Atraḫasis-Epos

Epos-Bruchstücke der 1. Tafel
(British Museum)

Das Atraḫasis-Epos (auch Atraḫasis-Mythos, Atrachasis-Epos, Atramḫasis-Epos, Atramchasis-Epos) verfasste ein unbekannter Dichter wahrscheinlich um oder vor 1800 v. Chr. Der altbabylonische Schreiber Nur-Ajja überarbeitete das Werk im 12. Regierungsjahr des Ammi-saduqa. Daneben existieren noch weitere babylonische Fragmente. Weitere Abschriften und Überarbeitungen folgten im ersten Jahrtausend v. Chr.

Geschichte

Das Epos, das in der Hauptsache von einem Konflikt zweier Parteien der sumerischen Götter erzählt und hierfür auf mythologisch ältere Vorstellungen wie die Trennung von Himmel und Erde im kosmischen Urgewässer[1] zurückgreift, entstand ohne direktes sumerisches Vorbild. Diese Vorstellungen verarbeitete der unbekannte Dichter zu einem in dieser Form neuen Epos. Eine Genealogie bzgl. Abstammung und Machtwechsel unter den Göttern, wie sie in anderen mesopotamischen Mythen erscheint[2] und ähnlich aus der Theogonie Hesiods bekannt ist, bleibt unberücksichtigt – die Themen sind Arbeit, Auflehnung und die Erschaffung eines ersten Paares von Menschen, die den Göttern als Arbeitssklaven dienen. Teilhabend an diesem speziellen Schöpfungsakt sind die sieben göttlichen Mutterleiber Schassuratu unter der Führung Nintus, sowie der Gott Enki, der eine die zerstrittene Göttergemeinschaft reinigen oder befrieden sollende Bluttat beizusteuern hat (Zerstückelung; u. U. der Rebellen?).[3]

Die ca. 3,6 Jahrtausende später ansetzende Geschichte einer gewaltigen Flut, die das Epos allerdings nicht als Naturkatastrophe, sondern göttlichen Plan zur Wiederbeseitigung der inzwischen massenhaft vermehrten Menschheit darstellt, wurde um 1200 v. Chr. zunächst vom Autor des Gilgamesch-Epos übernommen. Dort finden sich Teile der im Atraḫasis-Epos behandelten Flutkatastrophe fast wortwörtlich wieder, ohne auf die umfangreichen Ereignisse ihres eigentlich politisch zu nennenden Anlasses einzugehen. Offensichtlich nahmen ebenfalls die Autoren des Alten Testaments Bezug auf den mythisch-epischen Bericht jener Katastrophe, so dass sie uns aus der Bibel – nun monotheistisch moralisiert, denn die polytheistische Göttervielfalt fehlt – unter dem Namen der vom Gott JHWH entfesselten Sintflut bekannt ist.[4] Über den Umweg des Gilgamesch-Epos erscheint Atraḫasis dort als Noah.[5]

Tafel 1

Als die Götter wie die Menschen arbeiten mussten (inuma ilu awilum = Als die Götter Menschen waren), gab es Streit zwischen den oberen Anunnaki und den Igigu, den niederen Göttern. Während letzteren die Aufgabe oblag, die Versorgung des Landes durch das Anlegen von Bewässerungskanälen zu sichern, wofür sie die Flüsse Euphrat und Tigris schufen, hatten die Anunnaki die Herrschaft inne und teilten die Welt unter sich auf. Aufgrund der Schwere ihrer Arbeit aber fühlten sich die Igigu überfordert und begannen, gegen die oberen Götter zu rebellieren.[6] Nachts umzingelten sie die Wohnstatt von Enlil, der als Hauptgott der Sumerischen Kultur galt. Enlil war überrascht und rief nach Anu und Enki. Nusku – Sohn und Botschafter Enlis – versuchte mit der aufständischen Partei zu verhandeln, blieb jedoch ohne Erfolg. Daraufhin bat Enlil die Muttergöttin Nintu um die Erschaffung von Menschen. Nintu erklärte, dem nur unter tätiger Mithilfe Enkis Folge leisten zu können. Enki, dies bejahend, gab der Versammlung aller Götter darauf hin den Rat, sich für alles weitere zunächst reinigen zu sollen. Sie stimmten zu und am fünfzehnten Tag des Reinigungsrituals zerstückelte er Geštue, um die Götter anzuweisen, im Blut des Getöteten zu baden. Unter Paukenschlägen begann er dann mit der Erschaffung das Wesen Widimmu. Dafür nahm er Lehm vom Boden der Steppe auf (Nintu galt vor allem als Urmutter Erde, insofern kommen hier die göttlichen Mutterleiber ins Spiel), den er mit etwas von dem Blute mischte. Abschließend gab er einen Hauch vom kosmischen Wasser hinzu und brachte das Geschöpf in seine dadurch lebendig werdende Form. Als es erwachte, trat die Muttergöttin heran, händigte ihm einen Tragekorb aus und befahl, dass es von nun an für die Götter zu arbeiten habe.

