Avantgardefilm

Unter Avantgardefilm, auch Experimentalfilm, versteht man Filme, die in ihren Motiven und Inszenierungen abseits der Konventionen des Mediums und der Sehgewohnheiten des Publikums auf avantgardistische Weise neue Ausdrucksmöglichkeiten erforschen.

Das Experiment, als Versuch mit offenem Ausgang verstanden, bedeutet im Film (wie auch in anderen Künsten) ein Abgehen von üblichen – hier in erster Linie kommerziellen – Erwartungen. Das betrifft sowohl Inhaltliches – wie etwa im Surrealismus – als auch die Filmtechnik mit ihren Möglichkeiten, etwa der Abstraktion, durch Schnitt, Kamerabewegung, Doppelbelichtung etc. Auch wenn die Techniken des Films spezifische sind, entwickelte sich der Experimentalfilm doch in enger Beziehung zur bildenden Kunst. Dies geschah vor allem deshalb, weil diese die treibende Kraft künstlerischer Entwicklungen war und durch ihren Marktwert mehr wahrgenommen wurde als der Experimentalfilm, der stets um eine Öffentlichkeit kämpfen musste. Das begann sich erst in den 1990er Jahren zu ändern, als der Film insgesamt spät, aber dennoch als gleichwertiges künstlerisches Medium wahrgenommen wurde und durch neue Techniken (Video, DVD) Einzug in die Museen und Galerien fand.

Die Position des Nicht-Kommerziellen erlaubte dem Experimentalfilm nicht nur, mit seinen filmischen Möglichkeiten zu experimentieren – was ja auch in künstlerisch anspruchsvollen Spiel- und Dokumentarfilmen geschah und ebenso genannt wurde –, sondern als Avantgarde- oder Undergroundfilm neue Bereiche gesellschaftlicher Wahrnehmung zu erschließen. Deutlich wird dies beispielsweise durch Tabubrüche in der filmischen Wiedergabe von Sexualität und Religion, was zu zahlreichen Skandalen führte, so etwa geschehen bei Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, Un chant d’amour von Jean Genet oder bei etlichen Werken des New American Cinema und des österreichischen Films der 1960er Jahre. 2013 entstand das postpornographische Filmexperiment „Häppchenweise“ als Debüt der Regisseurin und Kunsthistorikerin Maike Brochhaus.

Der Anspruch der Avantgarde schloss den Wunsch nach Verbreitung der Filme nicht aus – im Gegenteil: Ihr dienten nach dem Krieg das von der Belgischen Cinemathek in Brüssel und Knokke in Abständen von vier Jahren veranstaltete Experimentalfilmfestival, die von den Filmemachern in den 1960er Jahren veranstalteten Filmschauen in München und Hamburg und vor allem ihr Zusammenschluss zu Kooperativen nach dem Vorbild der Amerikaner in London, Wien und Hamburg und schließlich die Gründung von Filmverleihen in Paris (Light Cone), Wien (Sixpackfilm) und Osnabrück (Cine Pro), mehr oder weniger nach amerikanischem Vorbild (New York Film-makers’ Cooperative, Canyon Cinema).

Bekannte deutsche Regisseure des Avantgardfilms sind zum Beispiel Rosa von Praunheim, Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch.

Filme, Dokumentationen

Literatur

  • Peter Weiss: Avantgarde Film (= Edition Suhrkamp. 1444 = NF Bd. 444). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-11444-1.
  • Birgit Hein: Film im Underground. Von seinen Anfängen bis zum Unabhängigen Kino (= Ullstein. 2817). Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1971, ISBN 3-548-02817-9.
  • P. Adams Sitney: Visionary Film. The American Avant-Garde 1943–1978. 2nd Edition. Oxford University Press, Oxford u. a. 1979, ISBN 0-19-502486-9.
  • Ingo Petzke (Hrsg.): Das Experimentalfilm-Handbuch (= Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums.). Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-88799-033-1.
  • Hans Scheugl: Erweitertes Kino. Die Wiener Filme der 60er Jahre. Triton-Verlag, Wien 2002, ISBN 3-85486-110-9.
  • Hans Scheugl, Ernst Schmidt: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms (= Edition Suhrkamp. es. 471). 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-518-00471-9.
  • Birgit Hein, Wulf Herzogenrath (Hrsg.): Film als Film. 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre. Hatje, Stuttgart 1977, ISBN 3-7757-0125-7.
  • Jean Petrolle, Virginia Wright Wexman (Hrsg.): Women and Experimental Filmmaking. University of Illinois Press, Urbana IL u. a. 2005, ISBN 0-252-03006-0.
  • Hans-Jürgen Tast: 25jhr.emaf. Ein Vierteljahrhundert im medialen Umbruch (= Kulleraugen. Visuelle Kommunikation. Nr. 39). Kulleraugen, Schellerten 2012, ISBN 978-3-88842-039-9.
  • Lauren Rabinovitz: Points of resistance. Women, power & politics in the New York avant-garde cinema, 1943–71. 2nd edition. University of Illinois Press, Urbana IL u. a. 2003, ISBN 0-252-07124-7.