungen anstrebt, letztlich dazu führt, dass auch die Exporte zurückgehen. Wenn aber der Außenhandel insgesamt zurückgeht, dann wäre die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung nicht mehr gegeben, was zu Effizienzverlusten und damit zu Wohlfahrtsverlusten führen müsse.[31]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. englisch to beggar „ruinieren, in den Ruin treiben, herunterwirtschaften, an den Bettelstab bringen“, beggar „Bettler“.
  2. thy „dein“, zur alten, obsoleten englischen Du-Form thou. Schon Adam Smith schrieb 1776: „beggaring all their neighbours“. Die Formulierung mit thy ist offenbar eine polemische Anspielung auf das biblische Gebot Love thy neighbour (Deutsch: Liebe deinen Nächsten); ein Gebot, das diese wirtschaftspolitische Vorgehensweise demnach ins Gegenteil verkehre.
  3. amerikanisches Englisch neighbor, britisches Englisch: neighbour „der Nachbar“ – auch anspielend auf die Verwendung von neighbour im biblischen Sinne von „der Nächste“ in der King James Bible.
  4. Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Book IV, Chapter III (part II): „The sneaking arts of underling tradesmen are thus erected into political maxims for the conduct of a great empire … . By such maxims as these, however, nations have been taught that their interest consisted in beggaring all their neighbours. Each nation has been made to look with an invidious eye upon the prosperity of all the nations with which it trades, and to consider their gain as its own loss. Commerce, which ought naturally to be, among nations, as among individuals, a bond of union and friendship, has become the most fertile source of discord and animosity.“
  5. Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag, 5. Aufl., Mannheim, Bibliographisches Institut, 2013, Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013, Stichwort Exportmultiplikator.
  6. Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Beggar-my-Neighbour-Politik, Springer Gabler Verlag
  7. Cédric Tille, Beggar-thy-neighbor or beggar-thyself? The income effect of exchange rate fluctuations, Staff Report, Federal Reserve Bank of New York 112, 2000
  8. Paul Patrick Streeten, Thinking about Development, Cambridge University Press, 1997, ISBN 978-0-521-59973-3, S. 291
  9. Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Beggar-my-Neighbour-Politik, Springer Gabler Verlag
  10. Kenneth A. Reinert, Ramkishen S. Rajan, Amy Joycelyn Glass, Lewis S. Davis, The Princeton Encyclopedia of the World Economy., Princeton University Press, 2009, ISBN 978-0-691-12812-2, S. 127
  11. Massimo Amato, Luca Fantacci: Back to which Bretton Woods? Liquidity and clearing as alternative principles for reforming international finance. in: Maria Cristina Marcuzzo (Hrsg.): Speculation and Regulation in Commodity Markets: The Keynesian Approach in Theory and Practice. Rom 2010, S. 225–242 (Volltext online)
  12. Georg Zoche: WeltMacht Geld. München 2009 (online), S. 101–157
  13. Kenneth A. Reinert, Ramkishen S. Rajan, Amy Joycelyn Glass, Lewis S. Davis, The Princeton Encyclopedia of the World Economy., Princeton University Press, 2009, ISBN 978-0-691-12812-2, S. 127
  14. Ambrose Evans-Pritchard: Bullying Germany gets a free ride with its beggar-thy-neighbour policy. The Telegraph, 14. Dezember 2008
  15. US-Regierung rügt deutsche Exportpolitik, Kölner Stadtanzeiger vom 31. Oktober 2013
  16. „Export-Streit: IWF drängt Deutschland zur Bescheidenheit“, Spiegel Online vom 3. November 2013
  17. „EU rügt Deutschland wegen Exportüberschuss“, Die Welt vom 5. März 2014
  18. Die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für Europa. (PDF) Prognos, 2. April 2019;.
  19. Europa lebt von der deutschen Industrie. In: FAZ.NET. 18. April 2014;.
  20. „Deutschland ist überhaupt nicht unfair“. Deutschlandfunk, 12. Juni 2018;.
  21. Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz. (PDF) Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, 7. Februar 2019, S. 20;.
  22. Amerikanisches Handelsdefizit steigt auf höchsten Stand seit zehn Jahren. In: FAZ.NET. 6. Dezember 2018;.
  23. Die deutsche Zahlungsbilanz für das Jahr 2018. (PDF) In: Deutsche Bundesbank Monatsbericht März 2019. S. 19–21;.
  24. What Donald Trump Doesn’t Understand About the Trade Deficit. In: New York Times. 21. Juli 2016;.
  25. Barry Eichengreen: What Trump really doesn't get about trade „A particular bilateral trade deficit or surplus is totally devoid of economic meaning“, in: Foreign Policy, 24. Februar 2020
  26. Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Book IV, Chapter III (part II): „By such maxims as these, however, nations have been taught that their interest consisted in beggaring all their neighbours. Each nation has been made to look with an invidious eye upon the prosperity of all the nations with which it trades, and to consider their gain as its own loss. Commerce, which ought naturally to be, among nations, as among individuals, a bond of union and friendship, has become the most fertile source of discord and animosity.“
  27. John Maynard Keynes (1936): The General Theory of Employment, Interest and Money. Chapter 23: Notes on Mercantilism, The Usury Laws, Stamped Money and Theories of Under-Consumption.
  28. s. a. Nikolaus Kowall (2011): Neoklassischer Wettbewerbsstaat und keynesianischer Kooperationsstaat. (Memento desOriginals vom 13. Februar 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/blog.kowall.eu
  29. Wilhelm Lautenbach: Zins/Kredit und Produktion (hrsg. von W. Stützel), J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1952, S. 9: „Alle Länder wollen...mehr exportieren als importieren. Es ist wieder von vornherein klar, daß sie nicht zum Ziel kommen werden. Grundsätzlich theoretisch gibt es hier zwei Möglichkeiten. Entweder betreiben alle Staaten aktive Exportförderung und lassen die Importe frei: In einem Taumel internationaler Austauschlust wird das Gesamtexportvolumen steigen, ohne daß in summa irgend jemand mehr exportiert als importiert hätte. Oder aber – und das ist das Wahrscheinlichere und leider immer wieder historisch Gegebene: Man wird zur Gewinnung eines aktiven Leistungsbilanzsaldos die Importe zu beschränken suchen. Damit kann auch kein Land mehr seinen Export steigern. Im Gegenteil. Das allgemeine Streben nach einer Differenz zwischen Export und Import wird das Gesamtaustauschvolumen kumulativ zurückgehen lassen. Das Ergebnis ist Kampf um Absatzmärkte, internationaler Konkurrenzneid, Krieg zunächst aller gegen alle und schließlich vielleicht «Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus»!“
  30. Heiner Flaßbeck: Gesamtwirtschaftliche Paradoxa und moderne Wirtschaftspolitik. In: Eberhart Ketzel, Hartmut Schmidt, Stefan Prigge: Wolfgang Stützel – moderne Konzepte für Finanzmärkte, Beschäftigung und Wirtschaftsverfassung. Tübingen: Mohr Siebeck 2001, S. 409–426.
  31. Joseph E Stiglitz, Carl E Walsh, Mikroökonomie: Band 1 zur Volkswirtschaftslehre, Oldenbourg Verlag, 2010, ISBN 978-3-486-58477-6, S. 508.