Hier gibt es eine Textlücke, in der beschrieben worden sein könnte, wie Widimmu an der Einsamkeit seines Arbeitsalltages in Eden (Sumerisch: Steppe) litt, so dass die Götter entschieden, ihm eine Frau zuzugesellen, der ein ähnlich konzipierter Schöpfungsakt zugedacht war. Letztere Annahme stünde jedoch konträr zur mosaischen Version der Vorgänge im Garten von Eden, der zufolge die Frau aus einem Körperteil des Mannes (Adams) hergestellt wurde, mit dem Argument „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist; darum lasst Uns eine Männin machen (Eva), die ihm hilft und die zu ihm passt.“ (Gen. 2.18)

Zuletzt gab die Muttergöttin dem jungen Paar den Befehl, ein siebentägiges Liebesfest zu Ehren der Kriegs- und Liebesgöttin Ištar zu feiern.* Beide gehorchten; nach neun Monaten wurde ein erstes Kind geboren, dessen Daseinsbestimmung der seiner Eltern gleichen würde. (* Parallele zum Gilgamesch-Epos: Auch dort kommt es auf Anordnung der mesopotamischen Götter zu einem 7-tägigen Liebesfest; Darsteller sind der wiederum aus dem Lehm der Steppe erschaffene Tiermensch Enki-du und die mit allen jenem Zweck dienlichen Vorzügen ausgestattete Tempeldienerin Shamkat.[7])

1200 Jahre später hatten sich die Menschen derart vermehrt, dass sie mit ihrem Lärm die Götter störten. Enlil war empört und beschloss, dass der Unterweltgott Namtar einen Teil der Menschen mit Frostfieber wieder hinwegraffen sollte. Doch Enki warnte seinen getreuen Priester Atraḫasis und riet ihm, nicht mehr die anderen Götter anzubeten, sondern nur noch Namtar. Namtar war davon so geschmeichelt, dass er aufhörte, die Menschen zu töten.

Tafel 2

Nach weiteren 1200 Jahren waren die Menschen nochmals um viele mehr geworden und streiften wie eine brüllende Stierherde umher. Weil Enlil nicht mehr schlafen konnte, schickte er den Wettergott Adad und wiederum 1200 Jahre später die Fruchtbarkeitsgöttin Nisaba, um das Land auszudörren und die Ernten vertrocknen zu lassen; Enki aber verriet seinem Priester Atraḫasis jedes Mal, was dagegen zu tun war: Man opferte nur noch Adad und Nisaba, die anderen Götter ließ man hungern. Adad und Nisaba waren von diesem unverdienten Vorzug so beschämt, dass sie ihr Unterfangen einstellten. Enlil erboste nun vollends gegen Enki und verfügte, dass eine gewaltige Strafe nunmehr die gesamte Menschheit dahinraffen sollte. Zusätzlich ließ er Enki vor den Anunnaki schwören, mit den Menschen kein Wort mehr zu reden; darnach begann er, sich mit den versammelten Göttern über das genaue Datum und die Dauer der zu entfesselnden Sintflut zu beraten.

Tafel 3

Gut informiert mit allen Details suchte Enki den Wohnsitz seines Priesters abermals auf, wartete diesmal jedoch, bis sich Atraḫasis in seiner Schilfhütte zum Schlafen hinzulegen begann. Sodann listig zur Schilfwand sprechend, um nicht vertragsbrüchig zu werden, erzählte 'ihr' Enki, was diesmal zu tun sei: »Trenne dich von deinem Haus, baue ein Schiff, verschmähe dein Hab und Gut, rette dein Leben.« Das Schiff sollte würfelförmig und auch von oben wasserdicht verschließbar sein. Atraḫasis solle von der kommenden Flut niemandem etwas verraten, einen großen Vorrat an Nahrungsmitteln mitnehmen (u. a. lebende Vögel und Fische, wie der Poet in humoriger Ironie hinzuzufügen verstand) und die Sanduhr ab Beginn der Katastrophe für sieben Tage im Auge behalten. Atraḫasis verließ also in Eile sein Hab und Gut unter einem Vorwand und begann mit dem Bau des Schiffes. Seine Nachbarn und Verwandten lud er zur Mithilfe ein und versprach, dass der Lohn demnächst reichhaltig vom Himmel regnen würde. Der Termin drängte, so richtete er ein großes Fest aus, um auch entfernter lebende Arbeitskräfte zu gewinnen. Er selbst vermochte während des ausgelassenen Gelages nichts zu essen, so übel war ihm vor Angst über die nahende Strafe der Götter.

Als Adad die Wolken versammelte und die Winde begannen, in allen Ecken der Welt zu brüllen, stiegen Atraḫasis und einige ausgewählte Menschen (wenigstens eine Frau sowie seine? Meistersöhne) in das Schiff und versiegelten die Einstiegsluke von Innen mit Erdpech. Wie ein Topf wirbelte nun die Arche auf den Wogen der aus den geöffneten Himmelsschleusen des kosmischen Urgewässers mächtig herabdonnernden Flut. Und wie außer sich war Enlil in seiner Wut ob seines vereitelten Vorhabens der Menschheitsvernichtung! - die anderen Götter aber litten Hunger, da es nun fast keine Menschen mehr gab, die sie opfernd hätten ernähren können. Sie weinten ob der gewaltigen Zerstörung.

Hier fehlen wieder einige Zeilen, die sich aber nach dem Gilgamesch-Epos ergänzen lassen: Nachdem die Arche hoch oben am Berg Nisir gestrandet ist, sendet Uta-napišti (der Name von Atraḫasis im Gilgamesch-Epos) - wahrscheinlich in Tagesabständen - drei Vögel aus, eine Taube, eine Schwalbe und einen Raben. Der am schlechtesten flugfähige Rabe kehrte nicht zurück, so wusste Utnapištim, dass das Land wieder begehbar war.

Atraḫasis stieg aus seiner Arche herab und begann mit großem Eifer, unterschiedslos allen Göttern ein Nahrungsopfer darzubringen. Wie freuten sich da die Götter, die so lange hatten hungern müssen! Wie vom Duft gelockte Fliegen schwärmten sie heran und begannen nach Herzenslust über dem Feuer des Altares zu schmausen. Enlil freilich, dem als weiser Herrscher das Wohl dieser großen Kultur oblag, blieb nach wie vor in schwerem Zorn gegen Enki, dem Schuldigen, dessen Verrat wegen es abermals einigen Menschen gelungen war, ihren diesmal geplant gewesenen Genozid zu überleben. Enki jedoch ersann einen Weg, der geeignet war, den uralten Streit der Götter untereinander endgültig beizulegen. Er ordnete an, die Menschen ab nun von Geburt an mit Leid und Tod bekannt zu machen, dass es unfruchtbare und unberührbare Frauen geben würde und ihre Lebenszeit von vornherein stark zu begrenzen sei (biblisch auf 120 Jahre)[8], so dass ihre Vermehrung künftig reguliert werde. Mit diesem Versprechen, dass den Göttern genügend eigenen Lebensraum auf Erden blieben würde, konnte sich Enlil begnügen und Frieden mit Enki schließen.[9]

Literatur

  • Rainer Albertz: Die Kulturarbeit im Atramḫasis im Vergleich zur biblischen Urgeschichte. In: Rainer Albertz, Ingo Kottsieper: Geschichte und Theologie: Studien zur Exegese des Alten Testaments und zur Religionsgeschichte Israels. De Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017633-5, S. 1–48.
  • Wolfram von Soden: Der altbabylonische Atramḫasis-Mythos. In: Otto Kaiser u. a.: TUAT, Band III – Weisheitstexte, Mythen, Epen: 3.1 Weisheitstexte . Gütersloher Verlaghaus Mohn, Gütersloh 1990, ISBN 3-579-00072-1, S. 612–645.
  • Wilfred George Lambert, Alan Ralph Millard, Miguel Civil: Atra-Ḫasis: The Babylonian Story of the Flood. Reprint 1970, Eisenbrauns, Winona Lake 1999, ISBN 1-57506-039-6.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Dietz-Otto Edzard u. a.: Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie (RIA). Band 1: A – Bepašte. de Gruyter, Berlin 1932 (Nachdruck 1997), S. 122.
  2. s. Fritz Graf: Griechische Mythologie
  3. Rainer Albertz: Geschichte und Theologie. In: Ingo Kottsieper (Hrsg.): Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft. Nr. 326. de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017633-5.
  4. https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/ori/assyriologie/forschung/gilga.html
  5. https://www.britannica.com/topic/Utnapishtim
  6. Dahlia Shehata: Atra Chasis. In: Bibelwissenschaft.de. Das wissenschaftliche Bibelportal der deutschen Bibelgesellschaft, 29. März 2019, abgerufen am 13. September 2020.
  7. Antonio Cho, Prof.Dr. Albert Schott: Gilgamesch-Epos. lyrik online, abgerufen am 27. Oktober 2022 (deutsch).
  8. 1.Mose 6,1-7 | Neue evangelistische Übersetzung :: ERF Bibleserver. Abgerufen am 23. November 2022: „In jenen Tagen, als der Mensch auf dem Antlitz des Ackers sich zu mehren begann, da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten. Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht immerdar im Menschen walten (…). Ich will ihm als Lebenszeit geben 120 Jahre. Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten.“
  9. Wolfram von Soden: Der altbabylonische Atramḫasis-Mythos. Gütersloh 1990, S. 612ff.

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